Erster Abschnitt.

[20] Der gesunde Verstand ist das, was in der Welt am besten vertheilt ist; denn Jedermann meint damit so gut versehen zu sein, dass selbst Personen, die in allen anderen Dingen schwer zu befriedigen sind, doch an Verstand nicht mehr, als sie haben, sich zu wünschen pflegen. Da sich schwerlich alle Welt hierin täuscht, so erhellt, dass das Vermögen, richtig zu urtheilen und die Wahrheit von der Unwahrheit zu unterscheiden, worin eigentlich das besteht, was man gesunden Verstand nennt, von Natur bei allen Menschen gleich ist, und dass mithin die Verschiedenheit der Meinungen nicht davon kommt, dass der Eine mehr Verstand als der Andere hat, sondern dass wir mit unseren Gedanken verschiedene Wege verfolgen und nicht dieselben Dinge betrachten. Denn es kommt nicht blos auf den gesunden Verstand, sondern wesentlich auch auf dessen gute Anwendung an. Die grössten Geister sind der grössten Laster so gut wie der grössten Tugenden fähig, und auch die, welche nur langsam gehen, können doch weit vorwärts kommen, wenn sie den geraden Weg einhalten und nicht, wie Andere, zwar laufen, aber sich davon entfernen.

Ich selbst habe nie meinen Geist im Allgemeinen für vollkommener als den Anderer gehalten, aber oft habe ich mir die schnelle Auffassung oder die scharfe und bestimmte Vorstellungskraft oder das gleich umfassende und schnelle Gedächtniss Anderer gewünscht. Nach meiner[20] Einsicht dienen nur diese Eigenschaften zur Vervollkommnung des Geistes; denn wenn auch die Vernunft oder der Verstand allein uns zu Menschen macht und von den Thieren unterscheidet, so möchte ich doch glauben, dass dieser in Jedem ein Ganzes ist, und hierin den Philosophen beitreten, welche das Mehr oder Weniger nur bei den Accidenzen annehmen, aber nicht bei den Formen oder Naturen der Einzelnen einer Gattung.

Aber ich scheue mich nicht zu sagen, dass ich viel Glück gehabt und seit meiner Jugend mich auf Wegen befunden habe, welche mich zu Betrachtungen und Regeln geleitet, aus denen ich eine Methode gebildet habe, die mir geeignet scheint, allmählich meine Kenntnisse zu vermehren und sie nach und nach auf den höchsten Punkt zu erheben, welchen die Mittelmässigkeit meines Geistes und die kurze Dauer meines Lebens zu erreichen gestatten. Denn ich habe schon solche Früchte von ihr geerntet, obgleich ich nach dem, wie ich mich kenne, mehr zu Zweifeln als zu anmasslichen Behauptungen neige. Betrachte ich die verschiedenen Handlungen und Unternehmungen der Menschen mit dem Auge des Philosophen, so scheinen sie mir alle eitel und unnütz. Ich empfinde deshalb eine hohe Befriedigung über die Fortschritte, die ich bereits in der Erforschung der Wahrheit gemacht zu haben glaube, und hoffe so viel von der Zukunft, dass unter allen Beschäftigungen der Menschen, als solche, die von mir erwählte mir allein als wahrhaft gut und werthvoll erscheint.

Trotzdem kann ich mich irren, und es ist vielleicht nur Kupfer und Glas, was ich für Gold und Diamanten nehme. Ich weiss, wie leicht man sich in eigenen Angelegenheiten täuscht, und wie verdächtig selbst die günstigen Urtheile der Freunde uns sein müssen. Aber ich werde mit Vergnügen in dieser Abhandlung die von mir vorgeschlagenen Wege schildern und mein Leben wie in einem Gemälde aufrollen, damit Jeder selbst urtheilen[21] könne. Wenn mir von diesen Urtheilen später etwas zu Ohren kommt, so soll es ein neues Mittel der Belehrung für mich werden, was ich zu den von mir geübten hinzufügen werde.

Meine Absicht ist also hier nicht, die Methode zu lehren, die Jeder zur richtigen Leitung seines Verstandes zu befolgen habe, sondern ich will nur zeigen, wie ich den meinigen zu leiten gestrebt habe. Wer Lehren geben will, muss sich für klüger halten als die, an welche er sich richtet, und bei dem geringsten Versehen trifft ihn der Tadel. Ich biete daher diese Schrift nur als eine Erzählung oder, wenn man lieber will, als eine Fabel dar, wo neben nachahmenswerthen Beispielen sich vielleicht auch manche finden, denen man mit Recht nicht folgen mag. So hoffe ich, dass sie Manchem nützen und Niemandem schaden werde, und dass Alle mir für meine Offenheit Dank wissen werden.

Ich bin seit meiner Kindheit in den Wissenschaften unterrichtet worden, und da man mich versicherte, dass dadurch eine klare und sichere Kenntniss von allem zum Leben Nützlichen gewonnen werde, so entstand in mir das dringende Verlangen, sie zu erlernen. Sobald ich jedoch die Studien vollendet hatte, nach deren Abschluss man unter die Klasse der Gelehrten aufgenommen zu werden pflegt, änderte sich meine Ansicht gänzlich. Denn ich sah mich von so viel Zweifeln und Irrthümern bedrängt, dass ich von meinen Studien nur den einen Vortheil hatte, meine Unwissenheit mehr und mehr einzusehen. Und dennoch befand ich mich in einer der berühmtesten Schulen Europa's, in welcher, wenn es irgendwo gelehrte Männer gab, dergleichen sein mussten. Ich hatte Alles gelernt, was die Andern daselbst lernten; ich hatte sogar mich nicht mit den Wissenschaften, die man uns lehrte, begnügt, sondern alle Bücher durchlesen, die von den seltensten und wissenswürdigsten Dingen handelten und mir in die Hände fielen. Daneben kannte ich die Urtheile Anderer über mich, und ich wusste, dass man mich nicht unter meine Mitschüler stellte, ob gleich manche darunter die Stelle unserer Lehrer auszufüllen bestimmt waren. Auch hielt ich dieses Jahrhundert für so frisch und fruchtbar an guten Köpfen als irgend ein vorhergegangenes. So nahm ich mir die Freiheit, die Andern[22] nach mir zu beurtheilen und an keine solche Lehre in der Welt zu glauben, wie man sie früher mich hatte hoffen lassen.

Ich verachtete jedoch deshalb die Arbeiten nicht, mit denen man in den Schulen sich beschäftigte. Ich erkannte, dass die hier gelehrten Sprachen zum Verständniss der alten Bücher nöthig sind; dass die Zierlichkeit der Fabeln den Geist weckt; dass die merkwürdigen Thaten in der Geschichte ihn erheben und, mit Einsicht gelesen, das Urtheil bilden helfen. Das Lesen der guten Bücher gleicht einer Unterhaltung mit ihren Verfassern, als den besten Männern vergangener Zeiten, und zwar einer auserlesenen Unterhaltung, in welcher sie uns nur ihre besten Gedanken offenbaren. Ebenso hat die Beredsamkeit ihre Macht und unvergleichliche Schönheit; die Dichtkunst hat ihre Feinheiten und entzückenden Genüsse; die Mathematiker zeigen ihre scharfsinnigen Erfindungen, welche ebensowohl den Wissbegierigen befriedigen, wie den Künsten zu Statten kommen und die menschliche Arbeit erleichtern. Ebenso enthalten die moralischen Schriften viele nützliche Belehrungen und Ermahnungen zur Tugend; die Gottesgelahrtheit lehrt den Himmel gewinnen; die Philosophie gewährt die Mittel, über Alles zuverlässig zu sprechen und von den weniger Gelehrten sich bewundern zu lassen; die Rechtswissenschaft, die Medizin und die anderen Wissenschaften bringen ihren Jüngern Ehre und Reichthum; endlich ist es gut, wenn man sie alle geprüft hat, um ihren wahren Werth zu erkennen und sich vor Betrug zu schützen.

Indess meinte ich schon zu viel Zeit auf die Sprachen und selbst auf die alten Bücher, ihre Geschichten und Fabeln verwendet zu haben; denn die Unterhaltung mit Personen aus früheren Jahrhunderten ist wie das Reisen. Es ist gut, wenn man mit den Sitten verschiedener Völker bekannt wird, um über die unsrigen ein gesundes Urtheil zu gewinnen und nicht zu glauben, dass Alles, was gegen unsere Gebräuche läuft, lächerlich oder unvernünftig sei, wie dies leicht von dem geschieht, der nichts gesellen hat. Verwendet man aber zu viel Zeit auf das Reisen, so wird man zuletzt in seinem eigenen Vaterlande fremd, und bekümmert man sich zu sehr um das, was in vergangenen Jahrhunderten geschehen, so bleibt man meist[23] sehr unwissend in dem, was in dem gegenwärtigen vorgeht. Ausserdem lassen die Fabeln Vieles für möglich halten, was es nicht ist, und selbst die zuverlässigsten Geschichtschreiber verändern oder vergrössern die Bedeutung der Ereignisse, um sie lesenswerther zu machen, oder sie lassen wenigstens die geringen und weniger glänzenden Umstände bei Seite, so dass der Ueberrest nicht mehr so bleibt, wie er ist. So gerathen die, welche ihr Verhalten nach diesen Beispielen einrichten, leicht in die Tollheiten unserer Ritterromane und fassen Pläne, die ihre Kräfte übersteigen.

Ich schätzte die Beredsamkeit hoch und liebte die Dichtkunst; aber ich hielt beide mehr für Geschenke der Natur als für Früchte des Fleisses. Wer den besten Verstand hat und seine Gedanken am richtigsten ordnet und am klarsten und verständlichsten ausdrückt, wird seine Aussprüche am besten vertheidigen, wenn es auch in schlechtem Dialekt geschieht, und er nie die Beredsamkeit gelernt hat. Ebenso sind die, welche die ansprechendsten Einfälle haben und sie am zierlichsten und gefühlvollsten schildern können, die besten Dichter, auch wenn die Dichtkunst ihnen unbekannt geblieben ist.

Ich erfreute mich vorzüglich an der Mathematik wegen der Gewissheit und Sicherheit ihrer Beweise; allein ich erkannte ihren Nutzen noch nicht. Ich meinte, sie diene nur den mechanischen Künsten, und wunderte mich, dass man auf ihren festen und dauerhaften Grundlagen nichts Höheres aufgebaut hatte. Umgekehrt erschienen mir die moralischen Schriften der alten Heiden wie prächtige und grossartige, aber auf Sand und Schmutz erbaute Paläste. Sie erheben die Tugend hoch und lassen sie als das Werthvollste von allen Dingen der Welt erscheinen, aber sie lehren sie nicht genug erkennen, und oft ist es nur eine Unempfindlichkeit oder ein Stolz oder eine Verzweiflung oder ein Vatermord, was sie mit dem schönen Namen der Tugend belegen.

Ich verehrte unsere Gottesgelahrtheit und mochte gleich jedem Anderen den Himmel verdienen; als ich indess erkannte, dass der Weg dahin den Unwissenden ebenso offen steht wie den Gelehrten, und dass die geoffenbarten Wahrheiten, welche dahin führen, unsere Einsicht übersteigen, so wagte ich es nicht, sie meiner schwachen Vernunft[24] zu unterbreiten; denn das Unternehmen ihrer Prüfung verlangt zu seinem Gelingen eines ausserordentlichen Beistandes des Himmels und einer mehr als menschlichen Kraft.

Von der Philosophie kann ich nur sagen, dass, obgleich sie seit vielen Jahrhunderten von den ausgezeichnetsten Geistern gepflegt worden, dessenungeachtet kein Satz darin unbestritten und folglich unzweifelhaft ist. Ich war nun nicht anmassend genug, um zu hoffen, dass es mir besser wie den Andern gelingen werde. Ich überlegte, wie vielerlei verschiedene Meinungen über einen Gegenstand von den Gelehrten vertheidigt werden, während doch die wahre nur eine sein kann, und deshalb galt mir selbst das Wahrscheinliche für falsch.

Was aber die übrigen Wissenschaften anlangt, die ihre Grundsätze von der Philosophie entlehnen, so meinte ich, dass man auf so unsicheren Unterlagen nichts Dauerhaftes errichten könne, und weder die Ehre, noch den Gewinn, den sie versprachen, konnten in mir den Wunsch, sie zu lernen, erwecken; denn, Gott sei Dank! nöthigten meine Verhältnisse mich nicht, aus der Wissenschaft ein Gewerbe für meinen Unterhalt zu machen. Ich verachtete zwar nicht den Ruhm, wie ein Cyniker, aber ich machte mir wenig aus einem solchen, den ich nur mit Unrecht verdiente. Endlich kannte ich bereits den Werth falscher Lehren hinlänglich, so dass die Versprechen der Alchymisten und die Weissagungen der Astrologen und die Betrügereien der Zauberer und die Kunststücke und Lobpreisungen derer mich nicht täuschen konnten, die ein Geschäft daraus machen, mehr zu wissen, als sie wissen.

Ich gab deshalb, sobald mein Alter mich der Aufsicht meiner Lehrer enthob, das Studium der Wissenschaften gänzlich auf. Ich verlangte nur noch nach der Wissenschaft, die ich in mir selbst oder in dem grossen Buche der Natur finden würde, und benutzte den Rest meiner Jugend zu Reisen. Ich sah die Höfe und die Kriegsheere, verkehrte mit Leuten jeden Standes und Temperamentes, sammelte mancherlei Erfahrungen, erprobte mich[25] in den Widerwärtigkeiten des Schicksals und betrachtete alle vorkommenden Dinge so, dass ich einen Nutzen daraus ziehen konnte. Es schien mir, dass ich viel mehr Wahrheit in den Betrachtungen finden konnte, die Jeder über die Dinge anstellt, die ihn betreffen, und deren Ausgang ihm bald die Strafe für ein falsches Urtheil bringt, als in denen, welche der Gelehrte in seinem Zimmer über nutzlose Spekulationen anstellt, die ihn höchstens um so eitler machen, je mehr er sich dabei von dem gesunden Verstande entfernen muss; denn umsomehr muss er Geist und Kunst aufwenden, um sie annehmbar zu machen. Ich hatte von jeher das eifrige Verlangen, den unterschied des Wahren und Falschen zu erkennen, um in meinen Handlungen klar zu sehen und im Leben mit Sicherheit vorzuschreiten.

Selbst bei der Betrachtung der Sitten Anderer fand ich nichts Zuverlässiges; ich sah hier beinahe dieselben Gegensätze wie früher in den Meinungen der Philosophen. Der wichtigste Vortheil, den ich davon zog, war die Einsicht, dass selbst die ausschweifendsten und lächerlichsten Dinge bei grossen Völkern allgemeine Annahme und Billigung finden können, und dass ich mich nicht zu sehr auf das verlassen dürfe, was mir selbst durch Beispiel und Gewohnheit beigebracht worden war.

So befreite ich mich nach und nach von vielen Irrthümern, die unser natürliches Licht verdunkeln und den Ausspruch der Vernunft uns weniger hören lassen; und nachdem ich so mehrere Jahre in dem Studium des Buches der Welt verbracht und einige Erfahrung zu sammeln versucht hatte, fasste ich eines Tages den Plan, auch mich selbst zu erforschen und alle meine Geisteskraft zur Auffindung des rechten Weges anzustrengen. Dies gelang mir auch, glaube ich, nunmehr viel besser, als wenn ich mich nie von meinem Vaterlande und von meinen Büchern entfernt gehabt hätte.[26]

Quelle:
René Descartes' philosophische Werke. Abteilung 1, Berlin 1870, S. 20-27.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der Vorzugsschüler / Der Herr Hofrat. Zwei Erzählungen

Der Vorzugsschüler / Der Herr Hofrat. Zwei Erzählungen

Zwei späte Novellen der Autorin, die feststellte: »Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: alle dummen Männer.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon