[326] 10. vipratishedhâc ca asamañjasam
auch ist sie wegen der Widersprechendheit ungereimt.

Auch leidet die Lehre der Sâ khya's daran, dass dieselben sich einander widersprechen; zuweilen zählen sie sieben Sinnesorgane[326] auf und zuweilen elf; zuweilen lassen sie die Schöpfung der Primärstoffe (tanmâtra) aus dem Grossen und zuweilen aus dem Aha kâra (Ich-Bewusstsein) hervorgehen; zuweilen reden sie von drei Innenorganen | und zuweilen von einem; und das ist ja bekannt, dass sie mit der Schrift, welche Gott als die Ursache lehrt, und mit der ihr nacheifernden Smṛiti in Widerspruch stehen. Auch darum also ist das System der Sâ khya's ein ungereimtes.

Hier könnte nun [der Anhänger des Sânkhyam] bemerken: ›ist denn nicht auch das auf die Upanishad's gegründete System ungereimt, indem dasselbe annimmt, dass der Gequälte [d.h. die Seele, wörtlich der Gebrannte] und der Quälende [d.h. der Saṃsâra, wörtlich der Brennende] nicht [wie der Purusha und die Urmaterie der Sâ khya's] von Grund aus verschiedenen Ursprungs sind? Denn wenn man annimmt, dass das eine Brahman die allbeseelende Ursache der ganzen Weltausbreitung ist, so müssen auch der Gequälte und der Quälende Bestimmungen des einen Âtman, können somit nicht verschiedenen Ursprungs sein. Sind aber beide, der Gequälte und der Quälende, Bestimmungen des einen Âtman, so kann dieser von beiden, dem Gequälten und dem Quälenden, nicht befreit werden, und die Lehre, welche die vollkommene Erkenntnis mitteilt, damit die Qual ein Ende nehme, kann ihren Zweck nicht erreichen. Denn die Flamme, welche als Eigenschaften das Wärmen und das Leuchten hat, kann, weil sie eben aus ihnen besteht, von diesen beiden nicht befreit werden. Und auch wenn man an das Beispiel vom Wasser und seinen Wellen, Wogen und Schaumblasen erinnert, so sind auch hier an dem einen Selbste des Wassers die Wellen u.s.w. Bestimmungen, welche, sofern sie abwechselnd hervortreten und zurücktreten, ewig sind, so dass auch hier eine Befreiung des Selbstes des Wassers von den Wellen u.s.w. nicht möglich ist. Hierzu kommt, dass für den Gequälten und den Quälenden eine Verschiedenheit des Ursprunges allgemein angenommen wird. So sind z.B. der Bezwecker und der Zweck voneinander | offenbar verschieden. Denn hätte der Bezwecker keinen von ihm selbst verschiedenen Zweck, so würde dasjenige, um dessen willen die Bezweckung des Bezweckers stattfindet, als ein von ihm schon innegehabter Zweck, schon immer erreicht sein, und somit würde eine auf denselben gerichtete Bezweckung gar nicht statthaben; so wie z.B. für die Flamme, weil sie ihrem Wesen nach Licht ist, der Licht genannte Zweck schon immer erreicht ist, mithin eine auf denselben gerichtete Bezweckung nicht stattfindet. Denn nur so lange der Zweck nicht erreicht ist, besteht die Bezweckung des Bezweckers. Ebenso wenig würde ferner auch das Zwecksein des Zweckes statthaben; denn wenn es statt hätte, so müsste der Zweck sich selbst zum Zwecke haben, und das ist nicht möglich. Es sind[327] nämlich diese Worte arthin (der Bezwecker) und artha (der Zweck, das Glück) Verhältniswörter, ein Verhältnis aber ist nur bei zwei sich Verhaltenden möglich, nicht bei einem allein; darum bilden die Worte artha und arthin eine Zweiheit, und ebenso steht es mit den Worten anartha und anarthin (der Unglückliche); was dem Bezwecker förderlich ist, heisst der Zweck, was ihm hinderlich ist, der Unzweck (das Unglück), und mit diesen beiden wird er als derselbe abwechselnd verbunden. Da nun der erreichte Zweck das Seltenere, und der verfehlte Zweck (das Unglück) das Häufigere ist, so ist die Summe beider Zwecke Unzweck (Unglück) und wird darum der Quälende genannt; der Gequälte hinwiderum ist der Purusha, welcher als einer abwechselnd mit beiden verbunden wird. Sollen nun diese beiden, der Gequälte und der Quälende, ihrem Wesen nach eines sein [wie die Brahman lehre behauptet], so wird die Erlösung unmöglich; sind sie hingegen verschiedenen Ursprungs, | so lässt sich eine mögliche Erlösung dadurch, dass man die Ursache ihrer Verbindung meidet, denken.‹ – [Vedântin:] Hierauf erwidern wir, dass dem nicht so ist, und zwar wegen der Einheit, indem durch diese das Verhältnis des Gequälten und des Quälenden unmöglich wird. Der Vorwurf wäre berechtigt, wenn in dem Einssein als Âtman der Gequälte und der Quälende noch als Objekt und Subjekt einander gegenüberstünden; dem ist aber nicht so, und zwar, wie gesagt, wegen der Einheit. Denn das Feuer z.B. kann sich, weil es eines ist, nicht selbst brennen oder erleuchten, obgleich demselben im übrigen eine Mehrheit der Qualitäten des Brennens, Leuchtens u.s.w. und die Umwandlungsfähigkeit zukommen. Um wie viel weniger kann also in dem [über alle Vielheit der Qualitäten] erhabenen und [unwandelbar] einheitlichen Brahman das Verhältnis von Gequältem und Quälendem zutreffen? – [Sâ khya:] ›Aber wo soll denn sonst das Verhältnis zwischen Gequältem und Quäler stattfinden?‹ – [Vedântin:] Nun, das liegt dir ja doch vor Augen, dass der Gequälte der aus den Werken entstandene, lebendige Leib, und dass der Quälende (Brennende) [zum Beispiel] die Sonne ist. – [Sâ khya:] ›Aber das Wort Qual bedeutet doch ein Leiden; und ein solches kann nur einem der Erkenntnis Fähigen, nicht aber dem ungeistigen Leibe zukommen. Beträfe die Qual nur den Leib, so würde sie beim Untergange des Leibes von selbst vergehen, und man brauchte nicht nach einem Mittel zu suchen, um sie zu vernichten.‹ | – [Vedântin:] Darauf ist zu erwidern, dass ohne den Leib, für ein blosses Geistiges, eine Qual nicht existiert, und auch du selbst nimmst die Veränderung des Zustandes, welche man Qual nennt, bei dem blossen Erkenner [dem Purusha] nicht an, und ebenso wenig eine Verbindung des Leibes mit dem Geistigen [dem Purusha], weil letzteres sonst von den Mängeln der Unreinheit u.s.w. betroffen werden würde. Endlich[328] kannst du doch auch nicht annehmen, dass es die Qual selbst sei, welche gequält werde; daher auch du das Verhältnis des Gequälten und des Quälenden unmöglich [als ein in metaphysischem Sinne reales] annehmen kannst. – [Sâ khya:] ›Aber könnte nicht vielleicht das Sattvam das Gequälte, und das Rajas der Quälende sein?‹ – [Vedântin:] Auch das geht nicht, weil eine Verbindung des Geistigen mit diesen beiden unmöglich ist. – [Sâ khya:] ›Aber man könnte doch sagen, dass, vermöge seiner Analogie mit dem Sattvam, auch das Geistige gleichsam gequält werde.‹ – [Vedântin:] Nun, dann folgt, dass dasselbe im absolut realen Sinne eben nicht gequält wird, wie aus dem von dir hinzugefügten Worte »gleichsam« ersichtlich ist; denn nur wenn jenes nicht gequält wird, ist das Wort »gleichsam« berechtigt. Denn wenn ich sage, die Blindschleiche ist gleichsam eine Schlange, so folgt daraus nicht, dass sie auch giftig ist; oder wenn ich sage, die Schlange ist gleichsam eine Blindschleiche, so folgt daraus nicht, dass sie auch ungiftig ist; und somit musst du einräumen, dass jenes Verhältnis des Gequälten und des Quälenden nur auf dem Nichtwissen beruht und nicht in absolutem Sinne real ist. Ist dem aber so, | dann fällt der ganze Einwand gegen mich weg. Nimmst du hingegen an, dass das Gequältwerden des Geistigen in absolutem Sinne real ist, so trifft vielmehr dich der Einwand, dass eine Erlösung unmöglich ist, zumal du auch noch die Ewigkeit des Quälenden annimmst. – [Sâ khya:] ›Wenn auch die Möglichkeit eines Gequälten und Quälenden eine ewige ist, so erfordert doch die wirkliche Qual noch eine durch Ursachen bedingte Verbindung beider miteinander; wird nun das Nichtsehen [des Purusha], in welchem die Ursache dieser Verbindung liegt, zu nichte, so tritt ein definitives Aufhören der Verbindung und dadurch eine definitive Erlösung ein.‹ – [Vedântin:] Aber das geht nicht, weil du ja doch eine Ewigkeit des Nichtsehens, d.h. des Tamas (Finsternis) annimmst. Und da das Hervortreten und das Übermächtigwerden der Guṇa's kein mit Sicherheit bewirkbares ist, so ist auch das Aufhören der die Verbindung bewirkenden Ursache nicht mit Sicherheit bewirkbar; damit aber ist auch die Trennung keine sicher bewirkbare, und sonach ist für die Sâ khyalehre die Folgerung unvermeidlich, dass eine Erlösung nicht mit Sicherheit erreichbar ist. Die Upanishadlehre hingegen hält an der Einheit mit dem Âtman fest; da nun das, was eines ist, das Verhältnis von Objekt und Subjekt nicht zulässt, da ferner die Vielheit der Umwandlungen nur an Worte sich klammert, wie die Schrift lehrt (Chând. 6, 1, 4), so kann uns ein Zweifel an der Möglichkeit der Erreichbarkeit der Erlösung [weil dieselbe in Wahrheit stets schon erreicht ist] auch nicht im Traume einfallen. Was hingegen das empirische Welttreiben betrifft, so ist in demselben | das Verhältnis von Gequältem und Quälendem überall da und in der Weise[329] anzunehmen, wo und wie es sich zeigt; dies aber lässt sich nicht gegen uns ins Feld führen, noch haben wir nötig, es zu bestreiten.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 326-330.
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