Der Gedanke

[120] Der Gedanke ist eine Bewegung des Stoffs.

Moleschott


Anlaß zu diesem Kapitel gibt uns die bekannte und vielgeschmähte Äußerung Vogts: »Die Gedanken stehen in demselben Verhältnis zu dem Gehirn, wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren« – eine Äußerung, welche übrigens von Vogt selbst mit den Worten eingeleitet wird: »um mich einigermaßen grob hier auszudrücken.« Ohne uns dem allgemeinen Verdammungsgeschrei, welches diese Äußerung in der wissenschaftlichen, publizistischen und theologischen Welt gegen ihren Urheber zuwege gebracht hat, auch nur entfernt anschließen zu wollen, können wir doch nicht umhin, diesen Vergleich sehr schlecht gewählt zu finden. Auch bei genauester Betrachtung sind wir nicht imstande, ein Analogon zwischen der Gallen- oder Urinsekretion und dem Vorgang, durch welchen der Gedanke im Gehirn erzeugt wird, aufzufinden. Urin und Galle sind greif-, wäg- und sichtbare Stoffe, obendrein Auswurfsstoffe, welche der Körper verbraucht hat und aus sich abscheidet, – der Gedanke, der Geist, die Seele dagegen ist nichts Materielles, nicht selbst Stoff, sondern der zu einer Einheit bewachsene Komplex verschiedenartiger Kräfte, der Effekt eines Zusammenwirkens vieler mit Kräften oder Eigenschaften begabter Stoffe. Wenn eine von Menschenhand gefertigte Maschine einen Effekt erzielt, sich selbst oder andere Körper in Bewegung versetzt, einen Schlag ausübt, die Stunde zeigt oder dergleichen, so ist dieser Effekt an sich betrachtet[120] doch in der Tat etwas sehr wesentlich Verschiedenes von gewissen materiellen Auswurfsstoffen, welche sie vielleicht dabei produziert. Die Dampfmaschine hat Leben und übt als Resultante einer eigentümlichen Kombination mit Kräften begabter Stoffe eine Gesamtkraft aus, welche wir zu unsern Zwecken benützen oder verwenden, ohne sie jedoch als Kraft sehen, riechen, greifen zu können. Der Dampf, den die Maschine dabei ausstößt, ist Nebensache, hat mit dem, was die Maschine bezweckt, nichts zu tun und kann als Materie gesehen, gefühlt usw. werden. Wollten wir sagen, das Wesen der Dampfmaschine bestehe darin, daß sie Dampf produziere, so würde man uns verlachen. In ähnlicher Weise nun wie die Dampfmaschine Bewegung hervorbringt, erzeugt die verwickelte organische Komplikation kraftbegabter Stoffe im Tierleib eine Gesamtsumme von Effekten, welche zu einer Einheit verbunden von uns Geist, Seele, Gedanke genannt wird. Diese Kräftesumme ist nichts Materielles, kann nicht durch die Sinne unmittelbar wahrgenommen werden, ebensowenig wie jede andere einfache Kraft, Magnetismus, Elektrizität usw., sondern nur aus ihren Äußerungen ideal konstruiert werden. Wir haben Kraft als eine Eigenschaft des Stoffes definiert und gesehen, daß beide unzertrennlich sind; dennoch sind beide begrifflich sehr weit auseinanderliegend, ja, in einem gewissen Sinne geradezu einander negierend. Wenigstens wüßten wir nicht, wie man Geist, Kraft als etwas anderes, denn als Immaterielles, an sich die Materie Ausschließendes oder ihr Entgegengesetztes definieren wollte. Dem gegenüber sind Galle, Urin nicht eine Gesamtsumme ideeller Krafteffekte, sondern selbst materielle Körper, welche aus kraftbegabten Stoffen zusammengesetzt und aus solchen hervorgegangen[121] sind. Die Leber, die Nieren müssen Stoffe abgeben, um jene Sekrete zu erzeugen; das Gehirn gibt, um den Gedanken zu sezernieren, keinen Stoff ab, sondern behält alle seine Stoffe, wenn auch in steter, regster Wechselwirkung und Änderung, für sich. Auch das Gehirn erzeugt einen materiellen Stoff; es sezerniert die äußerst geringe Menge flüssiger Substanz, welche sich auf den Wandungen seiner inneren Höhlen vorfindet, eine Menge, welche in krankhaften Zuständen bekanntlich sehr bedeutend werden kann. Aber diese Sekretion hat mit den psychischen Tätigkeiten direkt nicht das Mindeste zu schaffen, und niemandem wird es heute einfallen, darin die Ursache oder auch nur ein Analogon des Gedankens zu erblicken. Im Gegenteil erweist sich dieses Sekret, in abnormer Menge erzeugt, der psychischen Tätigkeit gradezu feindlich. So ist das Gehirn wohl Träger und Erzeuger des Geistes, des Gedankens, aber doch nicht Sekretionsorgan desselben. Die Sekretion der Leber, der Nieren geht unbewußt, ungekannt, unbeaufsichtigt von der höheren Nerventätigkeit vor sich; sie erzeugt einen greifbaren Stoff; die Tätigkeit des Gehirns ist ohne Bewußtsein, ohne volles Bewußtsein unmöglich, sie sezerniert nicht Stoffe, sondern Kräfte. Alle vegetativen Funktionen, der Atem, der Herzschlag, das Verdauen, die Sekretion der absondernden Organe, gehen im Schlafe ebensowohl vor sich als im Wachen; die Äußerungen der Seele dagegen erlöschen augenblicklich, sie stirbt mit dem Momente, wo das Gehirn unter dem Einfluß einer langsameren Blutbewegung in den Zustand des Schlafes versinkt. – Nach den neuesten Untersuchungen spielt eine Kraft, deren Äußerungen man bisher nur in der anorganischen Welt eklatant wahrnahm, die Elektrizität, auch bei den[122] physiologischen Vorgängen des Nervensystems eine sehr wesentliche Rolle. Den ruhenden Nerven umkreisen fortwährend elektrische Ströme. Diese Ströme hören sogleich auf oder werden schwächer, sobald der Nerv auf irgendeine Art gereizt oder in Tätigkeit versetzt wird. Die Nerven sind demnach nicht Leiter, sondern Erzeuger der Elektrizität. Dieses Erzeugen hört auf mit dem Tätigsein der Nerven, d.h. sobald Empfindung oder Wollen eintritt. Psychische Tätigkeit hat man danach versucht, als latente Elektrizität zu definieren!? Und den Schlaf als entbundene elektrische Funktion der Nerven! Vielleicht führt uns das einmal aufgesteckte Licht der experimentellen Forschung zu vorher nicht geahnter näherer Kenntnis des eigentlichen Wesens psychischer Funktionen.

Einen anderen Charakter erhält unsere Untersuchung, sobald wir darnach fragen, welche tiefere und wahre Idee dem Vogtschen Ausspruch zugrunde liegt. Diese Idee erblicken wir in dem, wofür wir im vorhergehenden Kapitel zahlreiche Beispiele beigebracht zu haben glauben – in dem Gesetz, daß Geist und Gehirn sich wechselseitig aufs notwendigste bedingen, daß sie in einem untrennbaren kausalen Verhältnis zueinander stehen. Wie es keine Galle ohne Leber, wie es keinen Urin ohne Nieren gibt, so gibt es auch keinen Gedanken ohne Gehirn; die Seelentätigkeit ist eine Funktion der Gehirnsubstanz. Diese Wahrheit ist einfach, klar, leicht mit Tatsachen zu belegen und riecht nicht »urinös«, wie fade Witzlinge behaupten. Die sogenannten Azephalen oder Kopflosen sind Kinder, welche mit einer sogenannten rudimentären (nur teilweisen) Gehirnbildung zur Welt kommen. Diese erbärmlichen Geschöpfe, welche für das angeblich zweckmäßige Handeln der Natur ein sehr ungünstiges Zeugnis[123] ablegen, sind jeder geistigen Tätigkeit und Entwicklung vollkommen unfähig und sterben bald; denn es fehlt ihnen das wesentlichste Organ menschlichen Seins und Denkens. »Gewisser ist daher nichts«, sagt selbst Lotze, »als daß die physischen Zustände körperlicher Elemente ein Reich von Bedingungen darstellen können, an welchen Dasein und Form unserer geistigen Zustände mit Notwendigkeit hängt.«

Mit dem Stoff schwindet der Gedanke!

»Warum«, ruft Hamlet in der berühmten Kirchhofszene, »könnte das nicht der Schädel eines Rechtsgelehrten sein? Wo sind nun seine Klauseln, seine Praktiken, seine Fälle, seine Kniffe? Warum leidet er nun, daß dieser grobe Flegel ihn mit einer schmutzigen Schaufel um den Hirnkasten schlägt, und droht nicht, ihn wegen Tätlichkeiten zu belangen?« – »Wo sind nun deine Schwänke, armer Yorick? deine Sprünge, deine Lieder, deine Blitze von Lustigkeit, wobei die ganze Tafel in Lachen ausbrach? Alles weggeschrumpft?«[124]

Quelle:
Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Leipzig [o.J.], S. 120-125.
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Kraft und Stoff: Empirisch-naturphilosophische Studien
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