Siebentes Capitel
Verschiedene Einwände gegen die Theorie der natürlichen Zuchtwahl

[233] Langlebigkeit. – Modificationen nicht nothwendig gleichzeitig. – Modificationen scheinbar ohne directen Nutzen. – Progressive Entwicklung. – Charactere von geringer functioneller Bedeutung die constantesten. – Natürliche Zuchtwahl vermeintlich ungenügend, die Anfangsstufen nützlicher Gebilde zu erklären. – Ursachen, welche das Erlangen nützlicher Bildungen durch natürliche Zuchtwahl stören, – Abstufungen des Baues bei veränderten Functionen. – Sehr verschiedene Organe bei Gliedern der nämlichen Classe aus einer und derselben Quelle entwickelt. – Gründe, nicht an grosse und plötzliche Modificationen zu glauben.


Ich will dies Capitel der Betrachtung mehrerer verschiedenartigen Einwendungen widmen, welche gegen meine Anschauungsweise erhoben worden sind, da einige der früheren Erörterungen hierdurch vielleicht klarer werden; es wäre aber nutzlos, alle Einwände zu erörtern, da viele von Schriftstellern ausgegangen sind, welche sich nicht die Mühe genommen haben, den Gegenstand eingehend zu erfassen. So hat ein distinguierter deutscher Naturforscher behauptet, die schwächste Seite meiner Theorie sei die, dass ich alle organischen Wesen für unvollkommen halte. Ich habe aber wirklich nur gesagt, dass sie alle im Verhältnis zu den Bedingungen, unter welchen sie leben, nicht so vollkommen sind, wie sie sein könnten; und dass dies der Fall ist, beweisen die vielen eingeborenen Formen, welche ihre Stellen im Naturhaushalte in vielen Theilen der Erde sich naturalisierenden Eindringlingen abgetreten haben. Auch können organische Wesen, selbst wenn sie zu irgend einer Zeit ihren Lebensbedingungen vollkommen angepasst waren, nicht so bleiben, wenn ihre Bedingungen sich ändern, sie müssen sich dann selbst gleichfalls ändern. Niemand wird aber bestreiten, dass die physikalischen Verhältnisse eines jeden Landes ebenso wie die Zahlen und Arten seiner Bewohner viele Veränderungen erfahren haben.

Ein Kritiker hat vor Kurzem mit einer gewissen Schaustellung mathematischer Genauigkeit behauptet, dass Langlebigkeit ein grosser Vortheil für alle Species sei, so dass der, welcher an natürliche Zuchtwahl glaubt, »seinen genealogischen Stammbaum in einer solchen Weise arrangieren muss«, dass alle Abkömmlinge längeres Leben haben als ihre Vorfahren! Kann es unser Kritiker nicht begreifen,[233] dass eine zweijährige Pflanze oder eines der niederen Thiere sich in ein kaltes Clima hinein erstrecken und dort jeden Winter umkommen kann; und dass diese Formen trotzdem, in Folge der durch die natürliche Zuchtwahl erlangten Vortheile, von Jahr zu Jahr mittelst ihrer Samen oder Eier fortleben können? E. RAY LANKESTER hat kürzlich diesen Gegenstand erörtert und gelangt, soweit dessen ausserordentliche Complexität ihm ein Urtheil zu bilden gestattet, zu dem Schlusse, dass Langlebigkeit im Allgemeinen zu dem Standpunkt jeder Species auf der Stufenleiter der Organisation ebenso wie zu der Grösse des Aufwandes, welchen die Fortpflanzung und die allgemeine Lebensthätigkeit erheischt, in Verhältnis stehe. Wahrscheinlich sind diese Beziehungen in grossem Masse durch die natürliche Zuchtwahl bestimmt worden.

Man hat gefolgert, dass, da keine der Thier- und Pflanzenarten Ägyptens, von welchen wir irgend etwas Genaueres wissen, während der letzten drei-oder viertausend Jahre sich verändert habe, wahrscheinlich auch keine andere in irgend einem Theile der Welt dies gethan habe. Diese Schlussfolgerung beweist aber, wie G. H. LEWES bemerkt hat, zu viel; denn die alten domesticierten, auf den ägyptischen Monumenten abgebildeten oder einbalsamiert erhaltenen Rassen sind den jetzigen lebenden sehr ähnlich oder selbst mit ihnen identisch; und doch geben alle Naturforscher zu, dass solche Rassen durch die Modification ihrer ursprünglichen natürlichen Typen erzeugt worden sind. Die vielen Thierarten, welche seit dem Beginne der Eiszeit unverändert geblieben sind, würden eine unvergleichlich triftigere Einrede dargeboten haben; denn diese sind einem grossen Climawechsel ausgesetzt gewesen und sind über weite Entfernungen gewandert, während in Ägypten innerhalb der letzten einigen tausend Jahre die Lebensbedingungen, soweit wir es wissen, absolut gleichförmig geblieben sind. Die Thatsache, dass wenig oder gar keine Modification seit der Eiszeit eingetreten ist, würde denjenigen gegenüber einen belangreichen Einwand dargeboten haben, welche an ein eingeborenes und nothwendiges Gesetz der Entwicklung glauben, ist aber in Bezug auf die Lehre der natürlichen Zuchtwahl oder des Überlebens des Passendsten ohne Einfluss, welche davon ausgeht, dass, wenn Abänderungen oder individuelle Verschiedenheiten von einer wohlthätigen Art zufällig auftreten, diese erhalten werden; dies wird aber nur unter gewissen günstigen Bedingungen erreicht werden.

Der berühmte Paläontolog BRONN fragt am Schlusse seiner[234] Übersetzung dieses Werkes, wie nach dem Principe der natürlichen Zuchtwahl eine Varietät unmittelbar neben der elterlichen Art leben könne? Wenn beide unbedeutend verschiedenen Lebensweisen und Lebensbedingungen angepasst worden sind, so können sie zusammen leben; und wenn wir polymorphe Arten, bei denen die Variabilität von einer eigenthümlichen Art zu sein scheint, und alle bloss zeitweiligen Abänderungen, wie Grösse, Albinismus u.s.w., bei Seite lassen, so findet man allgemein, dass die beständigen Varietäten, soweit ich es ausfindig machen kann, bestimmte Stationen bewohnen, wie Hochland oder Tiefland, trockene oder feuchte Districte. Überdies scheinen bei Thieren welche viel umherwandern und sich reichlich kreuzen, ihre Varietäten allgemein auf bestimmte Regionen beschränkt zu sein.

BRONN behauptet auch, dass verschiedene Species niemals in einzelnen Merkmalen von einander abweichen, sondern in vielen Theilen; und er fragt, woher es komme, dass immer viele Theile der Organisation zu derselben Zeit durch Abänderung und natürliche Zuchtwahl modificiert worden sein sollten? Es liegt aber keine Nöthigung vor, zu vermuthen, dass alle Theile irgend eines Wesens gleichzeitig modificiert worden seien. Die allerauffallendsten Modificationen, irgend einem Zwecke ausgezeichnet angepasst, können, wie früher bemerkt wurde, durch nacheinander auftretende Abänderungen, wenn diese nur gering waren, erst in einem Theile, dann in einem andern erlangt worden sein; und da sie alle zusammen überliefert werden, so wird es uns so erscheinen, als wären sie gleichzeitig entwickelt worden. Die beste Antwort auf die obige Einwendung bieten indessen diejenigen domesticierten Rassen dar, welche hauptsächlich durch das Zuchtwahlvermögen des Menschen zu irgend einem speciellen Zwecke modificiert worden sind. Man betrachte das Rennpferd und den Karrengaul, oder den Windhund und die Dogge. Ihr ganzes Körpergerüst und selbst ihre geistigen Eigenthümlichkeiten sind modificiert worden; wenn wir aber Schritt für Schritt die Geschichte ihrer Umwandlung verfolgen könnten – und die letzten Schritte können verfolgt werden – , so würden wir keine grossen und gleichzeitig auftretenden Veränderungen sehen, sondern finden, dass erst ein Theil und dann ein anderer unbedeutend modificiert und verbessert wurde. Selbst wenn die Zuchtwahl vom Menschen auf einen Character allein angewendet worden ist – wofür unsere cultivierten Pflanzen die besten Beispiele darbieten – , wird man unveränderlich finden, dass zwar dieser eine[235] Theil, mag es nun die Blüthe, die Frucht oder die Blätter sein, bedeutend verändert worden ist, dass aber auch beinahe alle übrigen Theile unbedeutend modificiert worden sind. Dies lässt sich zum Theil dem Principe der Correlation des Wachsthums, zum Theil der sogenannten spontanen Abänderung zuschreiben.

Einen viel ernstern Einwand hat BRONN und neuerdings BROCA gemacht, nämlich, dass viele Charactere für ihre Besitzer von durchaus gar keinem Nutzen zu sein scheinen und daher nicht von der natürlichen Zuchtwahl beeinflusst worden sein können. BRONN führt die Länge der Ohren und des Schwanzes in den verschiedenen Arten der Hasen und Mäuse, die complicierten Schmelzfalten an den Zähnen vieler Säugethiere, und eine Menge analoger Fälle an. In Bezug auf Pflanzen ist dieser Gegenstand von NÄGELI in einem vortrefflichen Aufsatze erörtert worden. Er giebt zu, dass natürliche Zuchtwahl Vieles bewirkt hat; er hebt aber hervor, dass die Pflanzenfamilien hauptsächlich in morphologischen Characteren von einander abweichen, welche für die Wohlfahrt der Art völlig bedeutungslos zu sein scheinen. Er glaubt in Folge dessen an eine eingeborene Neigung zu einer progressiven und vollkommneren Entwicklung. Er führt speciell die Anordnung der Zellen in den Geweben und die der Blätter an der Achse als Fälle an, in denen natürliche Zuchtwahl nicht thätig gewesen sein könne. Diesen liessen sich noch die Zahlenverhältnisse der Blüthentheile, die Stellung der Ei'chen, die Form des Samens, wenn diese nicht für die Aussaat von irgend einem Nutzen ist, und noch Anderes hinzufügen.

Der obige Einwand hat viel Gewicht. Nichtsdestoweniger müssen wir aber erstens äusserst vorsichtig sein, ehe wir uns anzugeben entscheiden, welche Gebilde jetzt für eine jede Species von Nutzen sind oder es früher gewesen sind. Zweitens sollten wir uns immer daran erinnern, dass, wenn ein Theil modificiert wird, es auch durch gewisse, nur undeutlich erkannte Ursachen andere Theile werden, so durch vermehrten oder verminderten Nahrungszufluss nach einem Theile hin, durch gegenseitigen Druck, dadurch, dass ein früh entwickelter Theil einen später entwickelten afficiert und dergl. mehr, ebenso aber auch durch andere Ursachen, welche zu den vielen mysteriösen Fällen von Correlation hinleiten, welche wir nicht im Mindesten verstehen. Diese Einflüsse können der Kürze wegen sämmtlich unter dem Ausdrucke der Gesetze des Wachsthums vereinigt werden. Drittens müssen wir dem Antheile der directen und bestimmten Wirkung veränderter Lebensbedingungen[236] Rechnung tragen, wie auch der sogenannten spontanen Abänderungen, bei denen die Natur der Bedingungen dem Anscheine nach eine völlig untergeordnete Rolle spielt. Gute Beispiele von spontanen Abänderungen bieten Knospenvarietäten dar, wie das Auftreten einer Moosrose an einer gewöhnlichen Rose, oder einer Nectarine an einem Pfirsichbaum. Wenn wir uns aber der Wirksamkeit eines minutiösen Tropfen Giftes bei der Bildung complicierter Gallen auswüchse erinnern, so dürfen wir uns in diesen letzten Fällen nicht zu sicher fühlen, dass die obigen Abänderungen nicht die Wirkung irgend welcher localen Veränderung in der Beschaffenheit des Saftes sind, welche wiederum Folge irgend welcher Veränderungen der Lebensbedingungen sind. Für jede unbedeutende individuelle Verschiedenheit muss es ebenso gut wie für stärker ausgeprägte Abänderungen, welche gelegentlich auftreten, irgend eine bewirkende Ursache geben, und wenn die unbekannte Ursache dauernd in Wirksamkeit bleiben sollte, so ist es beinahe gewiss, dass alle Individuen der Species in ähnlicher Weise modificiert werden würden.

In den früheren Auflagen dieses Werkes unterschätzte ich, wie es mir jetzt wahrscheinlich scheint, die Häufigkeit und die Bedeutung der als Folgen spontaner Variabilität auftretenden Modificationen. Es ist aber unmöglich, dieser Ursache die unzähligen Structureinrichtungen zuzuschreiben, welche der Lebensweise jeder Species so gut angepasst sind. Ich kann hieran nicht mehr glauben als daran, dass die so gut angepassten Formen eines Rennpferdes oder eines Windhundes hierdurch erklärt werden können, welche den älteren Naturforschern so viel Überraschung gewährten, ehe das Princip der Zuchtwahl durch den Menschen gehörig verstanden wurde.

Es dürfte sich wohl der Mühe verlohnen, einige der vorstehenden Bemerkungen zu erläutern. In Bezug auf die vermeintliche Nutzlosigkeit verschiedener Theile und Organe ist es kaum nothwendig, zu bemerken, dass selbst bei den höheren und am besten bekannten Thieren viele Gebilde existieren, welche so hoch entwickelt sind, dass Niemand daran zweifelt, dass sie von Bedeutung sind; und doch ist ihr Gebrauch noch nicht, oder erst ganz neuerdings, ermittelt worden. Da BRONN die Länge der Ohren und des Schwanzes in den verschiedenen Arten der Mäuse als Beispiele, wenn auch geringfügige, von Verschiedenheiten anführt, welche von keinem speciellen Nutzen sein können, so will ich doch erwähnen[237] dass nach der Angabe des Dr. SCHÖBL die äusseren Ohren der gemeinen Maus in einer ausserordentlichen Weise mit Nerven versehen sind, so dass sie ohne Zweifel als Tastorgane dienen; es kann daher die Länge der Ohren kaum völlig bedeutungslos sein. Wir werden auch sofort sehen, dass der Schwanz in einigen Species ein sehr nützliches Greiforgan ist; sein Gebrauch würde daher bedeutend durch die Länge beeinflusst werden.

Was die Pflanzen betrifft, auf welche ich mich wegen NÄGELI'S Abhandlung in den folgenden Bemerkungen beschränken werde, so wird man zugeben, dass die Blüthen der Orchideen eine Menge merkwürdiger Structureinrichtungen darbieten, welche vor wenig Jahren für blosse morphologische Verschiedenheiten ohne specielle Function angesehen worden wären; jetzt weiss man aber, dass sie für die Befruchtung der Arten durch Insectenhülfe von der grössten Bedeutung und wahrscheinlich durch natürliche Zuchtwahl erlangt worden sind. Bis vor Kurzem würde Niemand gemeint haben, dass die verschiedenen Längen der Staubfäden und Pistille und deren Anordnung bei dimorphen und trimorphen Pflanzen von irgend welchem Nutzen sein könnten; jetzt wissen wir aber, dass dies der Fall ist.

In gewissen ganzen Pflanzengruppen stehen die Ei'chen aufrecht, in anderen sind sie aufgehängt; und in einigen wenigen Pflanzen nimmt innerhalb eines und desselben Ovarium das eine Ei'chen die erstere, ein zweites die letztere Stellung ein. Diese Stellungen erscheinen auf den ersten Blick rein morphologisch, oder von keiner physiologischen Bedeutung. Dr. HOOKER theilt mir aber mit, dass von den Ei'chen in einem und demselben Ovarium in manchen Fällen nur die oberen und in anderen Fällen nur die unteren befruchtet werden. Er vermuthet, dass dies wahrscheinlich von der Richtung abhängt, in welcher die Pollenschläuche in das Ovarium eintreten. Ist dies der Fall, so würde die Stellung der Ei'chen, selbst wenn das eine aufrecht, das andere aufgehängt ist, eine Folge der Auswahl irgend welcher unbedeutenden Abweichungen in der Stellung sein, welche die Befruchtung und die Samenbildung begünstigten.

Mehrere zu verschiedenen Ordnungen gehörige Pflanzen bringen gewohnheitsgemäss zwei Arten von Blüthen hervor, die einen offen und von gewöhnlichem Bau, die anderen geschlossen und unvollkommen. Diese beiden Arten von Blüthen sind manchmal wunderbar in ihrer Structur verschieden; doch kann man sehen, dass sie[238] an einer und derselben Pflanze gradweise ineinander übergehen. Die gewöhnlichen und offenen Blüthen können gekreuzt werden, und hierdurch werden die Vortheile gesichert, welche diesem Processe gewiss folgen. Die geschlossenen und unvollkommenen Blüthen sind indessen offenbar von grosser Bedeutung, da sie mit äusserster Sicherheit einen grossen Vorrath von Samen liefern mit wunderbar wenig Verbrauch von Pollen. Die beiden Blüthenarten differieren, wie eben erwähnt, häufig bedeutend im Bau. In den unvollkommenen Blüthen sind die Kronenblätter fast immer zu blossen Rudimenten verkümmert, die Pollenkörner sind im Durchmesser reduciert. Fünf der alternierenden Staubfäden sind bei Ononis columnae rudimentär; und bei einigen Arten von Viola sind drei Staubfäden in diesem Zustande, während zwei ihre gewöhnliche Function beibehalten haben, aber von sehr geringer Grösse sind. Unter dreissig solcher geschlossener Blüthen bei einem indischen Veilchen (der Name ist unbekannt, da die Pflanzen bis jetzt bei mir noch keine vollkommene Blüthen hervorgebracht haben) waren bei sechs die Kelchblätter, deren Normalzahl fünf ist, auf drei reduciert. In einer Section der Malpighiaceae werden nach A. DE JUSSIEU die geschlossenen Blüthen noch weiter modificiert; denn die fünf den Kelchblättern gegenüberstehenden Staubfäden sind alle abortiert, und nur ein, einem Kronenblatte gegenüber stehender sechster Staubfaden ist entwickelt. Dieser Staubfaden ist in den gewöhnlichen Blüthen dieser Arten nicht vorhanden. Der Griffel ist abortiert; und die Ovarien sind von drei auf zwei reduciert. Obgleich nun wohl die natürliche Zuchtwahl die Kraft gehabt haben mag, die Entfaltung einiger dieser Blüthen zu verhindern und die Pollenmenge zu reducieren, wenn sie durch den Verschluss der Blüthen überflüssig geworden ist, so kann doch kaum irgend eine der oben erwähnten speciellen Modificationen hierdurch bestimmt worden sein, sondern muss den Gesetzen des Wachsthums, mit Einschluss der functionellen Unthätigkeit einzelner Theile, während des Fortgangs der Reduction des Pollens und des Verschliessens der Blüthe gefolgt sein.

Es ist so nothwendig, die bedeutungsvollen Wirkungen der Gesetze des Wachsthums zu würdigen, dass ich noch einige weitere Fälle einer andern Art hinzufügen will, nämlich von Verschiedenheiten in einem und demselben Theile oder Organ, welche Folgen von Verschiedenheiten in der relativen Stellung an einer und derselben Pflanze sind. Bei der spanischen Kastanie und bei gewissen[239] Kieferbäumen sind nach SCHACHT die Divergenzwinkel der Blätter an den nahezu horizontalen und an den aufrechtstehenden Zweigen verschieden. Bei der gemeinen Raute und einigen anderen Pflanzen öffnet sich zuerst eine Blüthe, gewöhnlich die centrale oder terminale, und hat fünf Kelch- und Kronenblätter und fünf Ovarialfächer, während alle übrigen Blüthen an der Pflanze tetramer sind. Bei der britischen Adoxa hat meist die oberste Blüthe zwei Kelchklappen und die anderen Organe vierzählig, während die umgebenden Blüthen meist drei Kelchklappen und die übrigen Organe pentamer haben. Bei vielen Compositen und Umbelliferen (und bei einigen anderen Pflanzen) haben die randständigen Blüthen viel entwickeltere Corollen als die centralen Blüthen, und dies scheint häufig mit der Abortion der Reproductionsorgane in Zusammenhang zu stehen. Eine noch merkwürdigere Thatsache, welche schon früher angedeutet wurde, ist die, dass die Achenen oder Samen des Randes und des Centrums bedeutend in Form, Farbe und anderen Merkmalen verschieden sind. Bei Carthamus und einigen anderen Compositen sind nur die centralen Achenen mit einem Pappus versehen, und bei Hyoseris liefert ein und derselbe Blüthenkopf drei verschiedene Formen von Achenen. Bei gewissen Umbelliferen sind nach TAUSCH die äusseren Samen orthosperm und die centralen coelosperm; und dies ist eine Verschiedenheit, welche DE CANDOLLE bei anderen Species als von der höchsten systematischen Bedeutung angesehen hat. Prof. BRAUN erwähnt eine Gattung der Fumariaceen, bei welcher die Blüthen im unteren Theile des Blüthenstandes ovale, gerippte, einsamige Nüsschen tragen, im oberen Theile der Inflorescenz dagegen lancettförmige, zweiklappige und zweisamige Schoten. Soweit wir es beurtheilen können, kann in diesen verschiedenen Fällen, ausgenommen die stark entwickelten Randblüthen, welche dadurch von Nutzen sind, dass sie die Blüthen für die Insecten auffallend machen, natürliche Zuchtwahl nicht oder nur in einer völlig untergeordneten Weise in's Spiel gekommen sein. Alle diese Modificationen sind eine Folge der relativen Stellung und der gegenseitigen Wirkung der Theile aufeinander; und es kann kaum bezweifelt werden, dass, wenn alle Blüthen und Blätter einer und derselben Pflanze denselben äusseren und inneren Bedingungen ausgesetzt worden wären, sie auch sämmtlich in derselben Art und Weise modificiert worden sein würden.

In zahlreichen anderen Fällen sehen wir Modificationen der Structur, welche von den Botanikern als allgemein sehr bedeutungsvoll[240] angesehen werden, nur an einigen Blüthen einer und derselben Pflanze oder an verschiedenen Pflanzen auftreten, welche unter denselben Bedingungen dicht beisammen wachsen. Da diese Abänderungen von keinem speciellen Nutzen für die Pflanze zu sein scheinen, können sie nicht von der natürlichen Zuchtwahl beeinflusst worden sein. Über die Ursache befinden wir uns in völliger Unwissenheit; wir können sie nicht einmal, wie in der zuletzt angeführten Classe von Fällen, einer nächstliegenden Ursache, wie der relativen Stellung, zuschreiben.

Ich will nur einige wenige Fälle speciell anführen. Da so häufig Blüthen auf einer und derselben Pflanze beobachtet werden, welche ganz durcheinander tetramer, pentamer u.s.w. sind, so ist es nicht nöthig, erst noch Beispiele anzuführen; da aber numerische Abänderungen in allen Fällen, wo der Theile weniger sind, vergleichsweise selten sind, so möchte ich erwähnen, dass nach DE CANDOLLE die Blüthen von Papaver bracteatum zwei Kelchblätter mit vier Kronenblättern (und dies ist der gewöhnliche Typus beim Mohne) oder drei Kelchblätter mit sechs Kronenblättern darbieten. Die Art, wie die Kronenblätter in der Knospe gefaltet sind, ist in den meisten Gruppen ein sehr constanter und morphologischer Character; Professor ASA GRAY führt aber an, dass bei einigen Arten von Mimulus die Aestivation fast ebenso häufig die der Rhinantideen als die der Antirhinideen ist, zu welch' letzterer Gruppe die Gattung gehört. AUG. ST. HILAIRE führt die folgenden Fälle an: die Gattung Zanthoxylon gehört zu einer Abtheilung der Rutaceen mit einem einzigen Ovarium; aber in einigen Arten kann man Blüthen an einer und derselben Pflanze finden, ja selbst in derselben Rispe, mit entweder einem oder zwei Ovarien. Bei Helianthemum ist die Kapsel als ein- oder dreifächerig beschrieben worden und bei H. mutabile »une lame, plus ou moins large s'étend entre le péricarpe et le placenta«. Auch bei den Blüthen von Saponaria officinalis beobachtete Dr. MASTERS Beispiele sowohl von marginaler als von freier centraler Placentation. Endlich fand ST. HILAIRE nach der südlichen Verbreitungsgrenze der Gomphia oleaeformis zu zwei Formen, von denen er anfangs nicht zweifelte, dass es distincte Arten seien, welche er aber später auf demselben Busch wachsen sah, und fügt dann hinzu: »Voilà donc dans un même individu des loges et un style qui se rattachent tantôt à un axe verticale et tantôt à un gynobase.«

Wir sehen hieraus, dass bei Pflanzen viele morphologische Veränderungen den Gesetzen des Wachsthums und der gegenseitigen[241] Einwirkung der Theile, unabhängig von natürlicher Zuchtwahl, zugeschrieben werden können. Kann man aber, mit Bezug auf NÄ GELI'S Lehre von einer angeborenen Neigung zur Vervollkommnung oder zur progressiven Entwicklung, bei diesen scharf ausgesprochenen Abänderungen sagen, dass sie gerade im Acte des Fortschreitens nach einer höhern Stufe der Entwicklung entdeckt worden sind? Ich würde im Gegentheile aus der blossen Thatsache, dass die in Frage stehenden Theile an einer und derselben Pflanze bedeutend verschieden sind oder variieren, folgern, dass solche Modificationen von äusserst geringer Bedeutung für die Pflanzen selbst sind, von welcher Bedeutung sie auch uns bei unserer Classification sein mögen. Von dem Erlangen eines nutzlosen Theiles kann man kaum sagen, dass es einen Organismus in der natürlichen Stufenleiter erhöhe; und was die oben beschriebenen unvollkommenen geschlossenen Blüthen betrifft, so müsste hier, wenn irgend ein neues Princip zu Hülfe genommen werden sollte, dies vielmehr das eines Rückschrittes sein, als eines Fortschrittes; dasselbe müsste man auch bei vielen parasitischen und degradierten Thieren annehmen. Wir sind in Betreff der erregenden Ursache der oben speciell angegebenen Modificationen völlig unwissend; würde aber die unbekannte Ursache eine Zeit lang beinahe gleichförmig einwirken, dann könnten wir auch schliessen, dass das Resultat beinahe gleichförmig sein würde; und in diesem Falle würden alle Individuen der Species in der nämlichen Weise modificiert werden.

Nach der Thatsache, dass die obigen Charactere für das Wohlbefinden der Species bedeutungslos sind, würden irgend welche unbedeutenden Abänderungen, welche an ihnen vorkämen, nicht durch natürliche Zuchtwahl gehäuft oder vergrössert worden sein. Eine Bildung, welche durch lang andauernde Zuchtwahl entwickelt worden ist, wird, wenn sie aufhört, der Art von Nutzen zu sein, allgemein variabel, wie wir es bei den rudimentären Organen sehen; denn sie wird nun nicht mehr durch diese nämliche Kraft der Zuchtwahl reguliert werden. Sind aber durch die Natur des Organismus und der Bedingungen Modificationen hervorgebracht worden, welche für die Wohlfahrt der Species ohne Bedeutung sind, so können sie in nahezu demselben Zustande zahlreichen, in anderen Beziehungen modificierten Nachkommen überliefert werden und sind auch dem Anscheine nach häufig überliefert worden. Es kann für die grössere Zahl der Säugethiere, Vögel oder Reptilien von keiner grossen Bedeutung gewesen sein, ob sie mit Haaren, Federn oder Schuppen[242] bekleidet waren; und doch sind beinahe allen Säugethieren Haare, allen Vögeln Federn, und allen echten Reptilien Schuppen überliefert worden. Eine Bildung, welche vielen verwandten Formen gemeinsam ist, wird von uns als von hoher systematischer Bedeutung angesehen und wird demzufolge auch oft als von hoher vitaler Wichtigkeit für die Art angenommen. So bin ich zu glauben geneigt, dass morphologische Differenzen, welche wir als bedeutungsvoll betrachten, wie die Anordnung der Blätter, die Abtheilungen der Blüthe oder des Ovarium, die Stellung der Ei'chen u.s.w. zuerst in vielen Fällen als fluctuierende Abänderungen erschienen sind, welche früher oder später durch die Natur des Organismus und der umgebenden Bedingungen, ebenso wie durch die Kreuzung verschiedener Individuen, aber nicht durch die natürliche Zuchtwahl constant geworden sind; denn da diese morphologischen Charactere die Wohlfahrt der Art nicht berühren, so können auch unbedeutende Abänderungen an ihnen nicht von natürlicher Zuchtwahl beeinflusst oder gehäuft worden sein. Es ist ein merkwürdiges Resultat, zu dem wir hiermit gelangen, dass nämlich Charactere von geringer vitaler Bedeutung für die Art dem Systematiker die wichtigsten sind. Wie wir aber später bei Behandlung des genetischen Princips der Classification sehen werden, ist dies durchaus nicht so paradox wie es zuerst erscheint.

Obgleich wir keine sicheren Beweise für die Existenz einer eingebornen Neigung zur progressiven Entwicklung bei organischen Wesen haben, so folgt diese doch, wie ich im vierten Capitel zu zeigen versucht habe, nothwendig der beständigen Thätigkeit der natürlichen Zuchtwahl. Denn die beste Definition, welche jemals von einem hohen Massstabe der Organisation gegeben worden ist, ist die, dass dies der Grad sei, bis zu welchem Theile specialisiert oder verschiedenartig geworden sind. Und die natürliche Zuchtwahl strebt diesem Ziele zu, insofern hierdurch die Theile in den Stand gesetzt werden, ihre Function erfolgreicher zu verrichten.

Ein ausgezeichneter Zoolog, Mr. ST. GEORGE MIVART, hat vor Kurzem alle die Einwände gegen die Theorie der natürlichen Zuchtwahl, wie sie von WALLACE und mir aufgestellt worden ist, zusammengestellt und sie mit viel Geschick und Nachdruck erläutert. In dieser Art vorgeführt bilden sie eine furchteinflössende Heeresmacht; und da es nicht in Mr. MIVART'S Plan lag, die verschiedenen, seinen Schlussfolgerungen entgegenstehenden Thatsachen und Betrachtungen aufzuführen, so wird dem Leser, welcher die für beide[243] Seiten der Frage vorzubringenden Beweise etwa zu erwägen wünscht, keine kleine Anstrengung des Verstandes und Gedächtnisses zugemuthet. Bei der Erörterung specieller Fälle übergeht Mr. MIVART die Wirkungen des vermehrten Gebrauchs und Nichtgebrauchs an Theilen, von welchen ich immer behauptet habe, dass sie sehr bedeutungsvoll seien, und welche ich in meinem Buche über »das Variieren im Zustande der Domestication« in grösserer Ausführlichkeit behandelt habe, als wie ich glaube irgend ein anderer Schriftsteller. Er nimmt auch häufig an, dass ich der Abänderung unabhängig von natürlicher Zuchtwahl nichts zuschreibe, während ich in dem oben angezogenen Werke eine grössere Zahl von sicher begründeten Thatsachen zusammengestellt habe, als in irgend einem andern mir bekannten Werke zu finden ist. Mein Urtheil mag vielleicht nicht zuverlässig sein; aber nachdem ich Mr. MIVART'S Buch sorgfältig durchgelesen und jeden Abschnitt mit dem verglichen hatte, was ich über denselben Gegenstand gesagt habe, fühlte ich mich von der allgemeinen Gültigkeit der Schlussfolgerungen, zu denen ich hier gelangt bin, so sehr überzeugt, wie noch nie zuvor, wenn dieselben auch natürlicherweise bei einem so verwickelten Gegenstande dem Irrthume im Einzelnen sehr ausgesetzt sind.

Alle Einwände Mr. MIVART'S werden in dem vorliegenden Bande betrachtet werden oder sind bereits in Betracht gezogen worden. Der eine neue Satz, welcher viele Leser frappiert zu haben scheint, ist, »dass natürliche Zuchtwahl ungenügend ist, die Anfangsstufen nützlicher Structureinrichtungen zu erklären.« Dieser Gegenstand steht in innigem Zusammenhang mit der Abstufung der Charactere, welche oft von einer Änderung der Function begleitet wird, – z.B. die Umwandlung einer Schwimmblase in Lungen – , Punkte, welche in dem letzten Capitel von zwei Gesichtspunkten aus erörtert wurden. Nichtsdestoweniger will ich hier einige von Mr. MIVART vorgebrachte Fälle in ziemlicher Ausführlichkeit betrachten und dabei die illustrativsten auswählen, da mich der Mangel an Raum abhält, sie alle durchzugehen.

Der ganze Körperbau der Giraffe ist durch deren hohe Statur, den sehr verlängerten Hals, Vorderbeine, Kopf und Zunge wundervoll für das Abweiden hoher Baumzweige angepasst. Sie kann dadurch Nahrung erlangen jenseits der Höhe, bis zu welcher die anderen Ungulaten oder Hufthiere, welche dieselbe Gegend bewohnen, hinaufreichen können; und dies wird während der Zeiten der Hungersnöthe für sie ein grosser Vortheil sein. Das Niata-Rind in SüdAmerica[244] zeigt uns, welchen bedeutenden Unterschied im Erhalten des Lebens eines Thieres geringe Verschiedenheit im Bau während derartiger Zeiten bewirken könne. Diese Rinder können ebensogut wie andere Gras abweiden; aber wegen des Vorspringens des Unterkiefers können sie während der häufig wiederkehrenden Zeiten der Dürre die Zweige der Bäume, Rohr u. s, w., zu welcher Nahrung das gewöhnliche Rind und die Pferde dann getrieben werden, nicht abpflücken; so dass in solchen Zeiten die Niata-Rinder umkommen, wenn sie nicht von ihren Besitzern gefüttert werden. Ehe wir auf Mr. MIVART'S Einwand kommen, wird es zweckmässig sein, noch einmal zu erklären, wie die natürliche Zuchtwahl in allen gewöhnlichen Fällen wirken wird. Der Mensch hat einige seiner Thiere dadurch modificiert, – ohne nothwendig auf specielle Punkte ihres Baues zu achten – , dass er einfach entweder die flüchtigsten Thiere erhalten und zur Zucht benutzt hat, wie bei den Rennpferden und Windhunden, oder dass er von den siegreichen Thieren weiter gezüchtet hat, wie bei den Kampfhühnern. So werden im Naturzustande, als die Giraffe entstand, diejenigen Individuen, welche am höchsten abweiden und in Zeiten der Hungersnöthe im Stande waren, selbst nur einen oder zwei Zoll höher hinauf zu reichen als die anderen, oft erhalten worden sein, denn sie werden die ganze Gegend beim Suchen von Nahrung durchstrichen haben. Dass die Individuen einer und der nämlichen Art häufig unbedeutend in der relativen Länge aller ihrer Theile verschieden sind, lässt sich aus vielen naturgeschichtlichen Werken ersehen, in denen sorgfältige Messungen gegeben sind. Diese geringen proportionalen Verschiedenheiten, welche Folgen der Wachsthums- und Abänderungsgesetze sind, sind für die meisten Species nicht vom mindesten Nutzen oder bedeutungsvoll. Aber bei der Giraffe wird es sich während des Processes ihrer Bildung in Anbetracht ihrer wahrscheinlichen Lebensweise anders verhalten haben; denn diejenigen Individuen, welche irgend einen Theil oder mehrere Theile ihres Körpers etwas mehr als gewöhnlich verlängert hatten, werden allgemein leben geblieben sein. Diese werden sich gekreuzt und Nachkommen hinterlassen haben, welche entweder dieselben körperlichen Eigenthümlichkeiten oder die Neigung, wieder in derselben Art und Weise zu variieren, erbten, während in demselben Punkte weniger begünstigte Individuen dem Aussterben am meisten ausgesetzt waren.

Wir sehen hier, dass es nicht nöthig ist, einzelne Paare zu trennen, wie es der Mensch thut, wenn er eine Rasse methodisch[245] veredelt; die natürliche Zuchtwahl wird alle vorzüglichen Individuen erhalten und damit separieren, ihnen gestatten, sich reichlich zu kreuzen und alle untergeordneteren Individuen zerstören. Dauert dieser Process, welcher genau dem entspricht, was ich beim Menschen unbewusste Zuchtwahl genannt habe, lange Zeit an, ohne Zweifel in einer äussert bedeutungsvollen Weise mit den vererbten Wirkungen des vermehrten Gebrauchs der Theile combiniert, so scheint es mir beinahe sicher zu sein, dass ein gewöhnliches Hufthier in eine Giraffe verwandelt werden könnte.

Gegen diese Folgerung bringt Mr. MIVART zwei Einwendungen vor. Die eine ist, dass er sagt, die vermehrte Körpergrösse würde offenbar eine vergrösserte Nahrungsmenge erfordern, und er hält es für »problematisch, ob die daraus entstehenden Nachtheile nicht in Zeiten, wo die Nahrung knapp ist, die Vortheile mehr als aufwiegen würden.« Da aber die Giraffe factisch in Süd-Africa in grosser Anzahl existiert und da einige der grössten Antilopen der Welt, grösser als ein Ochse, dort äusserst zahlreich sind, warum sollten wir daran zweifeln, dass, soweit die Grösse in Betracht kommt, zwischen inneliegende Abstufungen früher dort existiert haben und wie jetzt schweren Hungerszeiten ausgesetzt gewesen sind? Sicherlich wird die Fähigkeit, auf jeder Stufe der vermehrten Grösse einen Nahrungsvorrath erreichen zu können, welcher von den anderen huftragenden Säugethieren des Landes unberührt gelassen wurde, für die entstehende Giraffe von Vortheil gewesen sein. Auch dürfen wir die Thatsache nicht übersehen, dass vermehrte Körpergrösse als Schutz gegen beinahe alle Raubthiere, mit Ausnahme des Löwen, dienen wird; und gegen dies Thier wird, wie CHAUNCEY WRIGHT bemerkt hat, ihr langer Hals, und zwar je länger je besser, als Wachtthurm dienen. Es ist gerade dieser Ursache wegen, wie Sir S. BAKER bemerkt, dass kein Thier so schwer zu jagen ist wie die Giraffe. Das Thier gebraucht auch seinen langen Hals als Angriffs-und Vertheidigungsmittel, dadurch, dass es seinen mit stumpfartigen Hörnern bewaffneten Kopf heftig herumschwingt. Die Erhaltung einer jeden Species kann selten durch einen einzigen Vortheil bestimmt werden, wohl aber durch eine Vereinigung aller, grosser und kleiner.

Mr. MIVART frägt dann (und dies ist sein zweiter Einwand): wenn natürliche Zuchtwahl so vielvermögend ist und wenn die Fähigkeit, hoch hinauf die Zweige abweiden zu können, ein so grosser Vortheil ist, warum hat da kein anderes huftragendes Säugethier,[246] ausser der Giraffe und in einem geringen Grade dem Kamel, Guanaco und der Macrauchenia, einen langen Hals erhalten? oder ferner, warum hat kein Glied der Gruppe einen langen Rüssel erhalten? In Bezug auf Süd-Africa, welches früher von zahlreichen Heerden der Giraffe bewohnt wurde, ist die Antwort nicht schwer und kann am besten durch ein Beispiel erläutert werden. Auf jeder Wiese in England, auf welcher Bäume wachsen, sehen wir die niedrigen Zweige durch das Abweiden der Pferde oder Rinder bis genau zu gleicher Höhe gestutzt oder eingeebnet; und was für ein Vortheil würde es nun z.B. für Schafe sein, wenn solche da gehalten würden, unbedeutend längere Hälse zu erlangen? Auf jedem Gebiete wird irgend eine Art von Thieren beinahe sicher im Stande sein, ihr Futter höher herab zu holen als andere; und es ist beinahe gleich sicher, dass allein diese eine Art ihren Hals durch natürliche Zuchtwahl und die Wirkungen vermehrten Gebrauchs zu diesem Behufe verlängert erhalten wird. In Süd-Africa muss die Concurrenz um das Abweiden höherer Zweige der Acazien und anderer Bäume zwischen Giraffen und Giraffen und nicht zwischen diesen und anderen huftragenden Säugethieren bestehen.

Warum in anderen Theilen der Welt verschiedene zu dieser nämlichen Ordnung gehörige Thiere nicht entweder einen verlängerten Hals oder einen Rüssel erhalten haben, kann nicht bestimmt beantwortet werden; es ist aber ebenso unverständig, auf eine solche Frage eine bestimmte Antwort zu erwarten, wie auf die, warum irgend ein Ereigniss in der Geschichte der Menschheit sich nicht in einem Lande zugetragen hat, während es sich in einem andern zutrug. In Bezug auf die Bedingungen, welche die Zahlenverhältnisse und die Verbreitung einer jeden Species bestimmen, sind wir unwissend; und wir können nicht einmal vermuthen, was für Structuränderungen vortheilhaft wären, um sie in irgend einem neuen Lande vermehren zu lassen. In einer allgemeinen Art und Weise können wir indessen sehen, dass verschiedene Ursachen die Entwicklung eines langen Halses oder eines Rüssels gehindert haben dürften. Um das Laub der Bäume von einer beträchtlichen Höhe herab erreichen zu können, ist (ohne die Fähigkeit zu klettern, wofür die Hufthiere ganz besonders ungeschickt gebaut sind) eine bedeutend vermehrte Körpergrösse nothwendig; und wir wissen, dass einige Gebiete merkwürdig wenig grosse Säugethiere ernähren, wie z.B. Süd-America, trotzdem es ein so üppiges Land ist, während Süd-Africa deren in einem ganz unvergleichlichen Grade besitzt.[247] Warum sich dies so verhält, wissen wir nicht, auch nicht, warum die späteren Zeiten der Tertiärperiode so viel günstiger für ihre Existenz gewesen sind, als die Jetztzeit. Was auch die Ursachen davon sein mögen, wir können einsehen, dass gewisse Gebiete und Zeiten für die Entwicklung eines so grossen Säugethieres, wie die Giraffe ist, viel günstiger als andere gewesen sein werden.

Damit ein Thier irgend ein Gebilde besonders und in bedeutender Entwicklung erhalte, ist es beinahe unumgänglich nothwendig, dass mehrere andere Theile modificiert und einander angepasst werden. Obgleich jeder Theil des Körpers unbedeutend variiert, so folgt doch daraus nicht, dass die nothwendigen Theile immer in dem richtigen Sinne und in dem richtigen Grade abändern. Bei den verschiedenen Species unserer domesticierten Thiere wissen wir, dass die Theile in einer verschiedenen Weise und in verschiedenem Grade abändern, und dass manche Arten viel variabler sind als andere. Selbst wenn die passenden Varietäten aufträten, folgt daraus noch nicht, dass die natürliche Zuchtwahl auf sie einzuwirken und ein Gebilde hervorzubringen vermöchte, welches für die Species wohlthätig wäre. Wenn z.B. die Zahl der in einer Gegend existierenden Individuen hauptsächlich durch die Zerstörung durch Raubthiere, durch äussere oder innere Parasiten u.s.w. bestimmt wird, wie es häufig der Fall zu sein scheint, dann wird die natürliche Zuchtwahl nur wenig zu thun im Stande sein oder wird bedeutend verzögert werden, wenn sie irgend ein besonderes Organ zur Erlangung der Nahrung modificieren will. Endlich ist die natürliche Zuchtwahl ein langsamer Process und die nämlichen günstigen Bedingungen müssen lange andauern, damit irgend eine ausgesprochene Wirkung hervorgebracht werde. Ausgenommen durch Anführung derartiger allgemeiner und unbestimmter Ursachen können wir nicht erklären, warum nicht Hufthiere in vielen Theilen der Erde einen verlängerten Hals oder andere Mittel die höheren Zweige der Bäume abzuweiden, erhalten haben.

Einwendungen derselben Art wie die vorstehenden sind von vielen Schriftstellern vorgebracht worden. In jedem Falle haben wahrscheinlich ausser den allgemeinen eben angedeuteten verschiedenartige Ursachen das Erlangen von Gebilden durch natürliche Zuchtwahl gestört, welche, wie man glauben könnte, für die Species wohlthätig sein würden. Ein Schriftsteller frägt, warum der Strauss nicht das Flugvermögen erlangt habe? Aber schon ein nur augenblickliches Nachdenken dürfte ergeben, was für eine enorme[248] Nahrungsmenge nothwendig sein würde, diesem Wüstenvogel die Kraft zu geben, seinen ungeheuren Körper durch die Luft zu tragen. Oceanische Inseln werden von Fledermäusen und Robben bewohnt, aber von keinem Landsäugethier: da indessen einige dieser Fledermäuse eigenthümlichen Species angehören, müssen sie ihre jetzige Heimath schon lange bewohnt haben. Sir CHARLES LYELL frägt daher und führt auch gewisse Gründe als Antwort an, warum nicht Robben und Fledermäuse auf solchen Inseln Formen geboren haben, welche auf dem Lande zu leben geschickt wären. Robben würden aber nothwendigerweise zunächst in fleischfressende Landthiere von beträchtlicher Grösse und Fledermäuse in insectenfressende Landthiere umgewandelt werden; für die ersten würde es an Beute fehlen; den Fledermäusen würden auf der Erde lebende Insecten zur Nahrung dienen; diesen würden aber bereits in hohem Grade die Reptilien und Vögel nachstellen, welche zuerst die meisten oceanischen Inseln colonisieren und in Menge bevölkern. Allmähliche Übergänge des Baues, von denen jede Stufe einer sich umändernden Art von Vortheil ist, werden nur unter gewissen eigenthümlichen Bedingungen begünstigt werden. Ein im engeren Sinne terrestrisches Thier könnte dadurch, dass es gelegentlich in seichtem Wasser, dann in Strömen und Seen nach Beute jagt, endlich in ein so durch und durch wasserlebendes Thier verwandelt werden, dass es dem offenen Meere Stand hält. Robben dürften aber auf oceanischen Inseln nicht die für ihre allmähliche Rückverwandlung in die Form eines Landthieres günstigen Bedingungen finden. Wie früher gezeigt wurde, erlangten Fledermäuse ihre Flughäute wahrscheinlich dadurch, dass sie zuerst wie die sogenannten fliegenden Eichhörnchen von Baum zu Baum durch die Luft glitten um ihren Feinden zu entgehen oder um das Herabstürzen zu vermeiden; wenn aber das rechte Flugvermögen einmal erlangt worden ist, so dürfte es wohl niemals, wenigstens für den angegebenen Zweck in das weniger wirksame Vermögen, durch die Luft zu gleiten, zurückverwandelt werden. Es könnten allerdings bei Fledermäusen wie bei vielen Vögeln die Flügel durch Nichtgebrauch bedeutend an Grösse reduciert werden oder auch vollständig verloren gehen; in diesem Falle würde es aber nothwendig sein, dass sie zuerst das Vermögen erlangten, allein mittelst ihrer Hinterbeine schnell auf dem Boden zu laufen, um mit Vögeln oder anderen am Boden lebenden Thieren concurrieren zu können; und für eine derartige Veränderung scheinen die Fledermäuse merkwürdig schlecht angepasst zu sein. Diese[249] muthmasslichen Bemerkungen sind nur zu dem Ende gemacht worden, um zu zeigen, dass ein Übergang von einer Structur einrichtung zur andern, wobei jede Stufe von Vortheil wäre, eine ausserordentlich complicierte Sache ist, und dass darin nichts Befremdendes liegt, dass in irgend einem besondern Falle ein solcher Übergang nicht stattgefunden hat.

Endlich hat mehr als ein Schriftsteller gefragt, warum einige Thiere so viel höher entwickelte Geisteskräfte erhalten haben als andere, da eine derartige Entwicklung allen wohlthätig sein würde? Warum haben Affen nicht die intellectuellen Fähigkeiten des Menschen erlangt? Dies könnte verschiedenen Ursachen zugeschrieben werden; da sie aber nur Muthmassungen enthalten und ihre relative Wahrscheinlichkeit nicht abgewogen werden kann, würde es nutzlos sein, sie anzuführen. Eine bestimmte Antwort auf die letzte Frage sollte man nicht erwarten, wenn man sieht, dass Niemand das noch einfachere Problem lösen kann, warum von zwei Rassen von Wilden die eine auf der Stufenleiter der Civilisation höher gestiegen ist als die andere; und dies setzt allem Anscheine nach eine vermehrte Hirnthätigkeit voraus.

Wir wollen aber auf Mr. MIVART'S andere Einwände zurückkommen. Insecten gleichen häufig des Schutzes wegen verschiedenen Gegenständen, wie grünen oder abgestorbenen Blättern, todten Zweigen, Flechtenstückchen, Blüthen, Dornen, Vogelexcremen ten und anderen lebenden Insecten; auf den letztern Punkt werde ich noch später zurückkommen. Die Ähnlichkeit ist oft wunderbar gross, und nicht auf die Farbe beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die Form und selbst auf die Art und Weise wie sich die Insecten halten. Die Raupen, welche wie todte Zweige von dem Buschwerk abstehen, von dem sie sich ernähren, bieten ein ausgezeichnetes Beispiel einer Ähnlichkeit dieser Art dar. Die Fälle von Nachahmung solcher Gegenstände wie Vogelexeremente sind selten und exceptionell. Über diesen Punkt bemerkt Mr. MIVART: »Da nach Mr. DARWIN'S Theorie eine constante Neigung zu einer unbestimmten Variation vorhanden ist und da die äusserst geringen beginnenden Abänderungen nach allen Richtungen gehen werden, so müssen sie sich zu neutralisieren und anfangs so unstäte Modificationen zu bilden streben, dass es schwierig, wenn nicht unmöglich ist, einzusehen, wie solche unbestimmte Schwankungen infinitesimaler Anfänge jemals eine hinreichend erkennbare Ähnlichkeit[250] mit einem Blatte, einem Bambus oder einem andern Gegenstände zu Stande bringen können, so dass die natürliche Zuchtwahl sie ergreifen und dauernd erhalten kann.«

Aber in allen den vorstehend angeführten Fällen boten die Insecten in ihrem ursprünglichen Zustande ohne Zweifel eine gewisse allgemeine und zufällige Ähnlichkeit mit einem gewöhnlich an den von ihnen bewohnten Standorten zu findenden Gegenstande dar. Auch ist dies durchaus nicht unwahrscheinlich, wenn man die beinahe unendliche Zahl umgebender Gegenstände und die Verschiedenartigkeit der Form und Farbe bei den Mengen von Insecten, welche existieren, in Betracht zieht. Da eine gewisse oberflächliche Ähnlichkeit als ein erster Ausgangspunkt nothwendig ist, so können wir einsehen, woher es kommt, dass die grösseren und höheren Thiere, soweit es mir bekannt ist, nur mit der Ausnahme eines Fisches, des Schutzes wegen speciellen Objecten nicht ähnlich sehen, sondern nur der Fläche, welche sie gewöhnlich umgibt, und dies dann hauptsächlich in der Farbe. Wenn man annimmt, dass ein Insect zufällig ursprünglich in irgend einem Grade einem abgestorbenen Zweige oder einem vertrockneten Blatte ähnlich war, und dass es unbedeutend nach vielen Richtungen hin variierte, dann werden alle die Abänderungen, welche das Insect überhaupt nur solchen Gegenständen ähnlicher machten und dadurch sein Verbergen begünstigten, erhalten werden, während andere Änderungen vernachlässigt und schliesslich verloren sein werden; oder sie werden, wenn sie das Insect überhaupt nur dem nachgeahmten Gegenstande weniger ähnlich machen, beseitigt werden. Mr. MIVART'S Einwand würde allerdings von Belang sein, wenn wir die angeführten Ähnlichkeiten unabhängig von natürlicher Zuchtwahl durch blosse fluctuierende Abänderung zu erklären versuchen wollten; wie aber die Sache wirklich steht, ist er von keinem Belang.

Ich kann auch nicht sehen, dass Mr. MIVART'S Schwierigkeit in Bezug auf »die letzten Züge der Vollkommenheit bei der Mimicrie« Gewicht beizulegen wäre; wie z.B. in dem von Mr. WALLACE angeführten Fall eines »wandelnden Stabinsectes (Ceroxylus laceratus), welches einem mit kriechendem Moos oder Jungermannien überwachsenen Stabe« gleicht. Diese Ähnlichkeit war so gross, dass ein eingeborener Dyak behauptete, die blättrigen Auswüchse wären wirklich Moos. Insecten wird von Vögeln und anderen Feinden nachgestellt, deren Gesicht wahrscheinlich schärfer als unseres ist, und jede Abstufung der Ähnlichkeit, welche das Insect[251] darin unterstützt, der Betrachtung oder Entdeckung zu entgehen, wird seine Erhaltung zu fördern dienen, und je vollkommener die Ähnlichkeit ist, um so besser ist es für das Insect. Betrachtet man die Natur der Verschiedenheiten zwischen den Species der Gruppe, welche den obigen Ceroxylus einschliesst, so findet man nichts Unwahrscheinliches darin, dass dies Insect in den Unregelmässigkeiten an seiner Oberfläche abgeändert hat und dass diese mehr oder weniger grün gefärbt wurden; denn in einer jeden Gruppe sind diejenigen Charactere, welche in den verschiedenen Species verschieden sind, am meisten zum Abändern geneigt, während die generischen Charactere, oder diejenigen, welche sämmtlichen Arten gemeinsam zukommen, die constantesten sind.

Der Grönland-Wal ist eines der wunderbarsten Thiere auf der Welt, und die Barten oder das Fischbein stellen eine seiner grössten Eigenthümlichkeiten dar. Das Fischbein besteht auf jeder Seite des Oberkiefers aus einer Reihe von ungefähr dreihundert Platten oder Barten, welche quer zu der Längsachse des Mundes dicht hintereinander stehen. Innerhalb der Hauptreihe liegen einige secundäre Reihen. Die unteren Enden und die inneren Ränder sämmtlicher Barten sind in steife Borsten aufgelöst, welche den ganzen riesigen Gaumen bedecken und dazu dienen, das Wasser zu seihen oder zu filtrieren, um dadurch die kleinen Beutethierchen zu fangen, von denen das grosse Thier lebt. Die mittelste und längste Lamelle oder Barte ist beim Grönland-Wal zehn, zwölf oder selbst fünfzehn Fuss lang. Bei den verschiedenen Arten der Walfische finden sich indessen Abstufungen in der Länge; nach SCORESBY ist die mittlere Lamelle bei einer Species einen Fuss, bei einer andern drei Fuss, bei einer dritten achtzehn Zoll und bei der Balaenoptera rostrata nur ungefähr neun Zoll lang. Auch ist die Beschaffenheit des Fischbeins bei den verschiedenen Species verschieden.

In Bezug auf das Fischbein bemerkt Mr. MIVART, »dass, wenn es einmal eine solche Grösse und Entwicklung erreicht hätte, dass es überhaupt von Nutzen wäre, dann seine Erhaltung und Vergrösserung innerhalb der nützlichen Grenzen von der natürlichen Zuchtwahl befördert werden würde. Wie lässt sich aber der Anfang einer solchen nutzbaren Entwicklung erlangen?« In Antwort hierauf kann gefragt werden, warum könnten nicht die früheren Urerzeuger der Bartenwalfische einen Mund besessen haben, dessen Einrichtung in etwas der ähnlich gewesen wäre, wie sie der lamellentragende[252] Schnabel einer Ente darbietet? Enten ernähren sich wie Walfische in der Art, dass sie das Wasser oder den Schlamm durchseihen, und die Familie der Enten ist hiernach zuweilen die der Criblatores oder Seiher genannt worden. Ich hoffe, dass man mir hier nicht fälschlich nachsagt, dass ich meinte, die Urerzeuger der Bartenwalfische hätten factisch lamellierte Mundränder wie ein Entenschnabel besessen. Ich wünschte nur zu zeigen, dass dies nicht unglaublich ist, und dass die ungeheuren Fischbeinplatten beim Grönland-Wal sich aus solchen Lamellen durch ganz allmählich abgestufte Zustände, von denen jede seinem Besitzer von Nutzen war, entwickelt haben können.

Der Schnabel der Löffel-Ente (Spatula clypeata) ist ein noch wundervolleres und complicierteres Gebilde, als der Mund eines Walfisches. Der Oberkiefer ist auf jeder Seite (in dem von mir untersuchten Exemplar) mit einer kammartigen Reihe von 188 dünnen, elastischen Lamellen versehen, welche schräg so abgestutzt sind, dass sie zugespitzt enden, und quer auf die Längsachse des Schnabels stehen. Sie entspringen vom Gaumen und sind durch biegsame Membranen an die Seite des Kiefers befestigt. Diejenigen, welche nach der Mitte zu stehen, sind die längsten, nämlich ungefähr ein Drittel Zoll lang und springen 0,14 Zoll unter dem Rande vor. An ihrer Basis findet sich eine kurze Reservereihe schräg querstehender Lamellen. In diesen verschiedenen Beziehungen gleichen sie den Fischbeinplatten im Munde eines Walfisches. Aber nach dem Schnabelende hin werden sie bedeutend verschieden, indem sie hier nach innen vorspringen, anstatt gerade nach unten gerichtet zu sein. Der ganze Kopf der Löffel-Ente, obschon unvergleichlich weniger massig, hat ungefähr ein Achtzehntel der Länge des Kopfes einer mässig grossen Balaenoptera rostrata, bei welcher Species das Fischbein nur neun Zoll lang ist, so dass, wenn man den Kopf der Löffel-Ente so gross machen könnte wie der der Balaenoptera ist, die Lamellen sechs Zoll Länge erreichen würden, d.i. also zwei Drittel der Bartenlänge in dieser Walfischart. Die untere Kinnlade der Löffel-Ente ist mit Lamellen von gleicher Länge wie die oberen, aber feineren, versehen; und durch diesen Besitz von Platten weicht sie auffallend vom Unterkiefer eines Walfisches ab, welcher kein Fischbein besitzt. Andererseits sind aber die Enden dieser unteren Lamellen in feine borstige Spitzen ausgezogen, so dass sie den Fischbeinbarten merkwürdig ähnlich sind. In der Gattung Prion, einem Gliede der von den Enten verschiedenen Familie der[253] Sturmvögel, ist der Oberkiefer allein mit Lamellen versehen, welche gut entwickelt sind und unter dem Rande vorspringen; in dieser Hinsicht gleicht also der Schnabel dieses Vogels dem Munde eines Walfisches.

Von der hoch entwickelten Structureigenthümlichkeit des Schnabels der Löffel-Ente können wir (wie ich durch Untersuchung von Exemplaren gelernt habe, die mir Mr. SALVIN gesandt hat), ohne eine grosse Unterbrechung der Reihe, soweit die zweckmässige Einrichtung zum Durchseihen in Betracht kommt, zu dem Schnabel der Merganetta armata und in gewisser Beziehung zu dem der Aix sponsa und von dieser zu dem Schnabel der gemeinen Ente kommen. In dieser letztern Art sind die Lamellen viel grösser als bei der Löffel-Ente und fest an die Seiten des Kiefers geheftet; es sind davon nur ungefähr 50 auf jeder Seite vorhanden und sie springen durchaus nicht unterhalb des Kieferrandes vor. Sie sind oben quer abgestutzt und mit durchscheinendem härtlichem Gewebe bedeckt, wie zum Zermalmen der Nahrung. Die Ränder der Unterkinnladen werden von zahlreichen feinen Leisten gekreuzt, welche sehr wenig vorspringen. Obgleich hiernach der Schnabel als Seihe-Apparat sehr dem der Löffel-Ente nachsteht, so gebraucht doch dieser Vogel, wie Jedermann weiss, den Schnabel beständig zu diesem Zwecke. Wie ich von Mr. SALVIN erfahre, gibt es andere Species, bei denen die Lamellen beträchtlich weniger entwickelt sind, als bei der gemeinen Ente; ich weiss aber nicht, ob auch diese den Schnabel zum Seihen des Wassers benutzen.

Wenden wir uns zu einer andern Gruppe derselben Familie. Bei der ägyptischen Gans (Chenalopex) gleicht der Schnabel sehr nahe dem der gemeinen Ente; die Lamellen sind aber nicht so zahlreich und nicht so distinct von einander, auch springen sie nicht so weit nach innen vor. Und doch benutzt diese Ente, wie mir Mr. BARTLETT mitgetheilt hat, »ihren Schnabel wie eine Ente, indem sie das Wasser durch die Ränder auswirft.« Ihre hauptsächlichste Nahrung ist indessen Gras, welches sie wie die gemeine Gans abpflückt. Bei diesem letztern Vogel sind die Lamellen des Oberkiefers viel gröber als bei der gemeinen Ente, beinahe zusammenfliessend, ungefähr 27 an Zahl auf jeder Seite, und enden nach oben in zahnarti gen Knöpfen. Auch der Gaumen ist mit harten, abgerundeten Vorsprüngen bedeckt. Die Ränder der Unterkinnlade sind mit viel vorspringenderen, gröberen und schärferen Zähnen als bei der Ente sägenartig besetzt. Die gemeine Gans[254] seiht das Wasser nicht, sondern braucht ihren Schnabel ausschliesslich dazu, Kräuter zu zerreissen oder zu schneiden, für welchen Gebrauch er so gut eingerichtet ist, dass sie kürzeres Gras als fast irgend ein anderes Thier pflücken kann. Wie ich von Mr. BARTLETT höre, gibt es auch Gänse, bei denen die Lamellen noch weniger entwickelt sind als bei der gemeinen Gans.

Wir sehen hieraus, dass ein zu der Entenfamilie gehöriger Vogel mit einem wie der der gemeinen Gans gebauten und nur für das Grasen eingerichteten Schnabel oder selbst ein Vogel mit einem Schnabel, der noch weniger entwickelte Lamellen hat, durch langsame Abänderungen in eine Art wie die ägyptische Gans, diese in eine wie die gemeine Ente, und endlich in eine wie die Löffel-Ente verwandelt werden könnte, welche mit einem beinahe ausschliesslich zum Durchseihen des Wassers eingerichtetem Schnabel versehen ist; denn dieser Vogel kann kaum irgend einen Theil seines Schnabels, mit Ausnahme der hakigen Spitze, zum Ergreifen und Zerreissen fester Nahrung gebrauchen. Der Schnabel einer Gans könnte auch, wie ich noch hinzufügen will, durch kleine Abänderungen in einen mit vorspringenden, rückwärts gekrümmten Zähnen versehenen verwandelt werden, wie der des Merganser (einem Vogel derselben Familie), welcher dem weit von jenem verschiedenen Zwecke dient, lebendige Fische zu fangen.

Doch kehren wir zu den Walfischen zurück. Der Hyperoodon bidens hat keine echten Zähne in einem functionsfähigen Zustande, aber sein Gaumen ist nach LACÉPÈDE durch den Besitz kleiner ungleicher harter Hornpunkte rauh geworden. Es liegt daher in der Annahme nichts Unwahrscheinliches, dass irgend eine frühe Cetaceenform mit ähnlichen Hornpunkten am Gaumen versehen war, welche aber regelmässiger gestellt waren und wie die Höcker am Schnabel der Gans dem Thiere halfen, seine Nahrung zu ergreifen und zu zerreissen. War dies der Fall, so wird man kaum läugnen können, dass die Punkte durch Abänderung und natürliche Zuchtwahl in ebenso wohl entwickelte Lamellen verwandelt werden konnten, wie die der ägyptischen Gans, in welchem Falle sie dann beiden Zwecken dienten, sowohl dem Ergreifen der Nahrung als dem Durchseihen des Wassers, dann in Lamellen wie die der gemeinen Ente, und so immer weiter, bis sie so gut gebildet waren, wie die der Löffel-Ente, in welchem Falle sie ausschliesslich als Apparat zum Filtrieren des Wassers gedient haben werden. Von dieser Stufe, auf welcher die Lamellen im Verhältnis zur Kopflänge[255] zwei Drittel der Länge der Fischbeinplatten von Balaenoptera rostrata hatten, führen uns dann Abstufungen, welche man in noch jetzt lebenden Cetaceen beobachten kann, zu den enormen Fischbeinplatten beim Grönland-Wale. Es liegt auch hier nicht der geringste Grund zu zweifeln vor, dass jeder Fortschritt in dieser Stufenreihe gewissen alten Cetaceen ebenso nutzbar gewesen sein könne, wo die Functionen der Theile sich während des Fortschritts der Entwicklung langsam änderten, wie es die Abstufungen im Bau der Schnäbel bei den verschiedenen jetzt lebenden Vögeln aus der Familie der Enten sind. Wir müssen uns daran erinnern, dass jede Entenspecies einem harten Kampf um's Dasein ausgesetzt ist, und dass der Bau eines jeden Körpertheils ihren Lebensbedingungen angepasst sein muss.

Die Pleuronectiden oder Plattfische sind merkwürdig wegen ihrer unsymmetrischen Körper. Sie liegen in der Ruhe auf einer Seite, – die grössere Zahl der Species auf der linken, einige dagegen auf der rechten; und gelegentlich kommen erwachsene Exemplare mit einer umgekehrten Asymmetrie vor. Die untere Fläche, auf der der Fisch liegt, gleicht auf den ersten Blick der Bauchfläche eines gewöhnlichen Fisches; sie ist von weisser Farbe, in vielen Beziehungen weniger entwickelt als die obere Seite, die seitlichen Flossen sind häufig von geringerer Grösse. Aber die Augen bieten die merkwürdigste Eigenthümlichkeit dar; denn beide befinden sich auf der obern Seite des Kopfes. Während der frühen Jugend indessen stehen sie einander gegenüber und der ganze Körper ist in dieser Zeit noch symmetrisch, auch sind beide Seiten gleich gefärbt. Bald aber beginnt das der untern Seite angehörende Auge langsam um den Kopf herum auf die obere Seite zu gleiten, tritt indessen dabei nicht direct quer durch den Schädel, wie man früher glaubte, dass es der Fall wäre. Es ist nun ganz offenbar, dass, wenn das untere Auge nicht in dieser Art herumwanderte, es von dem in seiner gewöhnlichen Stellung auf der einen Seite liegenden Fische gar nicht benutzt werden könnte. Auch würde das untere Auge sehr leicht von dem sandigen Boden durch Reiben verletzt werden. Dass die Pleuronectiden durch ihren abgeplatteten und unsymmetrischen Körperbau ihrer Lebensweise wunderbar gut angepasst sind, zeigt sich offenbar dadurch, dass mehrere Species, wie die Solen, Seezungen, Flundern u.s.w. äusserst gemein sind. Die hauptsächlichsten hierdurch erlangten Vortheile scheinen einmal[256] der Schutz vor ihren Feinden und dann die Leichtigkeit der Ernährung auf dem Meeresgrunde zu sein. Die verschiedenen Glieder der Familie bieten indessen, wie SCHIÖDTE bemerkt, »eine lange Reihe von Formen dar mit einem allmählichen Übergange von Hippoglossus pinguis, welcher in keinem irgendwie beträchtlichen Grade die Gestalt ändert, in welcher er die Eihüllen verlässt, zu den Seezungen, welche vollkommen auf eine Seite umgeworfen sind.«

Mr. MIVART hat diesen Fall aufgenommen und bemerkt, dass eine plötzliche spontane Umwandlung in der Stellung der Augen kaum denkbar ist, worin ich vollständig mit ihm übereinstimme. Er fügt dann hinzu: »wenn das Hinüberwandern stufenweise erfolgte, dann ist es durchaus nicht klar, wie ein solches Wandern des einen Auges um einen äusserst geringen Bruchtheil der ganzen Entfernung bis zur andern Seite des Kopfes für das Individuum wohlthätig sein konnte. Es scheint selbst, als müsse eine derartige beginnende Umwandlung eher schädlich gewesen sein.« Er hätte aber eine Antwort auf diesen Einwand in den ausgezeichneten, im Jahre 1867 veröffentlichten Beobachtungen von MALM finden können. Die Pleuronectiden oder Schollen können, solange sie sehr jung und noch symmetrisch sind, wo ihre Augen noch auf den gegenüberliegenden Seiten des Kopfes stehen, eine senkrechte Stellung nicht lange beibehalten, und zwar in Folge der excessiven Höhe ihres Körpers, der geringen Grösse ihrer paarigen Flossen und wegen des Umstandes, dass ihnen eine Schwimmblase fehlt. Sie werden daher sehr bald müde und fallen auf die eine Seite zu Boden. Während sie so ruhig daliegen, drehen sie häufig, wie MALM beobachtete, das untere Auge aufwärts, um über sich zu sehen, und sie thun dies so kräftig, dass das Auge scharf gegen den obern Augenhöhlenrand gedrückt wird. Die Stirn zwischen den Augen wird in Folge dessen, wie deutlich gesehen werden konnte, zeitweise der Breite nach zusammengezogen. Bei einer Gelegenheit sah MALM einen jungen Fisch das untere Auge durch einen Winkelabstand von ungefähr siebzig Grad heben und senken.

Wir müssen uns daran erinnern, dass der Schädel in diesem frühen Alter knorplig und biegsam ist, so dass er der Muskelanstrengung leicht nachgibt. Es ist auch von höheren Thieren bekannt, dass der Schädel selbst nach der Zeit der frühesten Jugend nachgibt und in seiner Form geändert wird, wenn die Haut oder die Muskeln durch Krankheit oder irgend einen Zufall permanent[257] zusammengezogen werden. Bei langohrigen Kaninchen zieht, wenn das eine Ohr nach vorn und unten herabhängt, das Gewicht desselben alle Knochen des Schädels auf dieselbe Seite, wovon ich eine Abbildung gegeben habe. MALM führt an, dass die eben ausgeschlüpften Jungen von Barschen, Lachsen und anderen symmetrischen Fischen die Gewohnheit haben, gelegentlich am Boden auf der einen Seite auszuruhen; auch hat er beobachtet, dass sie dann häufig ihre unteren Augen anstrengen, um nach oben zu sehen, und hierdurch werden ihre Schädel leicht gekrümmt. Diese Fische sind indessen bald im Stande, sich in einer senkrechten Stellung zu erhalten; es wird daher keine dauernde Wirkung hervorgebracht. Die Pleuronectiden dagegen liegen, je älter sie werden, in Folge der zunehmenden Plattheit ihrer Körper, desto gewöhnlicher auf der einen Seite, und dadurch wird eine dauernde Wirkung auf die Form des Kopfes und auf die Stellung der Augen hervorgebracht. Nach Analogie zu schliessen wird ohne Zweifel die Neigung zur Verdrehung durch das Princip der Vererbung vergrössert werden. SCHIÖDTE glaubt, im Gegensatz zu einigen Forschern, dass die Pleuronectiden selbst im Embryonalzustande nicht vollkommen symmetrisch sind; und wenn dies der Fall ist, so können wir einsehen, woher es kommt, dass gewisse Species, während sie jung sind, beständig auf die linke Seite herum fallen und auf dieser ruhen, andere Arten auf die rechte Seite. MALM fügt als Bestätigung der obenangeführten Ansicht hinzu, dass der erwachsene Trachypterus acticus, welcher nicht zu der Familie der Pleuronectiden gehört, am Boden auf seiner linken Seite ruht und diagonal durch's Wasser schwimmt, und bei diesem Fische sind, wie angegeben wird, die beiden Seiten des Kopfes etwas unähnlich. Unsere grosse Autorität in Fischen, Dr. GÜNTHER, schliesst seinen Auszug aus MALM'S Aufsatz mit der Bemerkung, dass »der Verfasser eine sehr einfache Erklärung des abnormen Zustandes der Pleuronectiden gibt«.

Wir sehen hieraus, dass die ersten Stufen des Hinüberwanderns des Auges von der einen Seite des Kopfes zur andern, von denen Mr. MIVART meint, dass sie schädlich sein dürften, der ohne Zweifel für das Individuum wie für die Species wohlthätigen Angewöhnung zugeschrieben werden können, zu versuchen, mit beiden Augen nach oben zu sehen, während der Fisch mit der einen Seite am Boden liegt. Wir können auch den vererbten Wirkungen des Gebrauchs die Thatsache zuschreiben, dass bei mehreren Arten von Plattfischen der Mund nach der untern Fläche gebogen ist, wobei die Kieferknochen[258] auf dieser, der augenlosen Seite des Kopfes stärker und wirkungskräftiger sind, als auf der andern, damit, wie Dr. TRAQUAIR vemuthet, der Fisch mit Leichtigkeit am Boden Nahrung aufnehmen könne. Auf der andern Seite wird Nichtgebrauch den geringer entwickelten Zustand der ganzen untern Hälfte des Körpers, mit Einschluss der paarigen Flossen, erklären; doch glaubt YARRELL, dass die reducierte Grösse dieser Flossen für den Fisch vortheilhaft sei, da »so viel weniger Platz für ihre Thätigkeit vorhanden ist, als für die grösseren oberen Flossen«. Vielleicht kann die geringere Zahl von Zähnen in der nach oben liegenden Hälfte der bei den Kieferknochen, nämlich vier bis sieben gegen fünfundzwanzig bis dreissig in der untern, bei der Scholle gleichfalls durch Nichtgebrauch erklärt werden. Aus dem farblosen Zustande der Bauchfläche der meisten Fische und vieler anderen Thiere können wir wohl richtig schliessen, dass das Fehlen der Farbe an derjenigen Seite, mag dies die rechte oder die linke sein, welche nach unten liegt, Folge des Ausschlusses des Lichtes ist. Man kann aber nicht annehmen, dass das eigenthümlich gefleckte Ansehen der obern Seite der Seezunge, welches dem sandigen Grunde des Meeres so sehr ähnlich ist, oder das einigen Species eigene Vermögen, ihre Farbe, wie neuerdings POUCHET gezeigt hat, in Übereinstimmung mit der umgebenden Fläche zu verändern, oder die Anwesenheit von knöchernen Höckern an der obern Seite des Steinbutts Folge der Einwirkung des Lichtes sind. Hier ist wahrscheinlich natürliche Zuchtwahl in's Spiel gekommen, ebenso wie beim Anpassen der allgemeinen Körpergestalt und vieler anderer Eigenthümlichkeiten dieser Fische an ihre Lebensweise. Wir müssen, wie ich schon vorhin betont habe, im Auge behalten, dass die vererbten Wirkungen des vermehrten Gebrauchs der Theile und vielleicht auch ihres Nichtgebrauchs durch die natürliche Zuchtwahl verstärkt werden. Denn alle spontanen Abänderungen in der passenden Richtung werden hierdurch erhalten werden, wie es auch diejenigen Individuen werden, welche im höchsten Grade die Wirkungen des vermehrten und wohlthätigen Gebrauchs irgend eines Theiles erben. Zu entscheiden, wie viel in jedem einzelnen besondern Falle den Wirkungen des Gebrauchs und wie viel der natürlichen Zuchtwahl zugeschrieben werden muss, scheint unmöglich zu sein.

Ich will noch ein anderes Beispiel einer Structureinrichtung anführen, welche ihren Ursprung allem Anschein nach ausschliesslich dem Gebrauch oder der Gewohnheit verdankt. Das Ende des[259] Schwanzes ist bei einigen americanischen Affen in ein wunderbar vollkommenes Greiforgan verwandelt worden und dient als eine fünfte Hand. Ein Kritiker, welcher mit Mr. MIVART in jeder Einzelnheit übereinstimmt, bemerkt über dies Gebilde: »Es ist unmöglich, zu glauben, dass in irgend einer noch so grossen Anzahl von Jahren die erste unbedeutend auftretende Neigung zum Erfassen das Leben der damit versehenen Individuen erhalten oder die Wahrscheinlichkeit, dass diese nun Nachkommen erzeugen und aufziehen, vergrössern könne.« Für einen solchen Glauben ist aber keine Notwendigkeit vorhanden. Gewohnheit (und diese setzt fast voraus, dass irgend eine Wohlthat, gross oder klein, aus ihr hergeleitet wird) genügt aller Wahrscheinlichkeit nach für die Aufgabe. BREHM Sah die Jungen eines africanischen Affen (Cercopithecus) sich an der untern Körperfläche ihrer Mutter mit den Händen festhalten; gleichzeitig schlangen sie aber ihre kleinen Schwänze um den ihrer Mutter. Professor HENSLOW hielt einige Saatmäuse (Mus messorius) in Gefangenschaft, welche keinen, seinem Bau nach prehensilen Schwanz besitzen; aber er beobachtete häufig, dass sie ihre Schwänze um die Zweige eines Busches schlangen, den man in ihren Käfig gestellt hatte, und sich damit beim Klettern halfen. Einen analogen Bericht habe ich auch von Dr. GÜNTHER erhalten, welcher gesehen hat, wie sich eine Maus an dem Schwanze aufhieng. Wäre die Saatmaus in strengerem Sinne baumlebend, so würde vielleicht ihr Schwanz seinem Baue nach prehensil gemacht worden sein, wie es bei einigen zu derselben Ordnung gehörigen Thieren der Fall ist. Warum der Cercopithecus nicht mit dieser Einrichtung versehen worden ist, da er doch im jugendlichen Alter die obige Gewohnheit zeigt, dürfte schwer zu sagen sein. Es ist indessen möglich, dass der lange Schwanz dieses Affen ihm bei Ausführung seiner ungeheuren Sprünge von grösserem Nutzen als Balancierorgan denn als Greiforgan ist.

Die Milchdrüsen sind der ganzen Classe der Säugethiere eigen und für ihre Existenz unentbehrlich; sie müssen sich daher zu einer äusserst frühen Zeit entwickelt haben, und über die Art und Weise ihrer Entwicklung können wir nichts Positives wissen. Mr. MIVART fragt: »Ist es wohl zu begreifen, dass das Junge irgend eines Thieres vor Zerstörung geschützt wurde, dadurch, dass es zufällig einen Tropfen einer wohl kaum nahrhaften Flüssigkeit aus einer zufällig hypertrophierten Hautdrüse seiner Mutter sog? Und selbst wenn dies einmal der Fall gewesen ist, welche Wahrscheinlichkeit lag da[260] vor für die dauernde Erhaltung einer derartigen Abänderung?« Der Fall ist aber hier nicht richtig dargestellt. Die meisten Anhänger der Evolutionslehre geben zu, dass die Säugethiere von einer Beutelthierform abstammen; und ist dies der Fall, dann werden die Milchdrüsen zuerst innerhalb des marsupialen Beutels entwickelt worden sein. Bei Fischen kommt der Fall vor (Hippocampus), dass die Eier in einer Tasche dieser Art ausgebrütet und die Jungen eine Zeit lang darin aufgezogen werden; auch glaubt ein americanischer Naturforscher, Mr. LOCKWOOD, nach dem, was er von der Entwicklung der Jungen gesehen hat, dass dieselben mit einer Absonderung der Hautdrüsen der Tasche ernährt werden. Ist es nun wohl in Bezug auf die frühen Urerzeuger der Säugethiere, fast noch vor der Zeit, wo sie als solche bezeichnet zu werden verdienten, nicht wenigstens möglich, dass die Jungen auf eine ähnliche Weise ernährt wurden? Und in diesem Falle werden diejenigen Individuen, welche die in einem gewissen Grade oder in irgend einer Art und Weise nahrhafteste Flüssigkeit, so dass sie die Beschaffenheit der Milch nahebei erhielt, absonderten, in der Länge der Zeit eine grössere Zahl gut ernährter Nachkommen aufgezogen haben, als diejenigen Individuen, welche eine ärmere Flüssigkeit absonderten; und hierdurch werden die Hautdrüsen, welche die Homologa der Milchdrüsen sind, weiter entwickelt und functionsfähiger gemacht worden sein. Es stimmt mit dem weit verbreiteten Principe der Specialisation überein, dass die Drüsen auf einem bestimmten Stück der innern Oberfläche der Tasche höher entwickelt werden würden, als die übrigen, und dann würden sie eine Brustdrüse, vorläufig aber noch ohne Zitze dargestellt haben, wie wir es jetzt noch beim Ornithorhynchus, dem untersten Gliede der Säugethierreihe, sehen. In Folge welcher Kraft die Drüsen auf einem bestimmten Oberflächentheile höher specialisiert wurden als die übrigen, will ich mir nicht zu entscheiden anmassen, ob zum Theil durch Compensation des Wachsthums, oder durch die Wirkungen des Gebrauchs oder durch natürliche Zuchtwahl.

Die Entwicklung der Milchdrüsen würde von keinem Nutzen gewesen sein und hätte nicht durch natürliche Zuchtwahl bewirkt werden können, wenn nicht in derselben Zeit die Jungen fähig geworden wären, die Absonderung aufzunehmen. Einzusehen, wie junge Säugethiere instinctiv gelernt haben, an der Brust zu saugen, bietet keine grössere Schwierigkeit dar, als einzusehen, woher die noch nicht ausgekrochenen Küchel es gelernt haben, die Eischalen durch[261] das Klopfen mit ihrem speciell dazu angepassten Schnabel zu durchbrechen, oder woher sie gelernt haben, wenig Stunden nach dem Verlassen der Eischale Körner zur Nahrung aufzupicken. In solchen Fällen scheint die wahrscheinlichste Lösung die zu sein, dass die Gewohnheit zuerst durch Übung auf einer spätern Altersstufe erlangt und später in einem frühern Alter auf die Nachkommen vererbt worden ist. Man sagt aber, das junge Känguruh sauge nicht, sondern hänge an der Zitze seiner Mutter, welche das Vermögen habe, Milch in den Mund ihrer hülflosen, halbausgebildeten Nachkommen einzuspritzen. Über diesen Punkt bemerkt Mr. MIVART: »Wenn keine besondere Vorrichtung bestände, so müsste das Junge unfehlbar durch das Einströmen von Milch in die Luftröhre ersticken. Aber eine solche specielle Vorrichtung besteht. Der Kehlkopf ist so verlängert, dass er bis in das hintere Ende des Nasengangs hinaufreicht; hierdurch wird er in den Stand gesetzt, die Luft frei in die Lungen eintreten zu lassen, während die Milch, ohne zu schaden, auf beiden Seiten dieses verlängerten Kehlkopfs hinabläuft und so wohlbehalten den dahinter gelegenen Schlund erreicht.« Mr. MI VART frägt dann, auf welche Weise die natürliche Zuchtwahl im erwachsenen Känguruh (und in den meisten anderen Säugethieren, nach der Annahme nämlich, dass sie von einer marsupialen Form abgestammt sind) »diese zum mindesten vollkommen unschuldige und unschädliche Structureigenthümlichkeit« beseitige. Man kann wohl in Beantwortung hierauf vermuthen, dass die Stimme, welche sicherlich für viele Thiere von grosser Bedeutung ist, kaum mit voller Kraft hätte benutzt werden können, solange der Kehlkopf in den Nasengang eintrat; auch hat Professor FLOWER gegen mich die Vermuthung geäussert, dass dieser Bau das Thier bedeutend daran gehindert haben würde, feste Nahrung zu verschlingen.

Wir wollen uns nun für eine kurze Zeit zu den niederen Abtheilungen des Thierreichs wenden. Die Echinodermen (Seesterne, Seeigel u.s.w.) sind mit merkwürdigen Organen versehen, den sogenannten Pedicellarien, welche, wenn sie ordentlich entwickelt sind, aus einer dreiarmigen Zange bestehen, d.h. aus einer solchen, welche drei am Rande sägezahnartig eingeschnittene Theile hat, welche genau ineinander passen und auf der Spitze eines beweglichen, durch Muskeln bewegten Stiels stehen. Diese Zangen können beliebige Gegenstände mit festem Halte ergreifen; und ALEXANDER AGASSIZ hat einen Echinus oder Seeigel beobachtet, wie er sehr schnell Excre menttheilchen von Zange zu Zange gewissen Linien[262] seines Körpers entlang hinabschaffte, um seine Schale nicht durch faulende Stoffe zu schädigen. Ohne Zweifel dienen aber diese Pedicellarien ausser der Entfernung des Schmutzes noch anderen Functionen; und eine derselben ist allem Anscheine nach Vertheidigung.

Wie bei so vielen früheren Gelegenheiten frägt in Bezug auf diese Organe Mr. MIVART: »Was würde wohl der Nutzen der ersten rudimentären Anfänge solcher Gebilde sein, und wie könnten wohl derartige beginnende, knospenartige Anlagen jemals das Leben auch nur eines einzigen Echinus erhalten haben? Er fügt hinzu: nicht einmal die plötzliche Entwicklung der schnappenden Thätigkeit könnte ohne den frei beweglichen Stiel wohlthätig gewesen sein, wie auch der letztere keine Wirkung hätte äussern können ohne die kinnladenartig zuschnappenden Zangen; und doch hätten keine minutiösen bloss unbestimmten Abänderungen gleichzeitig diese complicierten, einander coordinierten Structureigenthümlichkeiten entwickeln lassen können; dies zu läugnen scheint nichts Geringeres zu sein, als ein verwirrendes Paradoxon zu behaupten.« So paradox es auch Mr. MIVART erscheinen mag: dreiarmige Zangen, welche am Grunde unbeweglich angeheftet, aber doch im Stande sind, zuzugreifen, existieren mit Gewissheit bei manchen Seesternen; und dies ist verständlich, wenn sie wenigstens zum Theile als ein Vertheidigungsmittel dienen. Mr. AGASSIZ, dessen Freundlichkeit ich sehr viel Information über diesen Gegenstand verdanke, theilt mir mit, dass es andere Seesterne giebt, bei denen der eine der drei Zangenarme zu einer Stütze für die beiden anderen reduciert ist, und ferner, dass es noch andere Gattungen gibt, bei denen dieser dritte Arm vollständig verloren gegangen ist. Bei Echinoneus trägt die Schale nach der Beschreibung PERRIER'S zwei Arten von Pedicellarien, die eine gleicht denen von Echinus, die andere denen von Spatangus; und solche Fälle sind immer interessant, da sie die Mittel zur Erklärung von scheinbar plötzlichen Übergängen durch Abortion eines oder zweier Zustände eines Organs darbieten.

Was die einzelnen Stufen betrifft, durch welche diese merkwürdigen Organe entwickelt worden sind, so schliesst Mr. AGASSIZ aus seinen Untersuchungen und denen JOH. MÜLLER'S, dass sowohl bei den Seesternen als bei den Seeigeln die Pedicellarien unzweifelhaft als modificierte Stacheln angesehen werden müssen. Dies kann aus der Art der Entwicklung bei dem Individuum ebenso wohl wie aus einer langen und vollkommenen Reihe von Abstufungen bei verschiedenen[263] Arten und Gattungen, von einfachen Granulationen zu gewöhnlichen Stacheln und zu vollkommenen dreiarmigen Pedicellarien geschlossen werden. Die Abstufung erstreckt sich sogar bis auf die Art und Weise, in welcher gewöhnliche Stacheln und die Pedicellarien mit ihren sie stützenden kalkigen Stäbchen an der Schale articulieren. Bei gewissen Gattungen von Seesternen sind »selbst die Combinationen zu finden, welche zu dem Nachweise erforderlich sind, dass die Pedicellarien nur modificierte, verästelte Stacheln sind.« So findet man feste Stacheln mit drei in gleicher Entfernung von einander stehenden, gezähnten, beweglichen Ästen nahe ihrer Basis eingelenkt, und weiter nach oben an demselben Stachel drei fernere bewegliche Aste. Wenn nun die letzteren von der Spitze eines Stachels entspringen, so bilden sie in der That eine rohe dreiarmige Pedicellarie und solche kann man an einem und demselben Stachel zusammen mit den drei unteren Ästen sehen. In diesem Falle ist die wesentliche Identität zwischen den Armen einer Pedicellarie und den beweglichen Ästen eines Stachels unverkennbar. Man nimmt allgemein an, dass die gewöhnlichen Stacheln als Schutzmittel dienen; und wenn dies richtig ist, so hat man keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die mit gesägten und beweglichen Armen versehenen gleicherweise demselben Zwecke dienen, und sie würden diesen Dienst noch wirksamer verrichten, sobald sie bei ihrem Zusammentreffen als prehensiler oder schnappender Apparat wirken. Es wird daher hiernach eine jede Abstufung von einem gewöhnlichen festen Stachel zu einer fest angehefteten Pedicellarie dem Thiere von Nutzen sein.

Bei gewissen Gattungen von Seesternen sind diese Organe, anstatt an einem unbeweglichen Träger geheftet oder von einem solchen getragen zu sein, an die Spitze eines biegsamen und muskulösen, wenn auch kurzen Stiels gestellt; und in diesem Falle dienen sie wahrscheinlich noch irgend einer andern Function ausser der der Vertheidigung. Bei den Seeigeln lassen sich die Schritte verfolgen, durch welche ein festsitzender Stachel der Schale eingelenkt und dadurch beweglich wird. Ich wünschte wohl, ich hätte hier mehr Raum, um einen ausführlicheren Auszug aus Mr. AGASSIZ' interessanten Beobachtungen über die Entwicklung der Pedicellarien zu geben. Wie er noch hinzufügt, lassen sich gleichfalls alle möglichen Abstufungen zwischen den Pedicellarien der Seesterne und den Häkchen der Ophiuren, einer andern Gruppe der Echinodermen, auffinden, ebenso zwischen den Pedicellarien der Seeigel und den[264] Ankerorganen der Holothurien oder Seewalzen, welche auch zu derselben grossen Classe gehören.

Gewisse zusammengesetzte Thiere, oder Zoophyten, wie sie genannt worden sind, nämlich die Bryo zoen, sind mit merkwürdigen, Avicularien genannten Organen versehen. Diese weichen in ihrem Bau bei den verschiedenen Species bedeutend von einander ab. In ihrem vollkommensten Zustande sind sie in merkwürdiger Weise dem Kopfe und Schnabel eines Geiers ähnlich, der auf einem Halse sitzt und bewegungsfähig ist, wie es in gleicher Weise auch die untere Kinnlade ist. Bei einer von mir beobachteten Species bewegten sich alle Avicularien an einem und demselben Aste oft gleichzeitig, die Unterkinnlade weit geöffnet, im Laufe weniger Secunden durch einen Winkel von ungefähr 90°; und ihre Bewegung verursachte ein Erzittern des ganzen Bryozoenstocks. Wenn die Kiefer mit einer Nadel berührt werden, wird dieselbe so fest ergriffen, dass man den ganzen Zweig daran schütteln kann.

Mr. MIVART führt diesen Fall an hauptsächlich wegen der vermeintlichen Schwierigkeit, dass Organe wie die Avicularien der Bryozoen und die Pedicellarien der Echinodermen, welche er als »wesentlich ähnlich« betrachtet, durch natürliche Zuchtwahl in weit von einander stehenden Abtheilungen des Thierreichs entwickelt worden seien. Was aber die Structur betrifft, so kann ich keine Ähnlichkeit zwischen einer dreiarmigen Pedicellarie und einem Avicularium oder vogelkopfähnlichen Organ finden. Die letzteren sind im Ganzen den Scheeren oder Kneipern der Crustaceen ähnlicher; und Mr. MIVART hätte mit gleicher Berechtigung diese Ähnlichkeit als specielle Schwierigkeit anziehen können, oder selbst ihre Ähnlichkeit mit dem Kopfe und Schnabel eines Vogels. Mr. BUSK, Dr. SMITH und Dr. NITSCHE, – Forscher, welche die Gruppe sorgfältig untersucht haben, – glauben, dass die Avicularien mit den Einzelnthieren und deren den Stock zusammensetzenden Zellen homolog sind, wobei die bewegliche Lippe, oder der Deckel der Zelle, der untern und beweglichen Kinnlade des Avicularium entspricht. Mr. BUSK kennt aber keine jetzt existierende Abstufung zwischen einem Einzelnthier und einem Avicularium. Es ist daher unmöglich zu vermuthen, durch welche nützliche Abstufungen das eine in das andere umgewandelt werden konnte; es folgt aber hieraus durchaus nicht, dass derartige Abstufungen nicht existiert haben.

Da die Scheeren der Crustaceen in einem gewissen Grade den[265] Avicularien der Bryozoen ähnlich sind, beide dienen als Zangen, so dürfte es wohl der Mühe werth sein, zu zeigen, dass von den ersteren eine lange Reihe von nützlichen Abstufungen noch existiert. Auf der ersten und einfachsten Stufe schlägt sich das Endsegment einer Gliedmasse herunter entweder auf das querabgestutzte Ende des breiten vorletzten Abschnitts oder gegen eine ganze Seite desselben, und wird hierdurch in den Stand gesetzt, einen Gegenstand fest zu halten; die Gliedmasse dient dabei aber noch immer als Locomotionsorgan. Dann finden wir zunächst die eine Ecke des breiten vorletzten Abschnitts unbedeutend vorragen, zuweilen mit unregelmässigen Zähnen versehen, und gegen diese schlägt sich nun das Endglied herab. Durch eine Grössenzunahme dieses Vorsprungs und einer unbedeutenden Modificierung und Verbesserung seiner Form ebenso wie der des endständigen Gliedes werden die Zangen immer mehr und mehr vervollkommnet, bis wir zuletzt ein so wirksames Instrument erhalten wie die Scheere eines Hummers; und alle diese Abstufungen lassen sich jetzt factisch nachweisen.

Ausser den Avicularien besitzen die Bryozoen noch merkwürdige Organe in den sogenannten Vibracula. Es bestehen dieselben allgemein aus langen, der Bewegung fähigen und leicht zu reizenden Borsten. Bei einer von mir untersuchten Species waren die Vibracula unbedeutend gekrümmt und dem äussern Rand entlang gesägt; und häufig bewegten sie sich sämmtlich an einem und demselben Bryozoenstocke gleichzeitig, so dass sie, wie lange Ruder wirkend, einen Zweig schnell quer über den Objectträger eines Mikroskops hinüberschwangen. Wurde ein Zweig auf seine vordere Fläche gelegt, so verwickelten sich die Vibracula und machten nun heftige Anstrengungen sich zu befreien. Man vermuthet, dass sie als Verthei digungsorgane dienen, und man kann sehen, wie Mr. BUSK bemerkt, »wie sie langsam und sorgfältig über die Oberfläche des Bryozoenstockes hinschwingen und das entfernen, was den zarten Bewohnern der Zellen, wenn deren Tentakeln ausgestreckt sind, schädlich sein könnte.« Die Avicularien dienen wahrscheinlich wie diese Vibracula zur Vertheidigung, sie fangen und tödten aber auch kleine Thiere, welche, wie man annimmt, später dann durch Strömung innerhalb der Erreichbarkeit der Tentakeln der Einzelnthiere gelangen. Einige Species sind mit Avicularien und Vibrakeln versehen, manche nur mit Avicularien und einige wenige nur mit Vibrakeln.

Es ist nicht leicht, sich zwei in ihrer Erscheinung weiter von[266] einander verschiedene Gegenstände vorzustellen, als ein einer Borste ähnliches Vibraculum und ein wie ein Vogelkopf gebildetes Avicularium; und doch sind beide fast sicher einander homolog und sind von derselben Grundlage aus entwickelt worden, nämlich einem Einzelnthier mit seiner Zelle. Wir können daher einsehen, woher es kommt, dass diese Organe in manchen Fällen, wie mir Mr. BUSK mitgetheilt hat, stufenweise ineinander übergehen. So ist bei den Avicularien mehrerer Species von Lepralia die bewegliche Unterkinnlade so sehr vorgezogen und so einer Borste gleich, dass allein das Vorhandensein des obern oder fest stehenden Schnabels ihre Bestimmung als ein Avicularium sichert. Die Vibracula können direct, ohne den Avicularienzustand durchlaufen zu haben, aus den Deckeln der Zelle entwickelt worden sein; es erscheint aber wahrscheinlich, dass sie durch jenen Zustand hindurchgegangen sind, da während der früheren Stadien der Umwandlung die anderen Theile der Zelle mit dem eingeschlossenen Einzelnthier kaum auf einmal verschwunden sein können. In vielen Fällen haben die Vibracula eine mit einer Grube versehene Stütze, welche den unbeweglichen Oberschnabel darzustellen scheint; doch ist diese Stütze in manchen Species gar nicht vorhanden. Diese Ansicht von der Entwicklung der Vibracula ist, wenn sie zuverlässig ist, interessant; denn wenn wir annehmen, dass alle mit Avicularien versehenen Species ausgestorben wären, so würde Niemand selbst mit der lebhaftesten Einbildungskraft auf den Gedanken gekommen sein, dass die Vibracula ursprünglich als Theile eines Organes existiert hätten, welche einem Vogelkopf oder einer unregelmässigen Büchse oder Kappe glichen. Es ist interessant, zu sehen, wie zwei so sehr von einander verschiedene Organe von einem gemeinsamen Ausgangspunkte aus sich entwickelt haben; und da der bewegliche Deckel der Zelle dem Einzelnthier als Schutz dient, so liegt in der Annahme keine Schwierigkeit, dass alle Abstufungen, durch welche der Deckel zuerst in die Unterkinnlade eines vogelkopfförmigen Organes und dann in eine verlängerte Borste umgewandelt wurde, gleichfalls als Mitte zum Schutze auf verschiedene Weisen und unter verschiedenen Umständen gedient haben.

Aus dem Pflanzenreiche führt Mr. MIVART nur zwei Fälle an, nämlich die Structur der Blüthe bei Orchideen und die Bewegungen der kletternden Pflanzen. In Bezug auf die ersteren sagt er, »die Erklärung ihres Ursprungs ist für durchaus unbefriedigt zu halten,[267] gänzlich unvermögend, die beginnenden infinitesimalen Anfänge von Bildungen zu erklären, welche nur von Nutzen sind, wenn sie beträchtlich entwickelt sind.« Da ich diesen Gegenstand ausführlich in einem andern Werk behandelt habe, werde ich hier nur einige wenige Einzelnheiten über eine einzige der auffallendsten Eigenthümlichkeiten der Orchideenblüthen anführen, nämlich über ihre Pollinien. Ein Pollinium besteht, wenn es hoch entwickelt ist, aus einer Masse von Pollenkörnern, welche einem elastischen Gestell oder Schwänzchen und dieses wieder einer kleinen Masse von äusserst klebriger Substanz angeheftet ist. Die Pollinien werden mittelst dieser Einrichtungen durch Insecten von einer Blüthe auf das Stigma einer andern übertragen. Bei manchen Orchideen findet sich kein Schwänzchen an den Pollenmassen, sondern die Körner sind bloss durch feine Fäden aneinander geheftet; da solche indessen nicht auf die Orchideen beschränkt sind, brauchen sie hier nicht betrachtet zu werden; doch will ich erwähnen, dass wir am Grunde der ganzen Orchideenreihe, bei Cypripedium, sehen können, wie die Fäden wahrscheinlich zuerst entwickelt worden sind. Bei anderen Orchideen hängen die Fäden an dem einen Ende der Pollenmasse zusammen, und dies bildet die erste Spur oder Anlage eines Schwänzchens. Dass dies der Ursprung des Schwänzchens ist, selbst wenn dasselbe zu einer beträchtlichen Länge und Höhe entwickelt ist, dafür haben wir gute Belege in den abortierten Pollenkörnern, welche sich zuweilen innerhalb der centralen und soliden Theile eingebettet nachweisen lassen.

Was die zweite hauptsächliche Eigenthümlichkeit betrifft, nämlich die geringe Menge klebriger Masse, welche an das Ende des Schwänzchens geheftet ist, so kann eine lange Reihe von Abstufungen aufgezählt werden, von denen eine jede von offenbarem Nutzen für die Pflanze ist. In den meisten Blüthen von Pflanzen, welche zu anderen Ordnungen gehören, sondert die Narbe ein wenig klebriger Substanz ab. Nun wird bei gewissen Orchideen ähnliche klebrige Substanz abgesondert, aber in viel grösseren Mengen und nur von einem der drei Stigmen, und dies Stigma wird, vielleicht in Folge dieser massigen Absonderung, unfruchtbar. Wenn ein Insect eine Blüthe solcher Art besucht, so reibt es etwas von der klebrigen Substanz ab und nimmt dabei gleichzeitig einige der Pollenkörner mit fort. Von diesem einfachen Zustande, welcher nur wenig von dem bei einer Menge gewöhnlicher Blumen sich findenden abweicht, führen endlose Abstufungen zu Arten, bei denen[268] die Pollenmasse in ein sehr kurzes freies Schwänzchen ausgeht, dann zu anderen, bei denen das Schwänzchen fest an die klebrige Masse angeheftet wird, während das unfruchtbare Stigma selbst bedeutend modificiert wird. In diesem letzten Falle haben wir dann ein Pollinium in seiner höchsten Entwicklung und seinem vollkommenen Zustande. Wer nur sorgfältig die Blüthen von Orchideen selbst untersuchen will, wird nicht leugnen, dass die oben angeführte Reihe von Abstufungen wirklich existiert: von Blüthen mit einer Masse von Pollenkörnern, welche nur durch Fäden miteinander verbunden sind, während das Stigma nur wenig von dem einer gewöhnlichen Blüthe abweicht, bis zu solchen mit einem äusserst complicierten Pollinium, welches für den Transport durch Insecten wunderbar wohl angepasst ist; auch wird er nicht leugnen können, dass alle diese Abstufungen bei den verschiedenen Species in Beziehung auf den allgemeinen Bau einer jeden Blüthe wunderbar gut für die Befruchtung durch verschiedene Insecten angepasst sind. In diesem, – und in der That beinahe jedem andern – Falle kann die Untersuchung noch weiter zurück verfolgt werden; man kann fragen, wie kam es, dass das Stigma einer gewöhnlichen Blume klebrig wurde. Da wir indessen nicht die vollständige Geschichte einer einzigen Gruppe organischer Wesen kennen, so ist es eben so nutzlos zu fragen, wie der Versuch derartige Fragen zu beantworten hoffnungslos ist.

Wir wollen uns nun zu den kletternden Pflanzen wenden. Diese können in eine lange Reihe angeordnet werden, von denen, welche sich einfach um eine Stütze winden, zu denjenigen, welche ich Blattkletterer genannt habe, und zu den mit Ranken versehenen. In diesen letzten zwei Classen haben die Stämme allgemein, aber nicht immer, das Vermögen des Windens verloren, trotzdem aber das Vermögen des Aufrollens, welches gleicherweise die Ranken besitzen, beibehalten. Die Abstufungen von Blattkletterern zu Rankenträgern sind wunderbar eng und gewisse Pflanzen lassen sich ganz unterscheidungslos in beide Classen einordnen. Verfolgt man indessen die Reihe aufwärts, von einfachen Windeformen zu Blattkletterern, so tritt eine bedeutungsvolle Eigenschaft hinzu, nämlich die Empfindlichkeit für eine Berührung, durch welches Mittel die Stengel der Blätter oder der Blüthen oder die in Ranken modificierten und umgewandelten Stengel gereizt werden, sich um den berührenden Gegenstand herumzubiegen und ihn zu ergreifen. Wer meine Abhandlung über diesen Gegenstand lesen will, wird[269] denke ich, zugeben, dass alle die vielerlei Abstufungen in Structur und Function zwischen einfachen Windeformen und Rankenträgern in jedem einzelnen Falle in hohem Grade für die Species wohlthätig sind. So ist es z.B. offenbar ein grosser Vortheil für eine kletternde Pflanze, ein Blattkletterer zu werden; und es ist wahrscheinlich, dass jede windende Form, welche Blätter mit langen Stengeln besass, in einen Blattkletterer entwickelt worden sein würde, wenn die Stengel in irgend einem unbedeutenden Grade die erforderliche Empfindlichkeit für Berührung besessen hätten.

Da das Winden das einfachste Mittel ist, an einer Stütze emporzusteigen, und es die Grundlage unserer Reihe bildet, so kann natürlich gefragt werden, wie Pflanzen dies Vermögen in einem beginnenden Grade erlangten, um es später durch natürliche Zuchtwahl verbessert und verstärkt zu erhalten. Das Vermögen zu winden, hängt erstens davon ab, dass die Stämme, solange sie sehr jung sind, äusserst biegsam sind (dies ist aber ein vielen Pflanzen, welche nicht klettern, zukommender Character) und zweitens davon, dass sie sich beständig nach allen Gegenden der Windrose hinbiegen, und zwar nacheinander von einer zur andern in einer und derselben Ordnung. Durch diese Bewegung werden die Stämme nach allen Seiten geneigt und veranlasst, sich rundum zu drehen. Sobald der untere Theil eines Stammes gegen irgend einen Gegenstand anstösst und in der Bewegung aufgehalten wird, fährt der obere Theil noch immer fort, sich zu biegen und umzudrehen und windet sich in Folge dessen rund um die Stütze und an ihr in die Höhe. Die aufrollende Bewegung hört nach dem ersten Wachsthum jedes Triebes auf. Wie in vielen weit von einander getrennten Familien von Pflanzen einzelne Species und einzelne Genera das Vermögen des Aufrollens besitzen und daher Winder geworden sind, so müssen sie dasselbe auch unabhängig erhalten und können es nicht von einem gemeinsamen Urerzeuger ererbt haben. Ich wurde daher darauf geführt, vorherzusagen, dass eine unbedeutende Neigung zu einer Bewegung dieser Art sich als durchaus nicht selten bei Pflanzen herausstellen würde, welche keine Kletterer sind, und dass dieselbe die Grundlage abgegeben habe, von welcher aus die natürliche Zuchtwahl ihre verbessernde Arbeit begonnen habe. Als ich diese Vorhersage machte, kannte ich nur einen unvollkommenen Fall, nämlich die jungen Blüthenstengel einer Maurandia, welche wie die Stämme windender Pflanzen unbedeutend und unregelmässig sich aufrollten, ohne indess irgend einen Nutzen aus dieser Gewohnheit[270] zu ziehen. Kurze Zeit nachher entdeckte FRITZ MÜLLER, dass die jungen Stämme eines Alisma und eines Linum, also zweier Pflanzen, welche nicht klettern und im natürlichen System weit von einander entfernt stehen, sich deutlich, wenn auch unregelmässig aufrollten: und er gibt an, er habe zu vermuthen Ursache, dass dies bei einigen anderen Pflanzen vorkommt. Diese unbedeutenden Bewegungen scheinen für die in Rede stehenden Pflanzen von keinem Nutzen zu sein; auf alle Fälle sind sie nicht von dem geringsten Nutzen in Bezug auf das Klettern, welches der uns hier berührende Punkt ist. Nichtsdestoweniger können wir aber doch einsehen, dass, wenn die Stämme dieser Pflanzen biegsam gewesen wären und wenn es unter den Bedingungen, denen sie ausgesetzt sind, für sie ein Vortheil gewesen wäre, in die Höhe hinaufzusteigen, dann die Gewohnheit sich unbedeutend und unregelmässig aufzurollen, durch natürliche Zuchtwahl verstärkt und zum Nutzen hätte verwendet werden können, bis sie in wohlentwickelte kletternde Species umgewandelt worden wären.

In Bezug auf die sensitive Beschaffenheit der Blatt-und Blüthenstengel und der Ranken finden nahezu dieselben Bemerkungen Anwendung, wie in dem Falle der vollendeten Bewegungen kletternder Pflanzen. Da eine ungeheure Anzahl von Pflanzen, welche zu weit von einander entfernt stehenden Gruppen gehören, mit dieser Art der Empfindlichkeit ausgerüstet sind, so sollte man sie in einem eben beginnenden Zustande bei vielen Pflanzen finden, welche nicht Kletterer geworden sind. Dies ist der Fall: ich beobachtete, dass die jungen Blüthenstiele der oben erwähnten Maurandia sich ein wenig nach der Seite hin bogen, welche berührt wurde. MORREN fand bei verschiedenen Species von Oxalis, dass sich die Blätter und ihre Stiele, besonders wenn sie einer heissen Sonne ausgesetzt gewesen waren, bewegten, sobald sie leise und wiederholt berührt wurden oder wenn die Pflanze erschüttert wurde. Ich wiederholte diese Beobachtungen an einigen anderen Species von Oxalis mit demselben Resultat; bei einigen von ihnen war die Bewegung deutlich, war aber am besten an den jungen Blättern zu sehen; bei anderen war sie äusserst unbedeutend. Es ist eine noch bedeutungsvollere Thatsache, dass nach der hohen Autorität HOFMEISTER'S die jungen Schösslinge und Blätter aller Pflanzen sich bewegen, wenn sie geschüttelt worden sind; und bei kletternden Pflanzen sind, wie man weiss, nur während der frühen Wachsthumsstadien die Stengel und Ranken sensitiv.[271]

Es ist kaum möglich, dass die oben erwähnten unbedeutenden, in Folge einer Berührung oder Erschütterung an den jungen und wachsenden Organen von Pflanzen auftretenden Bewegungen für sie von irgend einer functionellen Bedeutung sein können. Pflanzen zeigen aber Bewegungsvermögen, in Abhängigkeit von verschiedenen Reizen, welche von offenbarer Bedeutung für sie sind, z.B. nach dem Lichte hin und seltener vom Lichte weg, gegen die Anziehung der Schwerkraft oder seltener in der Richtung derselben. Wenn die Nerven und Muskeln eines Thieres durch Galvanismus oder durch Absorption von Strychnin gereizt werden, so kann man die darauf folgenden Bewegungen zufällige nennen; denn die Nerven und Muskeln sind nicht speciell empfindlich für diese Reize gemacht worden. So scheint es auch bei Pflanzen zu sein; da sie das Vermögen der Bewegung als Antwort auf gewisse Reize haben, so werden sie durch eine Berührung oder Erschütterung in einer zufälligen Art gereizt. Es liegt daher keine grosse Schwierigkeit in der Annahme, dass es bei Blattkletterern und Rankenträgern diese Neigung ist, welche von der natürlichen Zuchtwahl zum Vortheil der Pflanze benützt und verstärkt worden ist. Es ist indessen aus Gründen, welche ich in meiner Abhandlung entwickelt habe, wahrscheinlich, dass dies nur bei Pflanzen eingetreten sein wird, welche bereits das Vermögen des Aufrollens erlangt hatten und dadurch Windeformen geworden waren.

Ich habe bereits zu erklären versucht, wie Pflanzen die Eigenschaft des Windens erlangt haben, nämlich durch eine Verstärkung einer Neigung zu unbedeutenden und unregelmässigen aufrollenden Bewegungen, welche anfangs für sie von keinem Nutzen waren; diese Bewegung, ebenso die, welche als Folge einer Berührung oder Erschütterung auftritt, war das zufällige Resultat des Bewegungsvermögens, welches zu anderen und wohlthätigen Zwecken erlangt worden war. Ob während der stufenweisen Entwicklung der kletternden Pflanzen die natürliche Zuchtwahl durch die vererbten Wirkungen des Gebrauchs unterstützt worden ist, will ich nicht zu entscheiden wagen; wir wissen aber, dass gewisse periodische Bewegungen, z.B. der sogenannte Schlaf der Pflanzen, durch Gewohnheit bestimmt werden.

Ich habe nun von den, durch einen gewandten Naturforscher ausgewählten Fällen genug, und vielleicht sogar mehr als genug betrachtet, welche beweisen sollten, dass die natürliche Zuchtwahl[272] unzureichend sei, die beginnenden Stufen nützlicher Gebilde zu erklären; und ich habe, wie ich hoffe, gezeigt, dass in diesem Punkte wohl keine grosse Schwierigkeit vorliegt. Es hat sich dadurch eine gute Gelegenheit dargeboten, mich etwas über Abstufungen des Baues zu verbreiten, welche häufig mit veränderten Functionen verbunden sind; es ist dies ein wichtiger Gegenstand, welcher in den früheren Auflagen dieses Werkes nicht mit hinreichender Ausführlichkeit behandelt worden war. Ich will nun noch einmal kurz die vorstehend er wähnten Fälle zusammenfassen.

Was die Giraffe betrifft, so wird die beständige Erhaltung derjenigen Individuen eines ausgestorbenen hoch hinaufreichenden Wiederkäuers, welche die längsten Hälse, Beine u.s.w. besassen und die Pflanzen um ein Weniges über die durchschnittliche mittlere Höhe hinauf abweiden konnten, ebenso wie die beständige Zerstörung jener, welche nicht so hoch weiden konnten, hingereicht haben, dieses merkwürdige Säugethier hervorzubringen, aber der fortgesetzte Gebrauch aller dieser Theile zusammen mit der Vererbung wird ihre Coordination in einer bedeutungsvollen Weise unterstützt haben. Bei den vielen Insecten, welche verschiedene Gegenstände nachahmen, liegt in der Annahme nichts Unwahrscheinliches, dass in jedem einzelnen Falle die Grundlage für die Thätigkeit der natürlichen Zuchtwahl eine zufällige Ähnlichkeit mit irgend einem gewöhnlichen Gegenstande war, welche dann durch die gelegentliche Erhaltung unbedeutender Abänderungen, wenn sie nur die Ähnlichkeit irgendwie grösser machten, vervollkommnet wurde; und dies wird so lange fortgesetzt worden sein, als das Insect fortfuhr, zu variieren, und solange eine immer mehr und mehr vollkommene Ähnlichkeit sein Entkommen vor scharfsehenden Feinden beförderte. Bei gewissen Arten von Walen ist eine Neigung zur Bildung unregelmässiger kleiner Hornpunkte am Gaumen vorhanden; und es scheint vollständig innerhalb des Wirkungskreises der natürlichen Zuchtwahl zu liegen, alle günstigen Abänderungen zu erhalten, bis die Punkte zuerst in blättrige Höcker oder Zähne, wie die am Schnabel der Gans, dann in kurze Lamellen, wie die der Hausenten, dann in Lamellen, so vollkommen wie die der Löffel-Ente, und endlich in die riesigen Fischbeinplatten, wie im Munde des Grönland-Wales, verwandelt wurden. In der Familie der Enten werden die Lamellen zuerst als Zähne, dann zum Theil als Zähne, zum Theil als ein Apparat zum Durchseihen, und zuletzt beinahe ausschliesslich zu diesem letzten Zwecke benutzt.[273]

Bei derartigen Gebilden wie den oben erwähnten Hornlamellen oder dem Fischbein kann Gewohnheit oder Gebrauch, soweit wir es zu beurtheilen im Stande sind, nur wenig oder nichts zu ihrer Entwicklung beigetragen haben. Andererseits kann man aber wohl das Hinüberschaffen des unteren Auges eines Plattfisches auf die obere Seite des Kopfes und die Bildung eines Greifschwanzes beinahe gänzlich dem beständigen Gebrauche in Verbindung mit Vererbung zuschreiben. In Bezug auf die Milchdrüsen der höheren Säugethiere ist die wahrscheinlichste Vermuthung die, dass ursprünglich die Hautdrüsen über die ganze Oberfläche der marsupialen Tasche eine nahrhafte Flüssigkeit absonderten und dass diese Drüsen durch natürliche Zuchtwahl in ihrer Function verbessert und auf eine beschränkte Fläche concentriert wurden, in welchem Falle sie nun Milchdrüsen gebildet haben werden. Die Schwierigkeit einzusehen, wie die verzweigten Stacheln eines alten Echinoderms, welche als Vertheidigungsmittel dienten, durch natürliche Zuchtwahl in dreiarmige Pedicellarien entwickelt wurden, ist nicht grösser als die, die Entwicklung der Scheeren der Crustaceen durch unbedeutende dienstbare Modificationen in dem letzten und vorletzten Gliede einer Gliedmasse, welche anfangs nur zur Locomotion benutzt wurde, zu verstehen. In den vogelkopfförmigen Organen und den Vibrakeln der Bryozoen haben wir Organe, in ihrer äussern Erscheinung weit von einander verschieden, welche sich aus derselben Grundform entwickelt haben; und bei den Vibrakeln können wir einsehen, wie die aufeinanderfolgenden Abstufungen von Nutzen gewesen sein dürften. Was die Pollinien der Orchideen betrifft, so lässt sich verfolgen, wie die Fäden, welche ursprünglich dazu dienten, die Pollenkörner zusammen zu halten, zu den Schwänzchen sich verbanden, und auch die Schritte lassen sich verfolgen, auf welchen klebrige Masse, solche wie von den Narben gewöhnlicher Blüthen abgesondert wird und noch immer nahezu, aber nicht völlig demselben Zwecke dient, den freien Enden der Schwänzchen angeheftet wird, wobei alle diese Abstufungen von offenbarem Nutzen für die in Rede stehenden Pflanzen sind. In Bezug auf die kletternden Pflanzen brauche ich das nicht zu wiederholen, was erst ganz vor Kurzem gesagt worden ist.

Es ist oft gefragt worden: wenn die natürliche Zuchtwahl so vielvermögend ist, warum haben nicht gewisse Species diese oder jene Structureinrichtung erlangt, welche ganz offenbar für sie vortheilhaft gewesen wäre? Es ist aber unverständig, eine präcise Antwort[274] auf derartige Fragen zu erwarten, wenn man unsere Unwissenheit in Bezug auf die vergangene Geschichte einer jeden Species und auf die Bedingungen, welche heutigen Tages ihre Individuenzahl und Verbreitung bestimmen, in Betracht zieht. In den meisten Fällen lassen sich nur allgemeine Gründe anführen, aber in einigen wenigen Fällen specielle Gründe. So sind, um eine Species neuen Lebensweisen anzupassen, viele einander coordinierte Modificationen beinahe unentbehrlich, und es wird sich häufig ereignet haben, dass die erforderlichen Theile nicht in der rechten Art und Weise oder nicht bis zum richtigen Grade variierten. Viele Species müssen an der Vermehrung ihrer Individuenzahl durch zerstörende Einwirkungen gehindert worden sein, welche in keiner Beziehung zu gewissen Structureigenthümlichkeiten gestanden haben, die wir uns, da sie uns vortheilhaft für die Species zu sein scheinen, als durch natürliche Zuchtwahl erhalten vorstellen. Da der Kampf um's Leben nicht von solchen Gebilden abhieng, konnten sie in diesem Falle nicht durch natürliche Zuchtwahl erlangt worden sein. In vielen Fällen sind zur Entwicklung einer bestimmten Structureinrichtung complicierte und lang andauernde Bedingungen, oft von einer eigenthümlichen Beschaffenheit, nothwendig; und die erforderlichen Bedingungen mögen nur selten eingetreten sein. Die Annahme, dass irgend eine gegebene Bildung, von welcher wir, häufig irrthümlicherweise, glauben, dass sie für die Art wohlthätig gewesen sein würde, unter allen Umständen durch natürliche Zuchtwahl erlangt worden sein würde, steht im Widerspruch zu dem, was wir von ihrer Wirkungsweise zu verstehen im Stande sind. Mr. MIVART leugnet nicht, dass die natürliche Zuchtwahl etwas ausgerichtet hat, er betrachtet es aber als »nachweisbar ungenügend«, um die Erscheinungen zu erklären, welche ich durch ihre Thätigkeit erkläre. Seine hauptsächlichsten Beweisgründe sind nun betrachtet worden und die übrigen werden später noch in Betracht gezogen werden. Sie scheinen mir wenig von dem Character eines Beweises an sich zu tragen und nur wenig Gewicht zu haben im Vergleich zu denen, welche zu Gunsten der Kraft der natürlichen Zuchtwahl, unterstützt von den anderen speciell angeführten Agentien, sprechen. Ich halte mich für verpflichtet, hinzuzufügen, dass einige der von mir hier beigebrachten Thatsachen und Argumentationen zu demselben Zwecke in einem kürzlich in der »Medico-chirurgical Review« veröffentlichten Artikel ausgesprochen worden sind.

Heutigen Tages nehmen alle Naturforscher Entwicklung unter[275] irgend einer Form an. Mr. MIVART glaubt, dass die Species sich »durch eine innere Kraft oder Neigung« verändern, über welche irgend etwas zu wissen nicht behauptet wird. Dass die Species die Fähigkeit sich zu verändern haben, wird von allen Anhängern der Entwicklungslehre, Evolutionisten, zugegeben werden; wie es mir aber scheint, ist keine Nöthigung vorhanden, irgend eine innere Kraft ausser der Neigung zu gewöhnlicher Variabilität anzurufen, welche ja unter der Hülfe der Zuchtwahl durch den Menschen so viele gut angepasste domesticierte Rassen hat entstehen lassen, welche daher auch unter der Hülfe der natürlichen Zuchtwahl in gleicher Weise in langsam abgestuften Schritten natürliche Rassen oder Species entstehen lassen wird. Das endliche Resultat wird, wie bereits auseinandergesetzt worden ist, allgemein ein Fortschritt, aber in einigen wenigen Fällen ein Rückschritt in der Organisation sein.

Mr. MIVART ist ferner zu der Annahme geneigt, und einige Naturforscher stimmen hier mit ihm überein, dass neue Species sich »plötzlich und durch auf einmal erscheinende Modificationen offenbaren. Er vermuthet z.B., dass die Verschiedenheiten zwischen dem ausgestorbenen dreizehigen Hipparion und dem Pferde plötzlich entstanden. Er hält es für schwierig zu glauben, dass der Flügel eines Vogels auf irgend eine andere Weise als durch eine vergleichsweise plötzliche Modification einer auffallenden und bedeutungsvollen Art entwickelt wurde;« und allem Anscheine nach würde er dieselbe Ansicht auch auf die Flugwerkzeuge der Fledermäuse und Pterodactylen ausdehnen. Diese Schlussfolgerung, welche grosse Sprünge und Unterbrechungen in der Reihe einschliessen würde, scheint mir im höchsten Grade unwahrscheinlich zu sein.

Ein Jeder, der an langsame und stufenweise Entwicklung glaubt, wird natürlicherweise zugeben, dass specifische Abänderungen ebenso abrupt und eben so gross aufgetreten sein können, wie irgend eine einzelne Abänderung, welche wir im Naturzustande oder selbst im Zustande der Domestication antreffen. Da aber Species variabler sind, wenn sie domesticiert oder cultiviert werden, als unter ihren natürlichen Bedingungen, so ist es nicht wahrscheinlich, dass solche grosse und abrupte Abänderungen im Naturzustande häufig eingetreten sind, wie sie erfahrungsgemäss gelegentlich im Zustande der Domestication auftraten. Von diesen letzteren Abänderungen können mehrere dem Rückschlage zugeschrieben werden; und die Charactere, welche auf diese Weise wiedererscheinen, waren wahrscheinlich in vielen Fällen zuerst in einer allmählichen Weise erlangt[276] worden. Eine noch viel grössere Zahl muss als Monstrositäten bezeichnet werden, wie das Erscheinen von sechs Fingern, einer stachligen Haut beim Menschen, das Otter- oder Ancon-Schaf, das Niata-Rind u.s.w.; und da diese in ihrem Character von natürlichen Species sehr verschieden sind, so werfen sie auf unsern Gegenstand nur wenig Licht. Schliesst man solche Fälle von abrupten Abänderungen aus, so werden die wenigen, welche übrig bleiben, im besten Falle, würden sie im Naturzustande gefunden werden, zweifelhafte, ihren vorelterlichen Typen nahe verwandte Species herstellen.

Meine Gründe, es zu bezweifeln, dass natürliche Species eben so abrupt wie gelegentlich domesticierte Rassen sich verändert haben, und es durchaus nicht zu glauben, dass sie sich in der wunderbaren Art und Weise verändert haben, wie es Mr. MIVART angegeben hat, sind die folgenden: Unserer Erfahrung zufolge kommen abrupte und stark ausgesprochene Abänderungen bei unseren domesticierten Erzeugnissen einzeln vor und nach im Ganzen langen Zeitintervallen. Kämen solche im Naturzustande vor, so würden sie, wie früher erklärt wurde, dem ausgesetzt sein, durch zufällige Zerstörungsursachen und durch später eintretende Kreuzung verloren zu werden; und man weiss, dass dies im Zustande der Domestication der Fall ist, wenn abrupte Abänderungen dieser Art nicht durch die Sorgfalt des Menschen speciell erhalten und separiert werden. Damit daher eine neue Species in der von Mr. MIVART vermutheten Art plötzlich auftrete, ist es beinahe nothwendig anzunehmen, dass, im Gegensatze zu aller Analogie, mehrere wunderbar veränderte Individuen gleichzeitig innerhalb eines und desselben Gebietes erscheinen. Diese Schwierigkeit wird, wie in dem Falle der unbewussten Zuchtwahl des Menschen, nach der Theorie der stufenweisen Entwicklung vermieden durch die Erhaltung einer grossen Zahl von Individuen, welche mehr oder weniger in irgend einer günstigen Richtung variieren, und durch die Zerstörung einer grossen Zahl, welche in der entgegengesetzten Art variieren.

Dass viele Species in einer äusserst allmählich abgestuften Weise entwickelt worden sind, darüber kann kaum ein Zweifel bestehen. Die Species und selbst die Gattungen vieler grossen natürlichen Familien sind so nahe miteinander verwandt, dass es bei nicht wenigen von ihnen schwierig ist, sie zu unterscheiden. Auf jedem Continente begegnen wir, wenn wir von Norden nach Süden, von Niederungen zu Bergländern u.s.w. fortschreiten, einer grossen[277] Menge nahe verwandter oder repräsentativer Species, wie wir solche gleicherweise auf gewissen verschiedenen Continenten finden, von denen wir Grund zur Annahme haben, dass sie früher in Zusammenhang standen. Indem ich aber diese und die folgenden Bemerkungen mache, bin ich genöthigt, Gegenstände zu berühren, welche später erörtert werden. Man werfe einen Blick auf die vielen rund um einen Continent liegenden äusseren Inseln und sehe, wie viele ihrer Bewohner nur bis zum Range zweifelhafter Arten erhoben werden können. So ist es auch, wenn wir einen Blick auf vergangene Zeiten werfen und die Species, welche eben verschwunden sind, mit den jetzt in demselben Gebiete lebenden vergleichen; oder wenn wir die in den verschiedenen Gliedern einer und derselben geologischen Formation eingeschlossenen fossilen Arten miteinander vergleichen. Es zeigt sich in der That offenbar, dass grosse Mengen von Species in der engsten Weise mit anderen noch existierenden oder vor Kurzem existiert habenden verwandt sind; und man wird wohl kaum behaupten, dass derartige Species in einer abrupten oder plötzlichen Art und Weise entwickelt worden sind. Man darf auch nicht vergessen, dass, wenn man auf specielle Theile verwandter Arten anstatt auf verschiedene Arten achtet, zahlreiche und wunderbar feine Abstufungen verfolgt werden können, welche sehr verschiedene Structurverhältnisse untereinander verbinden.

Viele grosse Gruppen von Thatsachen sind nur von dem Grundsatze aus verständlich, dass die Species durch sehr kleine stufenweise Schritte sich entwickelt haben; so z.B. die Thatsache, dass die von grösseren Gattungen umfassten Species näher miteinander verwandt sind und eine grössere Anzahl von Varietäten darbieten, als die Arten in den kleineren Gattungen. Die ersteren ordnen sich auch in kleine Gruppen, wie Varietäten um Species, und sie bieten noch andere Analogien mit Varietäten dar, wie im zweiten Capitel gezeigt wurde. Nach demselben Principe können wir auch verstehen, woher es kommt, dass specifische Charactere variabler sind als Gattungscharactere, und warum die Theile, welche in einer ausserordentlichen Weise oder in einem ausserordentlichen Grade entwickelt sind, variabler sind, als andere Theile der nämlichen Species. Es könnten noch viele analoge, alle nach derselben Richtung hinweisende Thatsachen hinzugefügt werden.

Obgleich sehr viele Species beinahe sicher durch Abstufungen hervorgebracht worden sind, nicht grösser als die, welche feine Varietäten trennen, so dürfte doch behauptet werden, dass einige[278] auf eine verschiedene und abrupte Art und Weise entwickelt worden sind. Eine solche Annahme darf indessen nicht ohne Anführung gewichtiger Zeugnisse gemacht werden. Die vagen und in einigen Beziehungen falschen Analogien, (als welche sie von Mr. CHAUNCEY WRIGHT nachgewiesen worden sind,) welche zu Gunsten dieser Ansicht vorgebracht worden sind, wie die plötzliche Krystallisation unorganischer Substanzen oder das Fallen eines facettierten Sphäroids von einer Facette auf die andere, verdienen kaum eine Betrachtung. Indessen eine Classe von Thatsachen, nämlich das plötzliche Erscheinen neuer und verschiedener Lebensformen in unseren geologischen Formationen, unterstützt auf den ersten Blick den Glauben an plötzliche Entwicklung. Aber der Werth dieses Beweises hängt gänzlich von der Vollkommenheit der geologischen Berichte in Bezug auf Perioden ab, welche in der Geschichte der Welt weit zurückliegen. Ist dieser Bericht so fragmentarisch, wie viele Geologen nachdrücklich behaupten, dann liegt darin nichts Besonderes, dass neue Formen wie plötzlich entwickelt erscheinen.

Wenn wir nicht so ungeheure Umbildungen zugeben, wie die von Mr. MIVART vertheidigten, wie die plötzliche Entwicklung der Flügel der Vögel oder Fledermäuse, oder die plötzliche Umwandlung eines Hipparion in ein Pferd, so wirft der Glaube an abrupte Modificationen kaum irgend welches Licht auf das Fehlen von Zwischengliedern in unseren geologischen Formationen. Aber gegen den Glauben an derartige abrupte Veränderungen legt die Embryologie einen gewichtigen Protest ein. Es ist notorisch, dass die Flügel der Vögel und Fledermäuse und die Beine der Pferde und anderer Vierfüsser in einer frühen embryonalen Periode nicht zu unterscheiden sind und durch unmerkbar feine Abstufungen differenziert werden. Wie wir später sehen werden, lassen sich embryonale Ähnlichkeiten aller Art dadurch erklären, dass die Urerzeuger unserer existierenden Species erst nach der frühen Jugend variiert und ihre nun erlangten Charactere ihren Nachkommen in einem entsprechenden Alter überliefert haben. Der Embryo ist hiernach beinahe unberührt gelassen worden und dient als Geschichte des vergangenen Zustandes der Species. Daher kommt es, dass jetzt existierende Species während der frühen Stufen ihrer Entwicklung so häufig alten und ausgestorbenen, zu der nämlichen Classe gehörenden Formen ähnlich sind. Nach dieser Ansicht von der Bedeutung embryonaler Ähnlichkeiten, und in der That auch nach jeder[279] andern, ist es unglaublich, dass ein Thier solche augenblickliche und abrupte Umbildungen, wie die oben angedeuteten, erfahren haben sollte, ohne dass es in seinem embryonalen Zustand auch nur eine Spur irgend einer plötzlichen Modification darböte, da eben jede Einzelnheit seines Körperbaues durch unmerkbar feine Abstufungen entwickelt wurde.

Wer da glaubt, dass irgend eine alte Form plötzlich durch eine innere Kraft oder Tendenz z.B. in eine mit Flügeln versehene Form umgewandelt worden sei, wird beinahe zu der Annahme genöthigt, dass im Widerspruch mit aller Analogie, viele Individuen gleichzeitig abgeändert haben. Es kann nicht geleugnet werden, dass derartige grosse und abrupte Veränderungen im Bau von denen weit verschieden sind, welche die meisten Species augenscheinlich erlitten haben. Er wird ferner zu glauben genöthigt sein, dass viele, allen übrigen Theilen des nämlichen Wesens und den umgebenden Bedingungen wunderschön angepassten Structureinrichtungen plötzlich erzeugt worden sind; und für solche complicierte und wunderbare gegenseitige Anpassungen wird er auch nicht einen Schatten einer Erklärung beizubringen im Stande sein. Er wird gezwungen sein, anzunehmen, dass diese grossen und plötzlichen Umbildungen keine Spur ihrer Einwirkung im Embryo zurückgelassen haben. Alles dies annehmen, heisst aber, wie mir scheint, in den Bereich des Wunders eintreten und den der Wissenschaft verlassen.

Quelle:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. Stuttgart 91899, S. 233-280.
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