Fünftes Capitel
Gesetze der Abänderung

[153] Wirkungen veränderter Bedingungen. – Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe in Verbindung mit natürlicher Zuchtwahl; – Flieg- und Sehorgane. – Acclimatisierung. – Correlative Abänderung. – Compensation und Öconomie des Wachsthums. – Falsche Wechselbeziehungen. – Vielfache, rudimentäre und niedrig organisierte Bildungen sind veränderlich. – In ungewöhnlicher Weise entwickelte Theile sind sehr veränderlich; – specifische mehr als Gattungscharactere. – Secundäre Geschlechtscharactere veränderlich. – Zu einer Gattung gehörige Arten variieren auf analoge Weise. – Rückschlag zu längst verlorenen Characteren. – Zusammenfassung.


Ich habe bisher von den Abänderungen, – die so gemein und mannichfaltig bei Organismen im Culturzustande und in etwas minderm Grade häufig bei solchen im Naturzustande sind, – zuweilen so gesprochen, als ob dieselben vom Zufall abhängig wären. Dies[153] ist natürlich eine ganz incorrecte Ausdrucksweise; sie dient aber dazu, unsere gänzliche Unwissenheit über die Ursache jeder besondern Abweichung zu beurkunden. Einige Schriftsteller sehen es ebensosehr für die Function des Reproductivsystems an, individuelle Verschiedenheiten oder ganz leichte Abweichungen des Baues hervorzubringen, wie das Kind den Eltern gleich zu machen. Aber die Thatsache des viel häufigeren Vorkommens sowohl von Abänderungen als von Monstrositäten bei den der Domestication unterworfenen als bei den im Naturzustande lebenden Organismen und die grössere Veränderlichkeit der Arten mit weiten Verbreitungsgebieten als der mit beschränkter Verbreitung leiten mich zu der Folgerung, dass Variabilität in directer Beziehung zu den Lebensbedingungen steht, welchen jede Art mehrere Generationen lang ausgesetzt gewesen ist. Ich habe im ersten Capitel zu zeigen versucht, dass veränderte Bedingungen auf zweierlei Weise wirken: direct auf die ganze Organisation oder nur auf gewisse Theile, und indirect auf das Reproductivsystem. In allen diesen Fällen sind zwei Factoren thätig: die Natur des Organismus, welches der weitaus wichtigste von beiden ist, und die Natur der Bedingungen. Die directe Wirkung veränderter Bedingungen führt zu bestimmten oder unbestimmten Resultaten. Im letzten Falle scheint die Organisation plastisch geworden zu sein, und wir finden eine grosse fluctuierende Variabilität. Im erstern Falle ist die Natur des Organismus derartig, dass sie leicht nachgibt, wenn sie gewissen Bedingungen unterworfen wird, und alle oder nahezu alle Individuen werden in derselben Weise modifiziert.

Inwieweit Verschiedenheiten der äusseren Bedingungen, wie Clima, Nahrung u.s.w., in einer bestimmten Weise eingewirkt haben, ist sehr schwer zu entscheiden. Wir haben Grund zu glauben, dass im Laufe der Zeit die Wirkungen grösser gewesen sind, als es durch irgend welche klare Belege als wirklich geschehen nachgewiesen werden kann. Wir können aber getrost schliessen, dass die zahllosen zusammengesetzten Anpassungen des Baues, welche wir durch die ganze Natur zwischen verschiedenen organischen Wesen bestehen sehen, nicht einfach einer solchen Wirkung zugeschrieben werden können. In den folgenden Fällen scheinen die Lebensbedingungen eine geringe bestimmte Wirkung hervorgebracht zu haben. EDWARD FORBES behauptet, dass Conchylien an der südlichen Grenze ihres Verbreitungsbezirks und wenn sie in seichtem Wasser leben, glänzendere Farben annehmen, als[154] dieselben Arten in ihrem nördlicheren Verbreitungsbezirk oder in grösseren Tiefen darbieten. Doch ist dies gewiss nicht für alle Fälle richtig. GOULD glaubt, dass Vögel derselben Art in einer stets heitern Atmosphäre glänzender gefärbt sind, als wenn sie auf einer Insel oder in der Nähe der Küste leben. So ist auch WOLLASTON überzeugt, dass der Aufenthalt in der Nähe des Meeres Einfluss auf die Farben der Insecten habe. MOQUIN-TANDON gibt eine Liste von Pflanzen, welche an der Seeküste mehr oder weniger fleischige Blätter bekommen, auch wenn sie an anderen Standorten nicht fleischig sind. Diese unbedeutend abändernden Organismen sind insofern interessant, als sie Charactere darbieten, welche denen analog sind, welche auf ähnliche Lebensbedingungen beschränkte Arten besitzen.

Wenn eine Abänderung für ein Wesen von dem geringsten Nutzen ist, so vermögen wir nicht zu sagen, wieviel davon von der häufenden Thätigkeit der natürlichen Zuchtwahl und wieviel von dem bestimmten Einfluss äusserer Lebensbedingungen herzuleiten ist. So ist es den Pelzhändlern wohl bekannt, dass Thiere einer Art um so dichtere und bessere Pelze besitzen, je weiter nach Norden sie gelebt haben. Aber wer vermöchte zu sagen, wieviel von diesem Unterschied davon herrührt, dass die am wärmsten gekleideten Individuen viele Generationen hindurch begünstigt und erhalten worden sind, und wieviel von dem directen Einflusse des strengen Climas? Denn es scheint wohl, als ob das Clima einige unmittelbare Wirkung auf die Beschaffenheit des Haares unserer Hausthiere ausübe.

Es lassen sich Beispiele dafür anführen, dass ähnliche Varietäten bei einer und derselben Species unter den denkbar verschiedensten Lebensbedingungen entstanden sind, während andererseits verschiedene Varietäten unter offenbar denselben äusseren Bedingungen zum Vorschein gekommen sind. So sind ferner jedem Naturforscher auch zahllose Beispiele von sich echt erhaltenden Arten ohne alle Varietäten bekannt, obwohl dieselben in den entgegengesetztesten Climaten leben. Derartige Betrachtungen veranlassen mich, weniger Gewicht auf den directen und bestimmten Einfluss der Lebensbedingungen zu legen, als auf eine Neigung zum Abändern, welche von Ursachen abhängt, über die wir vollständig unwissend sind.

In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass die Lebensbedingungen nicht allein Veränderlichkeit entweder direct oder indirect[155] verursachen, sondern auch natürliche Zuchtwahl einschliessen; denn es hängt von der Natur der Lebensbedingungen ab, ob diese oder jene Varietät erhalten werden soll. Wenn aber der Mensch das zur Zucht auswählende Agens ist, dann sehen wir klar, dass diese zwei Elemente der Veränderung von einander verschieden sind; Veränderlichkeit wird auf irgend eine gewisse Weise angeregt; es ist aber der Wille des Menschen, welcher die Abänderungen in diesen oder jenen bestimmten Richtungen anhäuft, und es ist diese letzte Wirkung, welche dem überlebendes Passendsten im Naturzustande entspricht.


Wirkungen des vermehrten Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Theile unter der Leitung der natürlichen Zuchtwahl

Die im ersten Capitel angeführten Thatsachen lassen wenig Zweifel daran übrig, dass bei unseren Hausthieren der Gebrauch gewisse Theile gestärkt und vergrössert und der Nichtgebrauch sie verkleinert hat, und dass solche Abänderungen erblich sind. In der freien Natur hat man keinen Massstab zur Vergleichung der Wirkungen lang fortgesetzten Gebrauches oder Nichtgebrauches, weil wir die elterlichen Formen nicht kennen; doch tragen manche Thiere Bildungen an sich, die sich am besten als Folge des Nichtgebrauches erklären lassen. Wie Professor R. OWEN bemerkt hat, gibt es keine grössere Anomalie in der Natur, als dass ein Vogel nicht fliegen könne, und doch sind mehrere Vögel in dieser Lage. Die südamericanische Dickkopfente kann nur über der Oberfläche des Wassers hinflattern und hat Flügel von fast der nämlichen Beschaffenheit wie die Aylesburyer Hausenten-Rasse; es ist eine merkwürdige Thatsache, dass nach der Angabe von Mr. CUNNINGHAM die jungen Vögel fliegen können, während die erwachsenen dies Vermögen verloren haben. Da die grossen am Boden weidenden Vögel selten zu anderen Zwecken fliegen, als um einer Gefahr zu entgehen, so ist es wahrscheinlich, dass die fast ungeflügelte Beschaffenheit verschiedener Vogelarten, welche einige oceanische Inseln jetzt bewohnen oder früher bewohnt haben, wo sie keine Verfolgungen von Raubthieren zu gewärtigen hatten, vom Nichtgebrauche ihrer Flügel herrührt. Der Strauss bewohnt zwar Continente und ist von Gefahren bedroht, denen er nicht durch Flug entgehen kann; aber er kann sich selbst durch Stossen mit den Füssen gegen seine Feinde so gut vertheidigen wie einige der kleineren Vierfüsser. Man kann sich vorstellen, dass der Urerzeuger[156] der Gattung der Strausse eine Lebensweise etwa wie die Trappe gehabt habe, und dass er in dem Masse, wie er in einer langen Generationsreihe immer grösser und schwerer geworden ist, seine Beine immer mehr und seine Flügel immer weniger gebraucht habe, bis er endlich ganz unfähig geworden sei, zu fliegen.

KIRBY hat bemerkt (und ich habe dieselbe Thatsache beobachtet), dass die Vordertarsen vieler männlicher Kothkäfer oft abgebrochen sind; er untersuchte siebenzehn Exemplare seiner Sammlung und fand in keinem auch nur eine Spur mehr davon. Onitis Apelles hat seine Tarsen so gewöhnlich verloren, dass man dies Insect so beschrieben hat, als fehlten sie ihm gänzlich. In einigen anderen Gattungen sind sie wohl vorhanden, aber nur in verkümmertem Zustande. Dem Ateuchus oder heiligen Käfer der Ägypter fehlen sie gänzlich. Die Beweise für die Erblichkeit zufälliger Verstümmelungen sind für jetzt nicht entscheidend; aber der von BROWN-SÉQUARD beobachtete merkwürdige Fall von der Vererbung der an einem Meerschweinchen durch Beschädigung des Rückenmarks verursachten Epilepsie auf dessen Nachkommen sollte uns vorsichtig machen, wenn wir die Neigung dazu leugnen wollten. Daher scheint es vielleicht am gerathensten, den gänzlichen Mangel der Vordertarsen des Ateuchus und ihren verkümmerten Zustand in einigen anderen Gattungen nicht als Fälle vererbter Verstümmelungen, sondern lieber als von der lange fortgesetzten Wirkung ihres Nichtgebrauches bei deren Stammvätern abhängend anzusehen; denn da die Tarsen vieler Kothkäfer fast immer verloren gehen, so muss dies schon früh im Leben geschehen; sie können daher bei diesen Insecten weder von wesentlichem Nutzen sein, noch viel gebraucht werden.

In einigen Fällen können wir leicht dem Nichtgebrauche gewisse Abänderungen der Organisation zuschreiben, welche jedoch gänzlich oder hauptsächlich von natürlicher Zuchtwahl herrühren. WOLLASTON hat die merkwürdige Thatsache entdeckt, dass von den 550 Käferarten, welche Madeira bewohnen (man kennt aber jetzt mehr), 200 so unvollkommene Flügel haben, dass sie nicht fliegen können, und dass von den 29 endemischen Gattungen nicht weniger als 23 lauter solche Arten enthalten. Mehrere Thatsachen, – dass nämlich fliegende Käfer in vielen Theilen der Welt häufig in's Meer geweht werden und zu Grunde gehen, dass die Käfer auf Madeira, nach WOLLASTON'S Beobachtung meistens verborgen liegen, bis der Wind ruht und die Sonne scheint, dass die Zahl der flügellosen[157] Käfer an den ausgesetzten kahlen Desertas verhältnismässig grösser als in Madeira selbst ist, und zumal die ausserordentliche Thatsache, worauf WOLLASTON so nachdrücklich aufmerksam macht, dass gewisse grosse, anderwärts äussert zahlreiche Käfergruppen, welche in Folge ihrer Lebensweise viel zu fliegen absolut genöthigt sind, auf Madeira beinahe gänzlich fehlen, – diese mancherlei Gründe lassen mich glauben, dass die ungeflügelte Beschaffenheit so vieler Käfer dieser Insel hauptsächlich von natürlicher Zuchtwahl, doch wahrscheinlich in Verbindung mit Nichtgebrauch herrühre. Denn während vieler aufeinanderfolgender Generationen wird jeder individuelle Käfer, der am wenigsten flog, entweder weil seine Flügel wenn auch um ein noch so geringes weniger entwickelt waren, oder weil er der indolenteste war, die meiste Aussicht gehabt haben, alle anderen zu überleben, weil er nicht in's Meer geweht wurde; und auf der andern Seite werden diejenigen Käfer, welche am liebsten flogen, am öftesten in die See getrieben und vernichtet worden sein.

Diejenigen Insecten auf Madeira dagegen, welche sich nicht am Boden aufhalten und, wie die an Blumen lebenden Käfer und Schmetterlinge, ihrer Lebensweise wegen von ihren Flügeln Gebrauch machen müssen, um ihren Unterhalt zu gewinnen, haben nach WOLLASTON'S Vermuthung keineswegs verkümmerte, sondern vielmehr stärker entwickelte Flügel. Dies ist mit der Thätigkeit der natürlichen Zuchtwahl völlig verträglich. Denn wenn ein neues Insect zuerst auf die Insel kommt, wird das Streben der natürlichen Zuchtwahl, die Flügel zu verkleinern oder zu vergrössern davon abhängen, ob eine grössere Anzahl von Individuen durch erfolgreiches Ankämpfen gegen die Winde, oder durch mehr oder weniger häufigen Verzicht auf diesen Versuch sich rettet. Es ist derselbe Fall, wie bei den Matrosen eines in der Nähe der Küste gestrandeten Schiffes; für diejenigen, welche gut schwimmen können, wäre es besser gewesen, wenn sie noch weiter hätten schwimmen können, während es für die schlechten Schwimmer besser gewesen wäre, wenn sie gar nicht hätten schwimmen können und sich an das Wrack gehalten hätten.

Die Augen der Maulwürfe und einiger wühlenden Nager sind an Grösse verkümmert und in manchen Fällen ganz von Haut und Pelz bedeckt. Dieser Zustand der Augen rührt wahrscheinlich von fortwährendem Nichtgebrauche her, dessen Wirkung aber vielleicht durch natürliche Zuchtwahl unterstützt worden ist. Ein südamericanischer Nager, der Tucu-tuco oder Ctenomys, hat eine noch mehr[158] unterirdische Lebensweise als der Maulwurf, und ein Spanier, welcher oft dergleichen gefangen hatte, versicherte mir, dass derselbe oft ganz blind sei; einer, den ich lebend gehalten habe, war es gewiss und zwar, wie die Section ergab, in Folge einer Entzündung der Nickhaut. Da häufige Augenentzündungen einem jeden Thiere nachtheilig werden müssen, und da für Thiere mit unterirdischer Lebensweise die Augen gewiss nicht nothwendig sind, so wird eine Verminderung ihrer Grösse, die Adhäsion der Augenlider und das Wachsthum des Felles über dieselben in solchem Falle für sie von Nutzen sein; und wenn dies der Fall, so wird die natürliche Zuchtwahl die Wirkung des Nichtgebrauches beständig unterstützen.

Es ist wohl bekannt, dass mehrere Thiere aus den verschiedensten Classen, welche die Höhlen in Kärnthen und Kentucky bewohnen, blind sind. Bei einigen Krabben ist der Augenstiel noch vorhanden, obwohl das Auge verloren ist; das Teleskopengestell ist geblieben, obwohl das Teleskop mit seinen Gläsern fehlt. Da man sich schwer davon eine Vorstellung machen kann, wie Augen, wenn auch unnütz, den in Dunkelheit lebenden Thieren schädlich werden sollten, so schreibe ich ihren Verlust auf Rechnung des Nichtgebrauchs. Bei einer der blinden Thierarten nämlich, bei der Höhlenratte (Neotoma), wovon Professor SILLIMAN Eine halbe englische Meile weit einwärts vom Eingange der Höhle und mithin noch nicht gänzlich im tiefsten Hintergrunde zwei gefangen hatte, waren die Augen gross und glänzend und erlangten, wie mir Prof. SILLIMAN mitgetheilt hat, nachdem sie einen Monat lang allmählich verstärktem Lichte ausgesetzt worden waren, ein schwaches Wahrnehmungsvermögen für Gegenstände.

Es ist schwer, sich noch ähnlichere Lebensbedingungen vorzustellen, als tiefe Kalksteinhöhlen in nahezu ähnlichem Clima, so dass, wenn man von der gewöhnlichen Ansicht ausgeht, dass die blinden Thiere für die americanischen und für die europäischen Höhlen besonders erschaffen worden seien, auch eine grosse Ähnlichkeit derselben in Organisation und Stellung wohl hätte erwartet werden können. Dies ist aber zwischen den beiderseitigen Faunen im Ganzen genommen keineswegs der Fall, und SCHIÖDTE bemerkt, allein in Bezug auf die Insecten, dass »die ganze Erscheinung nur als eine rein örtliche betrachtet werden dürfe, indem die Ähnlichkeit, die sich zwischen einigen wenigen Bewohnern der Mammuthhöhle in Kentucky und der Kärnthnerhöhlen herausstellte, nur ein ganz einfacher Ausdruck der Analogie sei, die zwischen den Faunen[159] Nord-America's und Europa's überhaupt bestehe.« Nach meiner Meinung muss man annehmen, dass americanische Thiere, welche in den meisten Fällen mit gewöhnlichem Sehvermögen ausgerüstet waren, in nacheinanderfolgenden Generationen von der äussern Welt her immer tiefer und tiefer in die entferntesten Schlupfwinkel der Kentuckyer Höhle eingedrungen sind, wie es europäische in die Höhlen von Kärnthen gethan haben. Und wir haben einigen Anhalt für diese stufenweise Veränderung der Lebensweise; denn SCHIÖDTE bemerkt: »Wir betrachten demnach diese unterirdischen Faunen als kleine in die Erde eingedrungene Abzweigungen der geographisch-begrenzten Faunen der nächsten Umgegenden, welche in dem Grade, als sie sich weiter in die Dunkelheit hineinerstreckten, sich den sie umgebenden Verhältnissen anpassten; Thiere, von gewöhnlichen Formen nicht sehr entfernt, bereiten den Übergang vom Tage zu Dunkelheit vor; dann folgen die für's Zwielicht gebildeten und zuletzt endlich die für's gänzliche Dunkel bestimmten, deren Bildung ganz eigenthümlich ist.« Diese Bemerkungen SCHIÖDTE'S beziehen sich aber, was zu beachten ist, nicht auf einerlei, sondern auf ganz verschiedene Species. In der Zeit, in welcher ein Thier nach zahllosen Generationen die hintersten Theile der Höhle erreicht hat, wird nach dieser Ansicht Nichtgebrauch die Augen mehr oder weniger vollständig unterdrückt und natürliche Zuchtwahl oft andere Veränderungen erwirkt haben, die wie verlängerte Fühler oder Fressspitzen, einigermassen das Gesicht ersetzen. Ungeachtet dieser Modificationen dürfen wir erwarten, bei den Höhlenthieren America's noch Verwandtschaften mit den anderen Bewohnern dieses Continents, und bei den Höhlenbewohnern Europa's solche mit den übrigen europäischen Thieren zu sehen. Und dies ist bei einigen americanischen Höhlenthieren der Fall, wie ich von Professor DANA höre; ebenso stehen einige europäische Höhleninsecten manchen in der Umgegend der Höhlen wohnenden Arten ganz nahe. Es dürfte sehr schwer sein, eine vernünftige Erklärung von der Verwandtschaft der blinden Höhlenthiere mit den anderen Bewohnern der beiden Continente aus dem gewöhnlichen Gesichtspunkte einer unabhängigen Erschaffung zu geben. Dass einige von den Höhlenbewohnern der Alten und der Neuen Welt in naher verwandtschaftlicher Beziehung zu einander stehen, lässt sich aus den wohlbekannten Verwandtschaftsverhältnissen ihrer meisten übrigen Erzeugnisse zu einander erwarten. Da eine blinde Bathyscia-Art an schattigen Felsen ausserhalb der Höhlen in grosser[160] Anzahl gefunden wird, so hat der Verlust des Gesichtes bei der die Höhle bewohnenden Art dieser einen Gattung wahr scheinlich in keiner Beziehung zum Dunkel ihrer Wohnstätte gestanden; denn es ist ganz begreiflich, dass ein bereits des Sehvermögens beraubtes Insect sich an die Bewohnung einer dunklen Höhle leicht accommodieren wird. Eine andere blinde Gattung, Anophthalmus, bietet die merkwürdige Eigenthümlichkeit dar, dass, wie MURRAY bemerkte, ihre verschiedenen Arten bis jetzt nirgend anders gefunden worden sind, als in Höhlen; doch sind die, welche die verschiedenen Höhlen von Europa und von America bewohnen, von einander verschieden. Es ist jedoch möglich, dass die Stammväter dieser verschiedenen Species, während sie noch mit Augen versehen waren, früher über beide Continente weit verbreitet gewesen und dann ausgestorben sind, ausgenommen an ihren jetzigen abgelegenen Wohnstätten. Weit entfernt, mich darüber zu wundern, dass einige der Höhlenthiere von sehr anomaler Beschaffenheit sind, wie AGASSIZ von dem blinden Fische Amblyopsis bemerkt, und wie es mit dem blinden Amphibium Proteus in Europa der Fall ist, bin ich vielmehr erstaunt, dass sich nicht mehr Trümmer alten Lebens unter ihnen erhalten haben, da die Bewohner solcher dunkler Wohnungen einer minder strengen Concurrenz ausgesetzt gewesen sein müssen.


Acclimatisierung

Lebensweise ist bei Pflanzen erblich, so in Bezug auf die Blüthezeit, die Zeit des Schlafes, die für die Samen zum Keimen nöthige Regenmenge u.s.w., und dies veranlasst mich, hier noch Einiges über Acclimatisierung zu sagen. Da es äusserst gewöhnlich ist, dass verschiedene Arten einer und derselben Gattung heisse, sowie kalte Gegenden bewohnen, so muss, wenn es richtig ist, dass alle Arten einer Gattung von einer einzigen elterlichen Form abstammen, Acclimatisierung während einer langen continuierlichen Descendenz leicht bewirkt werden können. Es ist notorisch, dass jede Art dem Clima ihrer eigenen Heimath angepasst ist; Arten aus einer arctischen oder auch nur aus einer gemässigten Gegend können in einem tropischen Clima nicht ausdauern, und umgekehrt. So können auch ferner manche Fettpflanzen nicht in einem feuchten Clima fortkommen. Doch wird der Grad der Anpassung der Arten an das Clima, worin sie leben, oft überschätzt. Wir können dies schon aus unserer oftmaligen Unfähigkeit, vorauszusagen, ob eine eingeführte Pflanze unser Clima vertragen werde oder nicht, sowie[161] aus der grossen Anzahl von Pflanzen und Thieren entnehmen, welche aus wärmerem Clima zu uns verpflanzt hier ganz wohl gedeihen. Wir haben Grund anzunehmen, dass Arten im Naturzustande durch die Concurrenz anderer organischer Wesen eben so sehr oder noch stärker als durch ihre Anpassung an besondere Climate in ihrer Verbreitung beschränkt werden. Mag aber diese Anpassung im Allgemeinen eine sehr genaue sein oder nicht: wir haben bei einigen wenigen Pflanzenarten Beweise dafür, dass dieselben schon von der Natur in gewissem Grade an ungleiche Temperaturen gewöhnt, d.h. acclimatisiert werden. So zeigen die Pinus– und Rhododendron-Arten, welche aus Samen erzogen worden sind, die Dr. HOOKER von denselben, aber in verschiedenen Höhen am Himalaya wachsenden Arten gesammelt hat, hier in England ein verschiedenes Vermögen der Kälte zu widerstehen. Herr THWAITES theilt mir mit, dass er ähnliche Thatsachen auf Ceylon beobachtet habe, und H. C. WATSON hat analoge Erfahrungen mit europäischen Arten von Pflanzen gemacht, die von den Azoren nach England gebracht worden sind; und ich könnte noch weitere Fälle anführen. In Bezug auf Thiere liessen sich manche wohl beglaubigte Fälle anführen, dass Arten innerhalb der geschichtlichen Zeit ihre Verbreitung weit aus wärmeren nach kälteren Zonen oder umgekehrt ausgedehnt haben; jedoch wissen wir nicht mit Bestimmtheit, ob diese Thiere ihrem heimathlichen Clima enge angepasst gewesen sind, obwohl wir dies in allen gewöhnlichen Fällen voraussetzen; auch wissen wir nicht, ob sie später eine specielle Acclimatisierung an ihre neue Heimath erfahren haben, so dass sie derselben besser angepasst wurden, als sie es zuerst waren.

Da wir annehmen können, dass unsere Hausthiere ursprünglich von noch uncivilisierten Menschen gewählt worden sind, weil sie ihnen nützlich und in der Gefangenschaft leicht fortzupflanzen waren, und nicht wegen ihrer erst später gefundenen Tauglichkeit zu weit ausgedehnter Verpflanzung, so kann das gewöhnlich vorhandene und ausserordentliche Vermögen unserer Hausthiere, nicht bloss die verschiedensten Climate auszuhalten, sondern in diesen (und dies ist ein viel gewichtigeres Zeugnis) vollkommen fruchtbar zu sein, als Argument dafür dienen, dass auch eine verhältnismässig grosse Anzahl anderer Thiere, die sich jetzt noch im Naturzustande befinden, leicht dazu gebracht werden könnte, sehr verschiedene Climate zu ertragen. Wir dürfen jedoch die vorstehende Folgerung nicht zu weit treiben, weil einige unserer Hausthiere wahrscheinlich von[162] verschiedenen wilden Stämmen herrühren, wie z.B. in unseren Haushundrassen das Blut eines tropischen und eines arctischen Wolfes gemischt sein könnte. Ratten und Mäuse können nicht als Hausthiere angesehen werden; und doch sind sie vom Menschen in viele Theile der Welt übergeführt worden und besitzen jetzt eine viel weitere Verbreitung als irgend ein anderes Nagethier, indem sie frei unter dem kalten Himmel der Faröer im Norden und der Falklands-Inseln im Süden, wie auf vielen Inseln der Tropenzone leben. Daher kann man die Anpassung an ein besonderes Clima als eine mit Leichtigkeit auf eine angeborene, den meisten Thieren eigene, weite Biegsamkeit der Constitution gepfropfte Eigenschaft betrachten. Dieser Ansicht zufolge hat man die Fähigkeit des Menschen selbst und seiner meisten Hausthiere, die verschiedensten Climate zu ertragen, und die Thatsache, dass die ausgestorbenen Elephanten und Rhinocerosarten ein Eisclima ertragen haben, während deren jetzt lebende Arten alle eine tropische oder subtropische Heimath haben, nicht als Anomalien zu betrachten, sondern lediglich als Beispiele einer sehr gewöhnlichen Biegsamkeit der Constitution anzusehen, welche nur unter besonderen Umständen zur Geltung gelangt ist.

Wie viel von der Acclimatisierung der Arten an ein besonderes Clima bloss Gewohnheitssache sei, und wie viel von der natürlichen Zuchtwahl von Varietäten mit verschiedenen angeborenen Körperconstitutionen abhänge, oder wie weit beide Ursachen zusammenwirken, ist eine dunkle Frage. Dass Gewohnheit oder Lebensweise einigen Einfluss habe, muss ich sowohl nach der Analogie als nach den immer wiederkehrenden Warnungen wohl glauben, welche in allen landwirthschaftlichen Werken, selbst in alten chinesischen Eneyclopädien, enthalten sind, recht vorsichtig bei Versetzung von Thieren aus einer Gegend in die andere zu sein. Und da es nicht wahrscheinlich ist, dass die Menschen mit Erfolg so viele Rassen und Unterrassen ausgewählt haben, welche ihren eigenen Gegenden angepasste Constitutionen gehabt hätten, so muss das Ergebnis, wie ich denke, vielmehr von der Gewöhnung herrühren. Andererseits würde die natürliche Zuchtwahl beständig diejenigen Individuen zu erhalten streben, welche mit den für ihre Heimathgegenden am besten geeigneten Körperconstitutionen geboren sind. In Schriften über verschiedene Sorten cultivierter Pflanzen heisst es von gewissen Varietäten, dass sie dieses oder jenes Clima besser als andere ertragen. Dies ergibt sich sehr schlagend aus den in den Vereinigten Staaten erschienenen Werken über Obstbaumzucht, worin beständig[163] gewisse Varietäten für die nördlichen und andere für die südlichen Staaten empfohlen werden; und da die meisten dieser Abarten noch neuen Ursprungs sind, so kann man die Verschiedenheit ihrer Constitutionen in dieser Beziehung nicht der Gewöhnung zuschreiben. Man hat selbst die Jerusalem-Artischocke, welche sich in England nie aus Samen fortgepflanzt und daher niemals neue Varietäten geliefert hat (denn sie ist jetzt noch so empfindlich wie je), als Beweis angeführt, dass es nicht möglich sei, eine Acclimatisierung zu bewirken! Zu gleichem Zwecke hat man sich auch oft auf die Schminkbohne, und zwar mit viel grösserem Nachdrucke berufen. So lange aber nicht Jemand einige Dutzend Generationen hindurch Schminkbohnen so frühzeitig ausgesäet haben wird, dass ein sehr grosser Theil derselben durch Frost zerstört wird, und dann mit der gehörigen Vorsicht zur Vermeidung von Kreuzungen seine Samen von den wenigen überlebenden Stücken genommen und von deren Sämlingen mit gleicher Vorsicht abermals seine Samen erzogen haben wird, so lange wird man nicht sagen können, dass auch nur der Versuch angestellt worden sei. Auch darf man nicht etwa annehmen, dass nicht zuweilen Verschiedenheiten in der Constitution dieser verschiedenen Bohnensämlinge zum Vorschein kämen; denn es ist bereits ein Bericht darüber erschienen, um wie viel einige dieser Arten härter sind als andere; auch habe ich selbst ein sehr auffallendes Beispiel dieser Thatsache beobachtet.

Im Ganzen kann man, glaube ich, schliessen, dass Gewöhnung oder Gebrauch und Nichtgebrauch in manchen Fällen einen beträchtlichen Einfluss auf die Abänderung der Constitution und des Baues ausgeübt haben, dass jedoch diese Wirkungen oft in ansehnlichem Grade mit der natürlichen Zuchtwahl angeborener Varietäten combiniert, zuweilen von ihr überboten worden ist.


Correlative Abänderung

Ich will mit diesem Ausdrucke sagen, dass die ganze Organisation während ihrer Entwicklung und ihres Wachsthums so in sich verkettet ist, dass, wenn in irgend einem Theile geringe Abänderungen auftreten und von der natürlichen Zuchtwahl gehäuft werden, auch andere Theile geändert werden. Dies ist ein sehr wichtiger, aber äusserst unvollständig gekannter Punkt, auch können hier ohne Zweifel leicht völlig verschiedene Classen von Thatsachen miteinander verwechselt werden. Wir werden gleich sehen, dass einfache Vererbung oft fälschlich den Schein einer Correlation darbietet.[164] Eins der augenfälligsten Beispiele wirklicher Correlation ist, dass Abänderungen im Baue der Larve oder des Jungen naturgemäss auch die Organisation des Erwachsenen zu berühren streben. Die mehrzähligen homologen und in einer frühen Embryonalzeit im Bau miteinander identischen Theile des Körpers, welche auch nothwendigerweise ähnlichen Bedingungen ausgesetzt sind, scheinen ausserordentlich geneigt zu sein, in ähnlicher Weise zu variieren; wir sehen dies an der rechten und linken Seite des Körpers, welche in gleicher Weise abzuändern pflegen, an den vorderen und hinteren Gliedmassen und sogar an den Kinnladen, welche in gleicher Weise wie die Gliedmassen variieren, wie ja einige Anatomen den Unterkiefer für ein Homologen der Gliedmassen halten. Diese Neigungen können, wie ich nicht bezweifle, mehr oder weniger vollständig von natürlicher Zuchtwahl beherrscht werden; so hat es einmal eine Hirschfamilie nur mit einem Gehörne auf einer Seite gegeben, und wäre diese Eigenheit von irgend einem grössern Nutzen für die Rasse gewesen, so würde sie durch natürliche Zuchtwahl vermuthlich zu einer bleibenden gemacht worden sein.

Homologe Theile streben, wie einige Autoren bemerkt haben, danach zu verwachsen, wie man es oft in monströsen Pflanzen sieht; und nichts ist gewöhnlicher, als die Vereinigung homologer Theile in normalen Bildungen, wie z.B. die Vereinigung der Kronenblätter zu einer Röhre. Harte Theile scheinen auf die Form anliegender weicher einzuwirken; wie denn einige Schriftsteller glauben, dass bei den Vögeln die Verschiedenheit in der Form des Beckens die merkwürdige Verschiedenheit in der Form ihrer Nieren verursache. Andere glauben, dass beim Menschen die Gestalt des Beckens der Mutter durch Druck auf die Schädelform des Kindes wirke. Bei Schlangen bedingen nach SCHLEGEL die Form des Körpers und die Art des Schlingens die Form mehrerer der wichtigsten Eingeweide.

Die Natur des correlativen Bandes ist häufig ganz dunkel. ISIDORE GEOFFROY SAINT-HILAIRE hat auf nachdrückliche Weise hervorgehoben, dass gewisse Missbildungen sehr häufig und andere sehr selten zusammen vorkommen, ohne dass wir irgend einen Grund anzugeben vermöchten. Was kann eigenthümlicher sein, als bei Katzen die Beziehung zwischen völliger Weisse und blauen Augen einer-und Taubheit andererseits, oder zwischen einem gelb, schwarz und weissgefleckten Pelze und dem weiblichen Geschlechte; oder bei Tauben die Beziehung zwischen den gefiederten Füssen und der Spannhaut zwischen den äusseren Zehen, oder die zwischen[165] der Anwesenheit von mehr oder weniger Flaum an den eben ausgeschlüpften Vögeln mit der künftigen Farbe ihres Gefieders; oder endlich die Beziehung zwischen Behaarung und Zahnbildung des nackten türkischen Hundes, obschon hier zweifellos Homologie mit in's Spiel kommt? Mit Bezug auf diesen letzten Fall von Correlation scheint es mir kaum zufällig zu sein, dass diejenigen zwei Säugethierordnungen, welche am abnormsten in ihrer Hautbekleidung, auch am abweichendsten in ihrer Zahnbildung sind: nämlich die Cetaceen (Wale) und die Edentaten (Schuppenthiere, Gürtelthiere u.s.w.); es finden sich indessen so viele Ausnahmen von dieser Regel, wie Mr. MIVART bemerkt hat, dass sie geringen Werth hat.

Ich kenne keinen Fall, der besser geeignet wäre, die grosse Bedeutung der Gesetze der Correlation und Variation, unabhängig von der Nützlichkeit und somit auch von der natürlichen Zuchtwahl, darzuthun, als den der Verschiedenheit der äusseren und inneren Blüthen im Blüthenstande einiger Compositen und Umbelliferen. Jedermann kennt den Unterschied zwischen den mittleren und den Randblüthen z.B. des Gänseblümchens (Bellis), und diese Verschiedenheit ist oft mit einer theilweisen oder vollständigen Verkümmerung der reproductiven Organe verbunden. Aber bei einigen der genannten Pflanzen unterscheiden sich auch die Früchte der beiderlei Blüthen in Grösse und Sculptur. Diese Verschiedenheiten sind von einigen Botanikern dem Drucke der Hüllen auf die Blüthen oder ihrem gegenseitigen Drucke zugeschrieben worden, und die Fruchtformen in den Strahlenblüthchen einiger Compositen unterstützen diese Ansicht; keineswegs sind es aber, wie mir Dr. HOOKER mittheilt, bei den Umbelliferen die Arten mit den dichtesten Umbellen, welche am häufigsten eine Verschiedenheit zwischen den inneren und äusseren Blüthen wahrnehmen lassen. Man hätte denken können, dass die Entwicklung der randständigen Kronenblätter die Verkümmerung der reproductiven Organe dadurch veranlasst hätte, dass sie ihnen Nahrung entzögen; dies kann aber kaum die einzige Ursache sein; denn bei einigen Compositen zeigt sich ein Unterschied in der Grösse der Früchte der inneren und der Strahlenblüthen, ohne irgend eine Verschiedenheit der Corolle. Möglich, dass diese mancherlei Unterschiede mit irgend einem Unterschiede in dem Zufluss der Säfte zu den mittel- und den randständigen Blüthen zusammenhängen; wir wissen wenigstens, dass bei unregelmässigen Blüthen die der Achse zunächst stehenden am öftesten der Pelorienbildung unterworfen sind, d.h. in abnormer Weise[166] regelmässig werden. Ich will als Beispiel hiervon und zugleich als auffallenden Fall von Correlation anführen, dass bei vielen Pelargonien die zwei oberen Kronenblätter der centralen Blüthe der Dolde oft die dunkler gefärbten Flecken verlieren, und dass, wenn dies der Fall ist, das anhängende Nectarium gänzlich verkümmert; hierdurch wird die centrale Blüthe pelorisch oder regelmässig. Fehlt der Fleck nur an einem der zwei oberen Kronenblätter, so wird das Nectarium nicht vollständig abortiert, sondern nur stark verkürzt.

Hinsichtlich der Entwicklung der Blumenkronen ist G. SPRENGEL'S Idee, dass die Strahlenblumen zur Anziehung der Insecten bestimmt seien, deren Wirksamkeit für die Befruchtung dieser Pflanzen äusserst vortheilhaft oder nothwendig ist, sehr wahrscheinlich, und wenn sich die Sache wirklich so verhält, so kann natürliche Zuchtwahl mit in's Spiel kommen. Dagegen scheint es unmöglich, dass die Verschiedenheit zwischen dem Bau der äusseren und der inneren Früchte, welche nicht immer in Correlation mit irgend einer verschiedenen Bildung der Corolle steht, irgend wie den Pflanzen von Nutzen sein kann. Jedoch erscheinen bei den Doldenpflanzen die Unterschiede von so auffallender Wichtigkeit (da in mehreren Fällen die Früchte der äusseren Blüthen orthosperm und die der mittelständigen coelosperm sind), dass der ältere DE CANDOLLE seine Hauptabtheilungen in dieser Pflanzenordnung auf derartige Verschiedenheiten gründete. Modificationen der Structur, welche von Systematikern als sehr werthvoll betrachtet werden, können daher von den Gesetzen der Abänderung und der Correlation bedingt sein, und zwar, soweit wir es beurtheilen können, ohne selbst den geringsten Vortheil für die Species darzubieten.

Wir können häufig irriger Weise der correlativen Abänderung solche Bildungen zuschreiben, welche ganzen Artengruppen gemein sind und welche in Wahrheit ganz einfach von Erblichkeit abhängen. Denn ein alter Urerzeuger kann durch natürliche Zuchtwahl irgend eine Eigenthümlichkeit seiner Structur und nach Tausenden von Generationen irgend eine andere davon unabhängige Abänderung er langt haben; und wenn dann beide Modificationen auf eine ganze Gruppe von Nachkommen mit verschiedener Lebensweise übertragen worden sind, so wird man natürlich glauben, sie stünden in einer nothwendigen Wechselbeziehung zu einander. Einige andere Fälle von Correlation sind offenbar nur von der Art und Weise bedingt, in welcher die natürliche Zuchtwahl ihre Thätigkeit allein äussern kann. Wenn z.B. ALPHONSE DE CANDOLLE bemerkt, dass geflügelte[167] Samen nie in Früchten vorkommen, die sich nicht öffnen, so möchte ich diese Regel durch die Thatsache erklären, dass Samen unmöglich durch natürliche Zuchtwahl allmählich beflügelt werden können, ausser in Früchten, die sich öffnen; denn nur in diesem Falle können diejenigen Samen, welche etwas besser zur weiten Fortführung geeignet sind, vor anderen, weniger zu einer weiten Verbreitung geeigneten, einen Vortheil erlangen.


Compensation und Öconomie des Wachsthums

Der ältere GEOFFROY und GOETHE haben ziemlich zu derselben Zeit ein Gesetz aufgestellt, das der Compensation oder des Gleichgewichts des Wachsthums, oder, wie GOETHE sich ausdrückt, »die Natur ist genöthigt, auf der einen Seite zu öconomisieren, um auf der andern mehr geben zu können.« Dies passt in gewisser Ausdehnung, wie mir scheint, ganz gut auf unsere Culturerzeugnisse; denn wenn einem Theile oder Organe Nahrung im Überfluss zuströmt, so fliesst sie selten, oder wenigstens nicht in Überfluss, auch einem andern zu; daher kann man eine Kuh z.B. nicht dahin bringen, viel Milch zu geben und zugleich schnell fett zu werden. Ein und dieselbe Kohlvarietät kann nicht eine reichliche Menge nahrhafter Blätter und zugleich einen guten Ertrag von Öl haltenden Samen liefern. Wenn in unserem Obste die Samen verkümmern, gewinnt die Frucht selbst an Grösse und Güte. Bei unseren Hühnern ist eine grosse Federhaube auf dem Kopfe gewöhnlich mit einem verkleinerten Kamm und ein grosser Bart mit verkleinerten Fleischlappen verbunden. Dagegen ist kaum anzunehmen, dass dieses Gesetz auch auf Arten im Naturzustande allgemein anwendbar sei, obwohl viele gute Beobachter und namentlich Botaniker an seine Richtigkeit glauben. Ich will hier jedoch keine Beispiele anführen, denn ich kann kaum ein Mittel finden, einerseits zwischen der durch natürliche Zuchtwahl bewirkten ansehnlichen Vergrösserung eines Theiles und der durch gleiche Ursache oder durch Nichtgebrauch veranlassten Verminderung eines andern und nahe dabei befindlichen Organes, und andererseits der Verkümmerung eines Organes durch Nahrungseinbusse in Folge excessiver Entwicklung eines andern nahe dabei befindlichen Theiles zu unterscheiden.

Ich vermuthe auch, dass einige der Fälle, die man als Beweise der Compensation vorgebracht hat, sich mit einigen anderen Thatsachen unter ein noch allgemeineres Princip zusammenfassen lassen, das Princip nämlich, dass die natürliche Zuchtwahl fortwährend[168] bestrebt ist, in jedem Theile der Organisation zu sparen. Wenn unter veränderten Lebensverhältnissen eine bisher nützliche Vorrichtung weniger nützlich wird, so dürfte wohl ihre Verminderung begünstigt werden, indem es ja für das Individuum vortheilhaft ist, wenn es seine Säfte nicht zur Ausbildung nutzloser Organe verschwendet. Nur auf diese Weise kann ich eine Thatsache begreiflich finden, welche mich, als ich mit der Untersuchung über die Cirripeden beschäftigt war, überraschte, und von welcher noch viele analoge Beispiele angeführt werden könnten, nämlich dass, wenn ein Cirripede an einem andern als Schmarotzer lebt und daher geschützt ist, er mehr oder weniger vollständig seine eigene Kalkschale verliert. Dies ist mit dem Männchen von Ibla und in einer wahrhaft ausserordentlichen Weise mit Proteolepas der Fall; denn während der Panzer aller anderen Cirripeden aus den drei hochwichtigen und mit starken Nerven und Muskeln versehenen ungeheuer entwickelten Vordersegmenten des Kopfes besteht, ist bei dem parasitischen und geschützten Proteolepas der ganze Vordertheil des Kopfes zu dem unbedeutendsten an die Basen der Greifantennen befestigten Rudimente verkümmert. Nun dürfte die Ersparung eines grossen und zusammengesetzten Gebildes, wenn es überflüssig wird, ein entschiedener Vortheil für jedes spätere Individuum der Species sein; denn im Kampfe um's Dasein, welchen jedes Thier zu kämpfen hat, würde jedes einzelne um so mehr Aussicht, sich zu behaupten, erlangen, je weniger Nährstoff zur Entwicklung eines nutzlos gewordenen Organes verloren geht.

Darnach, glaube ich, wird die natürliche Zuchtwahl auf die Länge immer darnach streben, jeden Theil der Organisation zu reducieren und zu ersparen, sobald er durch eine veränderte Lebensweise überflüssig wird, und zwar durchaus ohne deshalb zu verursachen, dass ein anderer Theil in entsprechendem Grade sich stärker entwickelt. Und ebenso dürfte sie umgekehrt voll kommen im Stande sein, ein Organ stärker auszubilden, ohne die Verminderung eines andern benachbarten Theiles als nothwendige Compensation zu verlangen.


Vielfache, rudimentäre und niedrig organisierte Bildungen sind veränderlich

Nach ISIDORE GEOFFROY SAINT-HILAIRE'S Bemerkung scheint es bei Varietäten wie bei Arten Regel zu sein, dass, wenn irgend ein Theil oder ein Organ sich oftmals im Baue eines Individuums wiederholt,[169] wie die Wirbel in den Schlangen und die Staubgefässe in den polyandrischen Blüthen, seine Zahl veränderlich wird, während die Zahl desselben Organes oder Theiles beständig bleibt, falls es sich weniger oft wiederholt. Derselbe Autor, sowie einige Botaniker haben ferner die Bemerkung gemacht, dass vielzählige Theile auch Veränderungen in ihrer Structur sehr ausgesetzt sind. Insofern nun diese »vegetative Wiederholung«, wie R. OWEN sie nennt, ein Anzeigen niedriger Organisation ist, stimmen die vorangehenden Bemerkungen mit der allgemein verbreiteten Ansicht der Naturforscher zusammen, dass solche Wesen, welche tief auf der Stufenleiter der Natur stehen, veränderlicher als die höheren sind. Ich vermuthe, dass in diesem Falle unter tiefer Organisation eine nur geringe Differenzierung der Organe für verschiedene besondere Verrichtungen gemeint ist. Solange ein und dasselbe Organ verschiedene Leistungen zu verrichten hat, lässt sich vielleicht einsehen, warum es veränderlich bleibt, d.h., warum die natürliche Zuchtwahl nicht jede kleine Abweichung der Form ebenso sorgfältig zu erhalten oder zu unterdrücken sucht, als wenn dasselbe Organ nur zu einem besondern Zweck allein bestimmt ist. So können Messer, welche allerlei Dinge zu schneiden bestimmt sind, im Ganzen so ziemlich von beinahe jeder beliebigen Form sein, während ein nur zu einerlei Gebrauch bestimmtes Werkzeug auch eine besondere Form haben muss. Man sollte nie vergessen, dass natürliche Zuchtwahl allein durch den Vortheil eines jeden Wesens und zu demselben wirken kann.

Rudimentäre Organe sind nach der allgemeinen Annahme sehr zur Veränderlichkeit geneigt. Wir werden auf diesen Gegenstand zurückzukommen haben, und ich will hier nur bemerken, dass ihre Veränderlichkeit durch ihre Nutzlosigkeit bedingt zu sein scheint, und in Folge dessen davon, dass in diesem Falle natürliche Zuchtwahl nichts vermag, um Abweichungen ihres Baues zu verhindern.


Ein in ausserordentlicher Stärke oder Weise in irgend einer Species entwickelter Theil hat, in Vergleich mit demselben Theile in verwandten Arten, eine grosse Neigung zur Veränderlichkeit

Vor mehreren Jahren wurde ich durch eine in diesem Sinne von WATERHOUSE gemachte Bemerkung überrascht. Auch Professor OWEN scheint zu einer nahezu ähnlichen Ansicht gelangt zu sein. Es ist keine Hoffnung vorhanden, Jemanden von der Wahrheit des obigen Satzes zu überzeugen, ohne die lange Reihe von Thatsachen, die ich gesammelt habe, aber hier nicht mittheilen kann, aufzuzählen.[170] Ich kann nur meine Überzeugung aussprechen, dass es eine sehr allgemeine Regel ist. Ich kenne zwar mehrere Fehlerquellen, hoffe aber, sie genügend berücksichtigt zu haben. Es ist hier zu bemerken, dass diese Regel durchaus nicht etwa auf einen wenn auch an sich noch so ungewöhnlich entwickelten Theil Anwendung findet, wofern er nicht in einer Species, oder in einigen wenigen, im Vergleich mit demselben Theile bei vielen nahe verwandten Arten ungewöhnlich ausgebildet ist. So ist die Flügelbildung der Fledermäuse in der Classe der Säugethiere äusserst abnorm; doch würde sich jene Regel nicht hierauf beziehen, weil diese Bildung der ganzen Gruppe der Fledermäuse zukommt; sie würde nur anwendbar sein, wenn die Flügel einer Fledermausart in einer merkwürdigen Weise im Vergleiche mit den Flügeln der anderen Arten derselben Gattung vergrössert wären. Die Regel bezieht sich daher sehr scharf auf die »secundären Sexualcharactere«, wenn sie in irgend einer ungewöhnlichen Weise entwickelt sind. Mit diesem von HUNTER gebrauchten Ausdrucke werden diejenigen Merkmale bezeichnet, welche nur dem Männchen oder dem Weibchen allein zukommen, aber mit dem Fortpflanzungsacte nicht in unmittelbarem Zusammenhange stehen. Die Regel findet sowohl auf Männchen wie auf Weibchen Anwendung, doch seltener auf Weibchen, weil auffallende Charactere dieser Art bei Weibchen überhaupt seltener sind. Die offenbare Anwendbarkeit der Regel auf die Fälle von secundären Sexualcharacteren dürfte mit der grossen und, wie ich meine, kaum zu bezweifelnden Veränderlichkeit dieser Charactere überhaupt, mögen sie in irgend einer ungewöhnlichen Weise entwickelt sein oder nicht, zusammenhängen. Dass sich aber unsere Regel nicht auf die secundären Sexualcharactere allein bezieht, erhellt aus den hermaphroditischen Cirripeden; und ich will hier hinzufügen, dass ich bei der Untersuchung dieser Ordnung WATERHOUSE'S Bemerkung besondere Beachtung geschenkt habe und vollkommen von der fast unveränderlichen Anwendbarkeit dieser Regel auf die Cirripe den überzeugt bin. In einem spätern Werke werde ich eine Liste aller merkwürdigen Fälle geben; hier aber will ich nur einen anführen, welcher die Regel in ihrer ausgedehntesten Anwendbarkeit erläutert. Die Deckelklappen der sitzenden Cirripeden (Balaniden) sind in jedem Sinne des Wortes sehr wichtige Gebilde und sind selbst von einer Gattung zur andern nur wenig verschieden. Aber in den verschiedenen Arten einer Gattung, Pyrgoma, bieten diese Klappen einen wundersamen Grad von Verschiedenartigkeit[171] dar. Die homologen Klappen sind in verschiedenen Arten zuweilen ganz unähnlich in Form, und der Betrag möglicher Abweichung bei den Individuen einer und derselben Art ist so gross, dass man ohne Übertreibung behaupten darf, die Varietäten einer und derselben Species weichen in den Merkmalen dieser wichtigen Klappen weiter von einander ab, als es sonst Arten thun, welche zu verschiedenen Gattungen gehören.

Da bei Vögeln die Individuen der nämlichen Species innerhalb einer und derselben Gegend ausserordentlich wenig variieren, so habe ich auch sie in dieser Hinsicht besonders geprüft; und die Regel scheint sicher in dieser Classe sich gut zu bewähren. Ich kann nicht ausfindig machen, ob sie auch auf Pflanzen anwendbar ist, und mein Vertrauen auf ihre Allgemeinheit würde hierdurch sehr erschüttert worden sein, wenn nicht eben die grosse Veränderlichkeit der Pflanzen überhaupt es ganz besonders schwierig machte, die relativen Veränderlichkeitsgrade zu vergleichen.

Wenn wir bei irgend einer Species einen Theil oder ein Organ in merkwürdigem Grade oder in auffallender Weise entwickelt sehen, so läge es am nächsten, anzunehmen, dass dasselbe für diese Art von grosser Wichtigkeit sein müsse, und doch ist der Theil in diesem Falle ausserordentlich veränderlich. Woher kommt dies? Aus der Ansicht, dass jede Art mit allen ihren Theilen, wie wir sie jetzt sehen, unabhängig erschaffen worden sei, können wir keine Erklärung schöpfen. Dagegen verbreitet, wie ich glaube, die Annahme, dass Artengruppen eine gemeinsame Abstammung von anderen Arten haben und durch natürliche Zuchtwahl modifiziert worden sind, einiges Licht über die Frage. Zunächst will ich einige vorläufige Bemerkungen machen. Wenn bei unseren Hausthieren ein einzelner Theil oder das ganze Thier vernachlässigt und bei der Nachzucht keine Auswahl angewandt wird, so wird ein solcher Theil (wie z.B. der Kamm bei den Dorking-Hühnern) oder die ganze Rasse aufhören, einen einförmigen Character zu bewahren. Man wird dann sagen, die Rasse arte aus. In rudimentären und solchen Organen, welche nur wenig für einen besondern Zweck differenziert worden sind, sowie vielleicht in polymorphen Gruppen, sehen wir einen fast parallelen Fall; denn in solchen Fällen ist die natürliche Zuchtwahl nicht in's Spiel gekommen oder hat nicht dazu kommen können, und die Organisation bleibt hiernach in einem schwankenden Zustande. Was uns aber hier noch näher angeht, das ist, dass eben bei unseren Hausthieren diejenigen Charactere, welche in der[172] Jetztzeit durch fortgesetzte Zuchtwahl rascher Abänderung unterliegen, auch ebenso sehr zu variieren geneigt sind. Man vergleiche einmal die Individuen einer und derselben Taubenrasse; was für ein wunderbar grosses Mass von Verschiedenheit zeigt sich in den Schnäbeln der Purzeltauben, in den Schnäbeln und Hautlappen der verschiedenen Botentauben, in Haltung und Schwanz der Pfauentaube u.s.w.; und dies sind die Punkte, auf welche die englischen Liebhaber jetzt hauptsächlich achten. Schon bei den nämlichen Unterrassen, wie z.B. bei den kurzstirnigen Purzlern, sind bekanntlich nahezu vollkommene Thiere schwer zu züchten; es kommen dabei viele zum Vorschein, welche weit von dem Musterbilde abweichen. Man kann daher in Wahrheit sagen, es finde ein beständiger Kampf statt einerseits zwischen dem Streben zum Rückschlag in einen minder vollkommenen Zustand und ebenso einer angeborenen Neigung zu weiterer Veränderung, und andererseits dem Einflusse fortwährender Zuchtwahl zur Reinerhaltung der Rasse. Auf die Länge gewinnt die Zuchtwahl den Sieg, und wir fürchten nicht mehr so weit vom Ziele abzuweichen, dass wir von einem guten kurzstirnigen Stamm nur einen gemeinen Purzler erhielten. Solange aber die Zuchtwahl noch in raschem Fortschritte begriffen ist, wird immer eine grosse Unbeständigkeit in den der Veränderung unterliegenden Gebilden zu erwarten sein.

Doch kehren wir zur Natur zurück. Ist ein Theil in irgend einer Species im Vergleich mit den anderen Arten derselben Gattung auf aussergewöhnliche Weise entwickelt, so können wir schliessen, derselbe habe seit der Abzweigung der verschiedenen Arten von der gemeinsamen Stammform der Gattung einen ungewöhnlichen Betrag von Modification erfahren. Diese Zeit der Abzweigung wird selten in einem extremen Grade weit zurückliegen, da Arten sehr selten länger als eine geologische Periode dauern. Ein ungewöhnlicher Betrag von Modification setzt ein ungewöhnlich langes und ausgedehntes Mass von Veränderlichkeit voraus, deren Product durch Zuchtwahl zum Besten der Species fortwährend gehäuft worden ist. Da aber die Veränderlichkeit des ausserordentlich entwickelten Theiles oder Organes in einer nicht sehr weit zurückliegenden Zeit so gross und andauernd gewesen ist, so dürften wir als allgemeine Regel auch jetzt noch mehr Veränderlichkeit in solchen als in anderen Theilen der Organisation, welche eine viel längere Zeit hindurch beständig geblieben sind, anzutreffen erwarten. Und dies findet nach meiner Überzeugung statt. Dass aber der Kampf zwischen[173] natürlicher Zuchtwahl einerseits und der Neigung zum Rückschlag und zur Variabilität andererseits mit der Zeit aufhören werde, und dass auch die am abnormsten gebildeten Organe beständig werden können, sehe ich keinen Grund zu bezweifeln. Wenn daher ein Organ, wie unregelmässig es auch sein mag, in annähernd gleicher Beschaffenheit auf viele bereits abgeänderte Nachkommen übertragen worden ist, wie dies mit dem Flügel der Fledermaus der Fall ist, so muss es meiner Theorie zufolge schon eine unermessliche Zeit hindurch in dem gleichen Zustande vorhanden gewesen sein; und in Folge hiervon ist es jetzt nicht veränderlicher als irgend ein anderes Organ. Nur in denjenigen Fällen, wo die Modification noch verhältnismässig neu und ausserordentlich gross ist, sollten wir daher die »generative Veränderlichkeit«, wie wir es nennen können, noch in hohem Grade vorhanden finden. Denn in diesem Falle wird die Veränderlichkeit nur selten schon durch fortgesetzte Zuchtwahl der in irgend einer geforderten Weise und Stufe variierenden und durch fortwährende Beseitigung der zum Rückschlag auf einen frühern und weniger modifizierten Zustand neigenden Individuen zu einem festen Ziele gelangt sein.


Specifische Charactere sind veränderlicher als Gattungscharactere

Das in dem vorigen Abschnitte erörterte Princip kann auch auf den vorliegenden Gegenstand angewendet werden. Es ist notorisch, dass die specifischen mehr als die Gattungscharactere abzuändern geneigt sind. Ich will an einem einfachen Beispiele zeigen, was ich meine. Wenn in einer grossen Pflanzengattung einige Arten blaue Blüthen und andere rothe haben, so wird die Farbe nur ein Artcharacter sein und daher auch niemand überrascht werden, wenn eine blaublühende Art in Roth variiert oder umgekehrt. Wenn aber alle Arten blaue Blumen haben, so wird die Farbe zum Gattungscharacter, und ihre Veränderung würde schon eine ungewöhnliche Erscheinung sein. Ich habe gerade dieses Beispiel gewählt, weil eine Erklärung, welche die meisten Naturforscher sonst beizubringen geneigt sein würden, darauf nicht anwendbar ist, dass nämlich specifische Charactere deshalb mehr als generische veränderlich erscheinen, weil sie von Theilen entlehnt sind, die eine geringere physiologische Wichtigkeit besitzen als diejenigen, welche gewöhnlich zur Characterisierung der Gattungen dienen. Ich glaube zwar, dass diese Erklärung theilweise, indessen nur indirect, richtig ist; ich werde jedoch auf diesen Punkt in dem[174] Abschnitte über Classification zurückkommen. Es dürfte fast überflüssig sein, Beispiele zur Unterstützung der obigen Behauptung anzuführen, dass gewöhnliche Artcharactere veränderlicher sind als Gattungscharactere; was aber die wichtigen Charactere betrifft, so habe ich in naturhistorischen Werken wiederholt bemerkt, dass, wenn ein Schriftsteller durch die Wahrnehmung überrascht war, dass irgend ein wichtiges Organ, welches sonst in einer ganzen grossen Artengruppe beständig zu sein pflegt, in nahe verwandten Arten ansehnlich verschieden ist, dasselbe dann auch in den Individuen einer und derselben Art variabel ist. Diese Thatsache zeigt, dass ein Character, der gewöhnlich von generischem Werthe ist, wenn er zu specifischem Werthe herabsinkt, oft veränderlich wird, wenn auch seine physiologische Wichtigkeit die nämliche bleibt. Etwas Ähnliches findet auch auf Monstrositäten Anwendung: wenigstens scheint ISIDORE GEOFFROY SAINT-HILAIRE keinen Zweifel darüber zu hegen, dass ein Organ um so mehr individuellen Anomalien unterliege, je mehr es in den verschiedenen Arten derselben Gruppen normal verschieden ist.

Wie wäre es nach der gewöhnlichen Meinung, welche jede Art unablässig erschaffen worden sein lässt, zu erklären, dass derjenige Theil der Organisation, welcher von demselben Theile in anderen unabhängig erschaffenen Arten derselben Gattung verschieden ist, veränderlicher ist als die Theile, welche in den verschiedenen Arten einer Gattung nahe übereinstimmen? Ich sehe keine Möglichkeit ein, dies zu erklären. Wenn wir aber von der Ansicht ausgehen, dass Arten nur wohl unterschiedene und beständig gewordene Varietäten sind, so werden wir häufig auch zu finden erwarten dürfen, dass dieselben noch jetzt in den Theilen ihrer Organisation abzuändern fortfahren, welche erst in verhältnismässig neuer Zeit variiert haben und dadurch verschieden geworden sind. Oder, um den Fall in einer andern Weise darzustellen: die Merkmale, worin alle Arten einer Gattung einander gleichen und worin dieselben von verwandten Gattungen abweichen, heissen generische, und diese Merkmale zusammengenommen können der Vererbung von einem gemeinschaftlichen Stammvater zugeschrieben werden; denn nur selten kann es der Zufall gewollt haben, dass die natürliche Zuchtwahl verschiedene, mehr oder weniger abweichenden Lebensweisen angepasste Arten in genau derselben Weise modifiziert haben sollte; und da diese sogenannten generischen Charactere schon aus der Zeit her vererbt worden sind, ehe und bevor sich die verschiedenen[175] Arten von ihrer gemeinsamen Stammform abgezweigt haben, und da sie später nicht mehr variiert haben oder gar nicht oder nur in einem unerheblichen Grade verschieden geworden sind, so ist es nicht wahrscheinlich, dass sie noch heutigen Tages abändern. Andererseits nennt man die Punkte, wodurch sich Arten von anderen Arten derselben Gattung unterscheiden, specifische Charactere; und da diese seit der Zeit der Abzweigung der Arten von der gemeinsamen Stammform variiert haben und verschieden geworden sind, so ist es wahrscheinlich, dass dieselben noch jetzt oft einigermassen veränderlich sind, wenigstens veränderlicher als diejenigen Theile der Organisation, welche während einer sehr viel längeren Zeit beständig geblieben sind.


Secundäre Geschlechtscharactere sind veränderlich

Ohne dass ich nöthig habe, dabei auf Einzelnheiten einzugehen, werden mir, denke ich, Naturforscher wohl zugeben, dass secundäre Geschlechtscharactere sehr veränderlich sind; man wird mir wohl auch ferner zugeben, dass die zu einerlei Gruppe gehörigen Arten hinsichtlich dieser Charactere weiter als in anderen Theilen ihrer Organisation von einander verschieden sind. Vergleicht man beispielsweise die Grösse der Verschiedenheit zwischen den Männchen der hühnerartigen Vögel, bei welchen secundäre Geschlechts charactere vorzugsweise stark entwickelt sind, mit der Grösse der Verschiedenheit zwischen ihren Weibchen, so wird die Wahrheit dieser Behauptung eingeräumt werden. Die Ursache der ursprünglichen Veränderlichkeit dieser Charactere liegt nicht sofort auf der Hand; doch lässt sich begreifen, wie es komme, dass dieselben nicht ebenso einförmig und beständig gemacht worden sind wie andere Theile der Organisation; denn die secundären Geschlechtscharactere sind durch geschlechtliche Zuchtwahl gehäuft worden, welche weniger streng in ihrer Wirksamkeit als die gewöhnliche Zuchtwahl ist, indem sie die minder begünstigten Männchen nicht zerstört, sondern bloss mit weniger Nachkommenschaft versieht. Welches aber auch immer die Ursache der Veränderlichkeit dieser secundären Geschlechtscharactere sein mag: da sie nun einmal sehr veränderlich sind, so wird die geschlechtliche Zuchtwahl darin einen weiten Spielraum für ihre Thätigkeit gefunden haben und somit den Arten einer Gruppe leicht einen grössern Betrag von Verschiedenheit in ihren Geschlechtscharacteren als in anderen Theilen ihrer Organisation haben verleihen können.[176]

Es ist eine merkwürdige Thatsache, dass die secundären Geschlechtsverschiedenheiten zischen beiden Geschlechtern einer Art sich gewöhnlich in genau denselben Theilen der Organisation entfalten, in denen auch die verschiedenen Arten einer Gattung von einander abweichen. Um dies zu erläutern, will ich nur zwei Beispiele anführen, welche zufällig als die ersten auf meiner Liste stehen; und da die Verschiedenheiten in diesen Fällen von sehr ungewöhnlicher Art sind, so kann die Beziehung kaum zufällig sein. Eine gleiche Anzahl von Tarsalgliedern ist allgemein ein sehr grossen Gruppen von Käfern gemeinsam zukommender Character; aber in der Familie der Engidae ändert nach WESTWOOD'S Beobachtung diese Zahl sehr ab; und hier ist die Zahl in den zwei Geschlechtern einer und derselben Art verschieden. Ebenso ist bei den grabenden Hymenopteren der Verlauf der Flügeladern ein Character von höchster Wichtigkeit, weil er sich in grossen Gruppen gleich bleibt; in einigen Gattungen jedoch ändert die Aderung von Art zu Art und gleicher Weise auch in den zwei Geschlechtern der nämlichen Art ab. Sir J. LUBBOCK hat kürzlich bemerkt, dass einige kleine Kruster vortreffliche Belege für dieses Gesetz darbieten. »Bei Pontella z.B. sind es hauptsächlich die vorderen Fühler und das fünfte Beinpaar, welche die Geschlechtscharactere liefern; und dieselben Organe bieten auch hauptsächlich die Artenunterschiede dar.« Diese Beziehung hat nach meiner Anschauungsweise eine naheliegende Bedeutung: ich betrachte nämlich alle Arten einer Gattung ebenso gewiss als Abkömmlinge desselben Stammvaters, wie die zwei Geschlechter irgend einer dieser Arten. Folglich: was immer für ein Theil der Organisation des gemeinsamen Stammvaters oder seiner ersten Nachkommen veränderlich geworden ist, es werden höchst wahrscheinlich die natürliche und geschlechtliche Zuchtwahl aus Abänderungen dieser Theile Vortheile gezogen haben, um die verschiedenen Arten ihren verschiedenen Stellen im Haushalte der Natur und ebenso um die zwei Geschlechter einer nämlichen Species einander anzupassen, oder endlich die Männchen in den Stand zu setzen, mit anderen Männchen um den Besitz der Weibchen zu kämpfen.

Schliesslich gelange ich also zu der Folgerung, dass die grössere Veränderlichkeit der specifischen Charactere oder derjenigen, durch welche sich Art von Art unterscheidet, gegenüber den generischen Merkmalen oder denjenigen, welche alle Arten einer Gattung gemein haben, – dass die oft äusserst grosse Veränderlichkeit des[177] in irgend einer einzelnen Art ganz ungewöhnlich entwickelten Theiles im Vergleich mit demselben Theile bei den anderen Gattungsverwandten, und die geringe Veränderlichkeit eines wenn auch ausserordentlich entwickelten, aber einer ganzen Gruppe von Arten gemeinsamen Theiles, – dass die grosse Variabilität secundärer Geschlechtscharactere und das grosse Mass von Verschiedenheit dieser selben Merkmale bei einander nahe verwandten Arten – dass die so allgemeine Entwicklung secundärer Geschlechts- und gewöhnlicher Artcharactere in einerlei Theilen der Organisation, – dass alles dieses eng untereinander verkettete Thatsachen sind. Alles dies ist hauptsächlich eine Folge davon, dass die zu einer nämlichen Gruppe gehörigen Arten von einem gemeinsamen Urerzeuger herrühren, von welchem sie vieles gemeinsam ererbt haben; – dass Theile, welche erst neuerlich noch starke Abänderungen erlitten haben, noch leichter fortwährend zu variieren geneigt sind als solche, welche schon seit langer Zeit vererbt sind und nicht variiert haben; – dass die natürliche Zuchtwahl je nach der Zeitdauer mehr oder weniger vollständig die Neigung zum Rückschlag und zu weiterer Variabilität überwunden hat; – dass die sexuelle Zuchtwahl weniger streng als die gewöhnliche ist; – endlich, dass Abänderungen in einerlei Organen durch natürliche und durch sexuelle Zuchtwahl gehäuft und für secundäre Geschlechts- und gewöhnliche specifische Zwecke verwandt worden sind.


Verschiedene Arten zeigen analoge Abänderungen, so dass eine Varietät einer Species oft einen einer verwandten Species eigenen Character annimmt oder zu einigen von den Merkmalen einer frühern Stammart zurückkehrt

Diese Sätze werden am leichtesten verständlich durch Betrachtung der Hausthierrassen. Die allerverschiedensten Taubenrassen bieten in weit von einander entfernt gelegenen Ländern Untervarietäten mit umgewendeten Federn am Kopfe und mit Federn an den Füssen dar, mit Merkmalen, welche die ursprüngliche Felstaube nicht besitzt; dies sind also analoge Abänderungen in zwei oder mehreren verschiedenen Rassen. Die häufige Anwesenheit von vierzehn oder selbst sechzehn Schwanzfedern im Kröpfer kann man als eine die normale Bildung einer andern Abart, der Pfauentaube, vertretende Abweichung betrachten. Ich setze voraus, dass Niemand daran zweifeln wird, dass alle solche analogen Abänderungen davon herrühren, dass die verschiedenen Taubenrassen die gleiche[178] Constitution und daher die gleiche Neigung unter denselben unbekannten Einflüssen zu variieren von einem gemeinsamen Erzeuger geerbt haben. Im Pflanzenreiche zeigt sich ein Fall von analoger Abänderung in dem verdickten Strunke (gewöhnlich wird er die Wurzel genannt) der Schwedischen Rübe und der Ruta baga, Pflanzen, welche mehrere Botaniker nur als durch die Cultur aus einer gemeinsamen Stammform hervorgebrachte Varietäten ansehen. Wäre dies aber nicht richtig, so hätten wir einen Fall analoger Abänderung in zwei sogenannten verschiedenen Arten, und diesen kann noch die gemeine Rübe als dritte beigezählt werden. Nach der gewöhnlichen Ansicht, dass jede Art unabhängig geschaffen worden sei, würden wir diese Ähnlichkeit der drei Pflanzen in ihrem verdickten Stengel nicht der wahren Ursache ihrer gemeinsamen Abstammung und einer daraus folgenden Neigung, in ähnlicher Weise zu variieren, zuzuschreiben haben, sondern drei verschiedenen, aber enge unter sich verwandten Schöpfungsacten. Viele ähnliche Fälle analoger Abänderung sind von NAUDIN in der grossen Familie der Kürbisse, von anderen Schriftstellern bei unseren Cerealien beobachtet worden. Ähnliche bei Insecten unter ihren natürlichen Verhältnissen vorkommende Fälle hat kürzlich mit vielem Geschick WALSH erörtert, der sie unter sein Gesetz der »gleichförmigen Variabilität« gebracht hat.

Bei den Tauben indessen haben wir noch einen andern Fall, nämlich das in allen Rassen gelegentliche Zum-vorschein-kommen von schieferblauen Vögeln mit zwei schwarzen Flügelbinden, weissen Weichen, einer Querbinde auf dem Ende des Schwanzes und einem weissen äussern Rande am Grunde der äusseren Schwanzfedern. Da alle diese Merkmale für die elterliche Felstaube bezeichnend sind, so glaube ich, wird Niemand bezweifeln, dass es sich hier um einen Fall von Rückschlag und nicht um eine neue, aber analoge Abänderung in verschiedenen Rassen handelt. Wir werden, denke ich, dieser Folgerung um so mehr vertrauen können, als, wie wir bereits gesehen haben, diese Farbenzeichnungen sehr gern in den Blendlingen zweier ganz distincter und verschieden gefärbter Rassen zum Vorschein kommen; und in diesem Falle ist auch in den äusseren Lebensbedingungen nichts zu finden, was das Wiedererscheinen der schieferblauen Farbe mit den übrigen Farbenzeichen verursachen könnte, ausser dem Einfluss des blossen Kreuzungsactes auf die Gesetze der Vererbung.

Es ist ohne Zweifel eine sehr überraschende Thatsache, dass[179] seit vielen und vielleicht Hunderten von Generationen verlorene Merkmale wieder zum Vorschein kommen. Wenn jedoch eine Rasse nur einmal mit einer andern Rasse gekreuzt worden ist, so zeigt der Blendling die Neigung, gelegentlich zum Character der fremden Rasse zurückzukehren, noch einige, man sagt ein dutzend, ja selbst zwanzig Generationen lang. Nun ist zwar nach zwölf Generationen, nach der gewöhnlichen Ausdrucksweise, das Blut des einen fremden Vorfahren nur noch im Verhältnis 1 in 2048 vorhanden, und doch genügt nach der, wie wir sehen, allgemeinen Annahme dieser äusserst geringe Bruchtheil fremden Blutes noch, um eine Neigung zum Rückschlag in jenen Urstamm zu unterhalten. In einer Zucht, welche nicht gekreuzt worden ist, sondern worin beide Eltern einige von den Characteren ihrer gemeinsamen Stammart eingebüsst haben, dürfte die Neigung, den verlorenen Character wieder herzustellen, mag sie stärker oder schwächer sein, wie schon früher bemerkt worden, trotz Allem, was man Gegentheiliges sehen mag, sich fast jede beliebige Anzahl von Generationen hindurch erhalten. Wenn ein Merkmal, das in einer Rasse verloren gegangen ist, nach einer grossen Anzahl von Generationen wiederkehrt, so ist die wahrscheinlichste Hypothese nicht die, dass ein Individuum jetzt plötzlich nach einem mehrere hundert Generationen ältern Vorgänger zurückstrebt, sondern die, dass in jeder der aufeinanderfolgenden Generationen das fragliche Merkmal noch latent vorhanden gewesen ist und nun endlich unter unbekannten günstigen Verhältnissen zum Durchbruch gelangt. So ist es z.B. wahrscheinlich, dass in jeder Generation der Barb-Taube, welche nur selten einen blauen Vogel hervorbringt, das latente Streben, ein blaues Gefieder hervorzubringen, vorhanden ist. Die Unwahrscheinlichkeit, dass eine latente Neigung durch eine endlose Zahl von Generationen fortgeerbt werde, ist an sich nicht grösser, als die thatsächlich bekannte Vererbung eines ganz unnützen oder rudimentären Organes. Und wir können allerdings zuweilen beobachten, dass ein solches Streben, ein Rudiment hervorzubringen, vererbt wird.

Da nach meiner Theorie alle Arten einer Gattung gemeinsamer Abstammung sind, so ist zu erwarten, dass sie zuweilen in analoger Weise variieren, so dass die Varietäten zweier oder mehrerer Arten einander, oder die Varietät einer Art in einigen ihrer Charactere einer andern und verschiedenen Art gleicht, welche ja nach meiner Meinung nur eine ausgebildete und bleibend gewordene Abart ist. Doch dürften solche, ausschliesslich durch analoge Abänderung erlangte[180] Charactere nur unwesentlicher Art sein: denn die Erhaltung aller functionell wesentlichen Merkmale wird durch natürliche Zuchtwahl in Übereinstimmung mit den verschiedenen Lebensweisen der Arten bestimmt worden sein. Es wird ferner zu erwarten sein, dass die Arten einer nämlichen Gattung zuweilen Fälle von Rückschlag zu den Characteren alter Vorfahren zeigen. Da wir jedoch niemals die gemeinsame Stammform irgend einer natürlichen Gruppe wirklich kennen, so vermögen wir nicht zwischen Rückschlagsmerkmalen und analogen Characteren zu unterscheiden. Wenn wir z.B. nicht wüssten, dass die Felstaube nicht mit Federfüssen oder mit umgewendeten Federn versehen ist, so hätten wir nicht sagen können, ob diese Charactere in unseren Haustaubenrassen Erscheinungen des Rückschlags zur Stammform oder bloss analoge Abänderungen seien; wohl aber hätten wir annehmen dürfen, dass die blaue Färbung ein Beispiel von Rückschlag sei, wegen der Anzahl anderer Zeichnungen, welche mit der blauen Färbung in Correlation stehen und wahrscheinlich doch nicht bloss in Folge einfacher Abänderung damit zusammengetroffen sein würden. Und noch mehr würden wir dies geschlossen haben, weil die blaue Farbe und die anderen Zeichnungen so oft wiedererscheinen, wenn Rassen von verschiedener Färbung miteinander gekreuzt werden. Obwohl es daher in der Natur gewöhnlich zweifelhaft bleibt, welche Fälle als Rückschlag zu alten Stammcharacteren und welche als neue, aber analoge Abänderungen zu betrachten sind, so sollten wir doch nach meiner Theorie zuweilen finden, dass die abändernden Nachkommen einer Art Charactere annehmen, welche bereits in einigen anderen Gliedern derselben Gruppe vorhanden sind. Und dies ist zweifelsohne der Fall.

Ein grosser Theil der Schwierigkeit, veränderliche Arten zu unterscheiden, rührt davon her, dass ihre Varietäten gleichsam einigen der anderen Arten der nämlichen Gattung nachahmen. Auch könnte man ein ansehnliches Verzeichnis von Formen geben, welche das Mittel zwischen zwei anderen Formen halten und welche selbst nur zweifelhaft als Arten aufgeführt werden können; und daraus ergibt sich, wenn man nicht alle diese nahe verwandten Formen als unabhängig erschaffen ansehen will, dass die einen durch Abänderung einige Charactere der anderen angenommen haben. Aber den besten Beweis analoger Abänderung bieten Theile oder Organe dar, welche allgemein im Character constant sind, zuweilen aber so abändern, dass sie einigermassen den Character desselben Organs[181] oder Theiles in einer verwandten Art annehmen. Ich habe ein langes Verzeichnis von solchen Fällen zusammengebracht, kann aber auch solches leider hier nicht mittheilen, sondern bloss wiederholen, dass solche Fälle vorkommen und mir sehr merkwürdig zu sein scheinen.

Ich will jedoch einen eigenthümlichen und complicierten Fall anführen, zwar nicht deshalb, weil er einen wichtigen Character betrifft, wohl aber, weil er in verschiedenen Arten derselben Gattung theils im Natur- und theils im domesticierten Zustande vorkommt. Es ist fast sicher ein Fall von Rückschlag. Der Esel hat manchmal sehr deutliche Querbinden auf seinen Beinen, wie das Zebra. Man hat mir versichert, dass diese beim Füllen am deutlichsten zu sehen sind, und meinen Nachforschungen zufolge glaube ich, dass dies richtig ist. Der Streifen an der Schulter ist zuweilen doppelt und sehr veränderlich in Länge und Umriss. Man hat auch einen weissen Esel, der kein Albino ist, sowohl ohne Rücken- als auch ohne Schulterstreifen beschrieben; und diese Streifen sind auch bei dunkelfarbigen Thieren zuweilen sehr undeutlich oder wirklich ganz verloren gegangen. Der Kulan von PALLAS soll mit einem doppelten Schulterstreifen gesehen worden sein. BLYTH hat ein Exemplar des Hemionus mit einem deutlichen Schulterstreifen gesehen, obschon dies Thier eigentlich keinen solchen besitzt; und Colonel POOLE hat mir mitgetheilt, dass die Füllen dieser Art gewöhnlich an den Beinen und schwach an der Schulter gestreift sind. Das Quagga, obwohl am Körper ebenso deutlich gestreift wie das Zebra, ist an den Beinen ohne Binden; doch hat Dr. GRAY ein Individuum mit sehr deutlichen, zebraähnlichen Binden an den Sprunggelenken abgebildet.

Was das Pferd betrifft, so habe ich in England Fälle vom Vorkommen des Rückenstreifens bei Pferden der verschiedensten Rassen und von allen Farben gesammelt. Querbinden auf den Beinen sind nicht selten bei Graubraunen, Mausfarbenen und einmal bei einem Kastanienbraunen vorgekommen. Auch ein schwacher Schulterstreifen tritt zuweilen bei Graubraunen auf, und eine Spur davon habe ich an einem Braunen gefunden. Mein Sohn hat mir eine sorgfältige Untersuchung und Zeichnung eines graubraunen Belgischen Karrenpferdes mitgetheilt mit einem doppelten Streifen auf jeder Schulter und mit Streifen an den Beinen; ich selbst habe einen graubraunen Devonshire-Pony gesehen, und ein kleiner graubrauner Walliser Pony ist mir sorgfältig beschrieben worden,[182] welche alle mit drei parallelen Streifen auf jeder Schulter versehen waren.

Im nordwestlichen Theile Ostindiens ist die Kattywar-Pferderasse so allgemein gestreift, dass, wie ich von Colonel POOLE vernehme, welcher dieselbe im Auftrage der indischen Regierung untersuchte, ein Pferd ohne Streifen nicht für Reinblut angesehen wird. Das Rückgrat ist immer gestreift; die Streifen auf den Beinen sind wie der Schulterstreifen, welcher zuweilen doppelt und selbst dreifach ist, gewöhnlich vorhanden; überdies sind die Seiten des Gesichts zuweilen gestreift. Die Streifen sind oft beim Füllen am deutlichsten und verschwinden zuweilen im Alter vollständig. POOLE hat ganz junge, sowohl graue als braune neugeborene Kattywar-Füllen gestreift gefunden. Auch habe ich nach Mittheilungen, welche ich Herrn W. W. EDWARDS verdanke, Grund zu vermuthen, dass bei englischen Rennpferden der Rückenstreifen häufiger an Füllen als an erwachsenen Pferden vorkommt. Ich habe selbst kürzlich ein Füllen von einer braunen Stute (der Tochter eines turkoman nischen Hengstes und einer flämischen Stute) und einem braunen englischen Rennpferd gezogen. Dieses Füllen war, als es eine Woche alt war, an der Kruppe sowie am Vorderkopf mit zahlreichen sehr schmalen dunklen Zebrastreifen und an den Beinen mit schwachen solchen Streifen versehen; alle Streifen verschwanden bald vollständig. Ohne hier noch weiter in Einzelnheiten einzugehen, will ich anführen, dass ich Fälle von Bein- und Schulterstreifen bei Pferden von ganz verschiedenen Rassen in verschiedenen Gegenden, von England bis Ost-China und von Norwegen im Norden bis zum Malayischen Archipel im Süden, gesammelt habe. In allen Theilen der Welt kommen diese Streifen weitaus am öftesten an Graubraunen und Mausfarbenen vor. Unter Graubraunen (»dun«) schlechthin begreife ich hier Pferde mit einer langen Reihe von Farbenabstufungen von einer zwischen Braun und Schwarz liegenden Farbe an bis fast zum Rahmfarbigen.

Ich weiss, dass Colonel HAMILTON SMITH, der über diesen Gegenstand geschrieben hat, annimmt, unsere verschiedenen Pferderassen rührten von verschiedenen Stammarten her, wovon eine, die graubraune, gestreift gewesen sei, und alle oben beschriebenen Streifungen wären Folge früherer Kreuzungen mit dem graubraunen Stamme. Jedoch darf man diese Ansicht getrost verwerfen; denn es ist höchst unwahrscheinlich, dass das schwere belgische Karrenpferd, die Walliser Ponies, die norwegischen Pferde, die schlanke[183] Kattywar-Rasse u. a., die in den verschiedensten Theilen der Welt zerstreut sind, sämmtlich mit einer vermeintlichen ursprünglichen Stammform gekreuzt worden wären.

Wenden wir uns nun zu den Wirkungen der Kreuzung zwischen den verschiedenen Arten der Pferdegattung. ROLLIN versichert, dass der gemeine Maulesel, von Esel und Pferd, besonders gern Querstreifen auf den Beinen hat, und nach GOSSE kommt dies in den Vereinigten Staaten in zehn Fällen neunmal vor. Ich habe einmal einen Maulesel gesehen mit so stark gestreifen Beinen, dass Jedermann zuerst geneigt gewesen sein würde, ihn für einen Zebra-Bastard zu halten; und W. C. MARTIN hat in seinem vorzüglichen Werke über das Pferd die Abbildung von einem ähnlichen Maulesel mitgetheilt. In vier in Farben ausgeführten Bildern von Bastarden des Esels mit dem Zebra, die ich gesehen habe, fand ich die Beine viel deutlicher gestreift als den übrigen Körper, und bei einem derselben war ein doppelter Schulterstreifen vorhanden. In Lord MORTON'S berühmtem Falle eines Bastards von einem Quaggahengst und einer kastanienbraunen Stute war dieser und selbst das nachher von derselben Stute mit einem schwarzen arabischen Hengste erzielte reine Füllen an den Beinen viel deutlicher quergestreift, als selbst das reine Quagga. Endlich, und dies ist ein anderer äusserst merkwürdiger Fall, hat Dr. GRAY (dem noch, wie er mir mittheilte, ein zweites Beispiel dieser Art bekannt war) einen Bastard von Esel und Hemionus abgebildet; und dieser Bastard hatte, obwohl der Esel nur zuweilen und der Hemionus niemals Streifen auf den Beinen und letzterer nicht einmal einen Schulterstreifen hat, nichtsdestoweniger alle vier Beine quer gestreift, und auch die Schulter war mit drei kurzen Streifen wie beim braunen Devonshire und dem Walliser Pony versehen; auch waren sogar einige Streifen wie beim Zebra an den Seiten des Gesichts vorhanden. Durch diese letzte Thatsache drängte sich mir die Überzeugung, dass auch nicht ein Farbenstreifen durch sogenannten Zufall entstehe, so eindringlich auf, dass ich allein durch das Auftreten von Gesichtsstreifen bei diesem Bastarde von Esel und Hemionus veranlasst wurde, Colonel POOLE zu fragen, ob solche Gesichtsstreifen jemals bei der stark gestreiften Kattywar-Pferderasse vorkommen, was er, wie wir oben gesehen haben, bejahte.

Was haben wir nun zu diesen verschiedenen Thatsachen zu sagen? Wir sehen mehrere verschiedene Arten der Gattung Equus durch einfache Abänderung Streifen an den Beinen wie beim Zebra[184] oder an der Schulter wie beim Esel erlangen. Beim Pferde sehen wir diese Neigung stark hervortreten, so oft eine graubräunliche Färbung zum Vorschein kommt, eine Färbung, welche sich der allgemeinen Farbe der anderen Arten dieser Gattung nähert. Das Auftreten der Streifen ist von keiner Veränderung der Form und von keinem andern neuen Character begleitet. Wir sehen diese Neigung, streifig zu werden, sich am meisten bei Bastarden zwischen mehreren der von einander verschiedensten Arten entwickeln. Vergleichen wir nun damit den vorhergehenden Fall von den verschiedenen Rassen der Tauben: sie rühren von einer Stammart (mit 2 – 3 geographischen Varietäten oder Unterarten) her, welche bläulich von Farbe und mit einigen bestimmten Bändern und anderen Zeichnungen versehen ist; und wenn eine ihrer Rassen in Folge einfacher Abänderung wieder einmal eine bläuliche Färbung annimmt, so erscheinen unfehlbar auch jene Bänder und anderen Zeichnungen der Stammform wieder, doch ohne irgend eine andere Veränderung der Form und des Characters. Wenn man die ältesten und echtesten Arten von verschiedener Farbe miteinander kreuzt, so tritt in den Blendlingen eine starke Neigung hervor, die ursprüngliche schieferblaue Farbe mit den schwarzen und weissen Binden und Streifen wieder anzunehmen. Ich habe behauptet, die wahrscheinlichste Hypothese zur Erklärung des Wiedererscheinens sehr alter Charactere sei die Annahme einer »Tendenz« in den Jungen einer jeden neuen Generation, den längst verlorenen Character wieder hervorzuholen, welche Tendenz in Folge unbekannter Ursachen zuweilen zum Durchbruch komme. Und wir haben soeben gesehen, dass in verschiedenen Arten der Pferdegattung die Streifen bei den Jungen deutlicher sind oder gewöhnlicher auftreten als bei den Alten. Man nenne nun die Taubenrassen, deren einige schon Jahrhunderte lang sich echt erhalten haben, Species, und die Erscheinung wäre genau dieselbe, wie bei den Arten der Pferdegattung. Ich für meinen Theil wage getrost über Tausende und Tausende von Generationen rückwärts zu schauen und sehe ein Thier, wie ein Zebra gestreift, aber sonst vielleicht sehr abweichend davon gebaut, welches der gemeinsame Stammvater unseres domesticierten Pferdes (rühre es nun von einem oder von mehreren wilden Stämmen her), des Esels, des Hemionus, des Quagga's und des Zebra's ist.

Wer an die unabhängige Erschaffung der einzelnen Pferdespecies glaubt, wird vermuthlich sagen, dass einer jeden Art die Neigung im freien wie im domesticierten Zustande auf so eigenthümliche[185] Weise zu variieren anerschaffen worden sei, derzufolge sie oft wie andere Arten derselben Gattung gestreift erscheine; und dass einer jeden derselben eine starke Neigung anerschaffen sei, bei einer Kreuzung mit Arten aus den entferntesten Weltgegenden Bastarde zu liefern, welche in der Streifung nicht ihren eigenen Eltern, sondern anderen Arten derselben Gattung gleichen. Sich zu dieser Ansicht bekennen, heisst nach meiner Meinung eine thatsächliche für eine nicht thatsächliche oder wenigstens unbekannte Ursache aufgeben. Sie macht aus den Werken Gottes nur Täuschung und Nachäfferei; – und ich würde dann beinahe ebenso gern mit den alten und unwissenden Kosmogonisten annehmen, dass die fossilen Muscheln nie einem lebenden Thiere angehört, sondern im Gesteine erschaffen worden seien, um die jetzt an der Seeküste lebenden Schalthiere nachzuahmen.


Zusammenfassung

Wir sind in tiefer Unwissenheit über die Gesetze, wornach Abänderungen erfolgen. Nicht in einem von hundert Fällen dürfen wir behaupten, den Grund zu kennen, warum dieser oder jener Theil variiert hat. Doch, wo immer wir die Mittel haben, eine Vergleichung anzustellen, da scheinen bei Erzeugung der geringeren Abweichungen zwischen Varietäten derselben Art wie in Hervorbringung der grösseren Unterschiede zwischen Arten derselben Gattung die nämlichen Gesetze gewirkt zu haben. Veränderte Bedingungen rufen meist fluctuierende Variabilität hervor; zuweilen aber verursachen sie directe und bestimmte Wirkungen; und diese können im Laufe der Zeit scharf ausgesprochen werden. Doch haben wir hierfür keine genügenden Beweise. Wesentliche Wirkungen dürften Angewöhnung an eine bestimmte Lebensweise auf das Hervorrufen von Eigenthümlichkeiten der Constitution, Gebrauch der Organe auf ihre Verstärkung und Nichtgebrauch auf ihre Schwächung und Verkleinerung gehabt haben. Homologe Theile sind geneigt, in gleicher Weise abzuändern, und streben, unter sich zu verwachsen. Modificationen in den harten und in den äusseren Theilen berühren zuweilen weichere und innere Organe. Wenn sich ein Theil stark entwickelt, strebt er vielleicht anderen benachbarten Theilen Nahrung zu entziehen: und jeder Theil des organischen Baues, welcher ohne Nachtheil für das Individuum erspart werden kann, wird erspart. Veränderungen der Structur in einem frühen Alter können die sich später entwickelnden Theile afficieren; unzweifelhaft[186] kommen aber noch viele Fälle von correlativer Abänderung vor, deren Natur wir durchaus nicht im Stande sind, zu begreifen. Vielzählige Theile sind veränderlich in Zahl und Structur, vielleicht deshalb, weil dieselben durch natürliche Zuchtwahl für einzelne Verrichtungen nicht genug specialisiert sind, so dass ihre Modificationen durch natürliche Zuchtwahl nicht besonders beschränkt worden sind. Aus demselben Grunde werden wahrscheinlich auch die auf tiefer Organisationsstufe stehenden Organismen veränderlicher sein als die höher entwickelten und in ihrer ganzen Organisation mehr differenzierten. Rudimentäre Organe bleiben ihrer Nutzlosigkeit wegen von der natürlichen Zuchtwahl unbeachtet und sind deshalb veränderlich. Specifische Charactere, solche nämlich, welche erst seit der Abzweigung der verschiedenen Arten einer Gattung von einem gemeinsamen Erzeuger auseinander gelaufen, sind veränderlicher als generische Merkmale, welche sich schon lange vererbt haben, ohne in dieser Zeit eine Abänderung erlitten zu haben. Wir haben in diesen Bemerkungen nur auf die einzelnen noch veränderlichen Theile und Organe Bezug genommen, weil sie erst neuerlich variiert haben und einander unähnlich geworden sind; wir haben jedoch schon im zweiten Capitel gesehen, dass das nämliche Princip auch auf das ganze Individuum anwendbar ist; denn in einem Bezirke, wo viele Arten einer Gattung gefunden werden, d.h., wo früher viele Abänderung und Differenzierung stattgefunden hat oder wo die Fabrication neuer Artenformen lebhaft gewesen ist, in diesem Bezirke und unter diesen Arten finden wir jetzt durchschnittlich auch die meisten Varietäten. Secundäre Sexualcharactere sind sehr veränderlich, und solche Charactere sind in den Arten einer nämlichen Gruppe sehr verschieden. Veränderlichkeit in denselben Theilen der Organisation ist gewöhnlich mit Vortheil dazu benutzt worden, die secundären Sexualverschiedenheiten für die zwei Geschlechter einer Species und die Artenverschiedenheiten für die mancherlei Arten der nämlichen Gattung hervorzubringen. Irgend ein in ausserordentlicher Grösse oder Weise entwickeltes Glied oder Organ, im Vergleich mit der Entwicklung desselben Gliedes oder Organes in den nächstverwandten Arten, muss seit dem Auftreten der Gattung ein ausserordentliches Mass von Abänderung durchlaufen haben, woraus wir dann noch begreiflich finden, warum dasselbe noch jetzt in viel höherem Grade als andere Theile variabel ist; denn Abänderung ist ein langsamer und langwährender Process, und die natürliche Zuchtwahl wird in solchen[187] Fällen noch nicht die Zeit gehabt haben, das Streben nach fernerer Veränderung und nach dem Rückschlag zu einem weniger modificierten Zustande zu überwinden. Wenn aber eine Art mit irgend einem ausserordentlich entwickelten Organe Stamm vieler abgeänderter Nachkommen geworden ist – was nach meiner Ansicht ein sehr langsamer und daher viele Zeit erheischender Vorgang ist – , dann mag auch die natürliche Zuchtwahl im Stande gewesen sein, dem Organe, wie ausserordentlich es auch entwickelt sein mag, schon ein festes Gepräge aufzudrücken. Haben Arten nahezu die nämliche Constitution von einem gemeinsamen Erzeuger geerbt und sind sie ähnlichen Einflüssen ausgesetzt, so werden sie natürlich auch geneigt sein, analoge Abänderungen darzubieten, oder es können diese selben Arten gelegentlich auf einige der Charactere ihrer früheren Ahnen zurückschlagen. Obwohl neue und wichtige Modificationen aus dieser Umkehr und jenen analogen Abänderungen nicht hervorgehen mögen, so tragen solche Modificationen doch zur Schönheit und harmonischen Mannichfaltigkeit der Natur bei.

Was aber auch die Ursache des ersten kleinen Unterschiedes zwischen Eltern und Nachkommen sein mag, und eine Ursache muss für einen jeden da sein, so haben wir zu der Annahme Ursache, dass es doch nur die stete Häufung der für das Individuum nützlichen Verschiedenheiten ist, welche alle jene bedeutungsvolleren Abänderungen der Structur einer jeden Art in Bezug zu deren Lebensweise hervorgebracht hat.

Quelle:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. Stuttgart 91899, S. 153-188.
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