Erste Untersuchung.
Ueber das, was in Zweifel gezogen werden kann.

[19] Ich hatte schon vor mehreren Jähren bemerkt, wie viel Falsches ich in meiner Jugend für wahr gehalten hatte, und wie zweifelhaft Alles war, was ich darauf erbaut hatte. Ich meinte deshalb, dass im Leben einmal Alles bis auf den Grund umgestossen und von den ersten Fundamenten ab neu begonnen werden müsste, wenn ich irgend etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften[19] aufstellen wollte. Es schien dies jedoch ein ungeheures Unternehmen, und ich wartete das Alter ab, was so reif sein würde, dass ihm ein geschickteres zur Erwerbung der Wissenschaften nicht mehr nachkommen könne.

In Folge dessen habe ich so lange gezögert, dass ich zuletzt die Schuld trüge, wenn ich die zum Handeln noch übrige Zeit im Zaudern verbringen wollte. Zur passenden Zeit habe ich deshalb heute meine Seele von allen Sorgen losgemacht, mir eine ungestörte Müsse bereitet und ich trete in die Einsamkeit, um endlich ernst und frei zu dieser allgemeinen Ausrottung meiner bisherigen Meinungen zu schreiten. Dazu wird indess nicht nöthig sein, dass ich sie alle als falsch aufzeige, denn dies würde ich vielleicht nie vollbringen können; vielmehr räth die Vernunft, dass ich meine Zustimmung ebenso sorgfältig bei dem nicht ganz Gewissen und Unzweifelhaften zurückzuhalten habe wie bei dem offenbar Falschen, und deshalb genügt es, Alles zu verwerfen, wo ich irgend einen Grund zum Zweifel antreffen werde. Auch braucht deshalb nicht das Einzelne durchgegangen zu werden, was eine Arbeit ohne Ende sein würde; vielmehr werde ich, da mit der Untergrabung der Grundlagen alles darauf Errichtete von selbst zusammenstürzt, gleich zu diesen Grundlagen mich wenden, auf die Alles sich stutzt, was ich bisher für wahr gehalten habe.

Alles nämlich, was mir bisher am sichersten für wahr gegolten hat, habe ich von den Sinnen oder durch die Sinne empfangen; aber ich habe bemerkt, dass diese mitunter täuschen, und die Klugheit fordert, Denen niemals ganz zu trauen, die auch nur einmal uns getauscht haben. – Allein wenn auch die Sinne in Bezug auf Kleines und Entferntes bisweilen uns täuschen, so ist doch vielleicht das meiste derart, dass man daran nicht zweifeln kann, obgleich es aus den Sinnen geschöpft ist, z.B. dass ich hier bin, am Kamin, mit einem Winterrock angethan, sitze,[20] dieses Papier mit der Hand berühre, und Aehnliches. Mit welchem Grunde könnte man bestreiten, dass diese Hände, dieser ganze Körper der meinige sei? Ich müsste mich denn, ich weiss nicht welchen Wahnsinnigen, gleichstellen, deren Gehirn durch die steten Dünste schwarzer Galle so geschwächt ist, dass sie hartnäckig behaupten, Könige zu sein, während sie bettelarm sind, oder in Purpur gekleidet zu sein, während sie nackt sind, oder einen thönernen Kopf zu haben, oder nur ein Kürbis zu sein, oder ganz aus Glas zusammengeblasen zu sein. Dies sind jedoch Wahnsinnige, und ich selbst würde als ein solcher gelten, wenn ich die von ihnen entlehnten Beispiele auf mich übertragen wollte. –

Dies klingt sehr schön; aber bin ich nicht ein Mensch, der des Nachts zu schlafen pflegt und Alles dies im Traume erfährt? Ja mitunter noch Unwahrscheinlicheres als das, was Jenen im Wachen begegnet? Wie oft kommt es nicht vor, dass der nächtliche Traum mir sagt, ich sei hier, mit dem Rock bekleidet, sitze am Kamin, während ich doch mit abgelegten Kleidern im Bette liege! – Aber jetzt schaue ich sicher mit wachen Augen auf das Papier; das Haupt, das ich bewege, ist nicht eingeschläfert; ich strecke wissentlich und absichtlich diese Hand aus und fühle, dass dies so bestimmt einem Träumenden nicht begegnen könnte. – Aber entsinne ich mich nicht, dass ich von ähnlichen Gedanken auch schon im Traume getäuscht worden bin? – Indem ich dies aufmerksamer bedenke, bemerke ich deutlich, dass das Wachen durch kein sicheres Kennzeichen von dem Traume unterschieden werden kann, so dass ich erschrecke, und dieses Staunen mich beinahe in der Meinung bestärkt, dass ich träume. –

Wohlan denn; mögen wir träumen, und jenes Einzelne keine Wahrheit haben, dass wir die Augen öffnen, den Kopf bewegen, die Hände ausstrecken; ja wir haben vielleicht gar keine solchen Hände und keinen solchen Körper; dennoch muss anerkannt werden, dass man während der Ruhe gleichsam gemalte Bilder gesellen habe, die nur nach der Aehnlichkeit mit wirklichen Dingen erdacht werden konnten. Deshalb muss wenigstens das Allgemeine davon, die Augen, das Haupt, die Hände und der ganze Körper nicht als eingebildete, sondern als wirkliche Dinge bestellen. Denn selbst die Maler können, wenn sie[21] Sirenen und Satyrisken in den ungewöhnlichsten Gestalten zu bilden suchen, diesen keine durchaus neue Natur beilegen, sondern sie mischen nur die Glieder verschiedener Geschöpfe.

Ja selbst wenn sie etwas durchaus Neues, noch nie Gesehenes sich ausdenken, was mithin rein erdacht und unwahr ist, müssen doch wenigstens die Farben wirkliche sein, mit denen sie jenes darstellen. Wenn daher selbst diese Allgemeinheiten, wie die Augen, der Kopf, die Hände und Aehnliches nur Einbildungen sein sollten, so muss man doch aus dem angeführten Grunde zugestehen, dass nothwendig wenigstens gewisse andere, noch einfachere und noch allgemeinere Dinge wirklich seien. Dazu scheinen die Natur der Körper überhaupt und deren Ausdehnung zu gehören; ebenso die Gestalt der ausgedehnten Gegenstände und die Quantität oder die Grösse derselben und die Zahl; ebenso der Ort, wo sie sind, und die Zeit, während sie sind, und Aehnliches. Deshalb kann man hieraus wollt mit Recht folgern, dass zwar die Physik, die Astronomie, die Medizin und alle anderen Wissenschaften, welche von der Beobachtung der zusammengesetzten Körper abhängen, zweifelhaft sind; dass aber die Arithmetik, die Geometrie und andere solche, welche nur die einfachsten und allgemeinsten Gegenstände behandeln und sich darum wenig kümmern, ob diese in Wirklichkeit bestehen oder nicht, etwas Gewisses und Unzweifelhaftes enthalten. Denn ich mag schlafen oder wachen, so machen zwei und drei immer fünf, ein Viereck hat nie mehr als vier Seiten, und es scheint unmöglich, dass so offenbare Wahrheiten in den Verdacht der Falschheit kommen können.

Dennoch haftet in meiner Seele eine alte Ueberzeugung, dass es einen Gott giebt, der Alles kann, und der mich so, wie ich bin, geschaffen hat. Woher will ich nun wissen, dass, wenn weder die Erde noch der Himmel noch ein ausgedehntes Ding noch eine Gestalt noch ein Ort beständen, Gott es unmöglich wäre, zu bewirken, dass dennoch Alles dies, so wie jetzt, mir da zu sein schiene? Auch kann, so wie Andere nach meiner Ansicht sich sogar in dem irren, was sie auf das vollkommenste zu wissen meinen, auch ich mich irren, wenn ich zwei und drei zusammenrechne oder die Seiten eines[22] Vierecks zähle, oder sonst etwas, was man sich als noch leichter ausdenken könnte. – Aber vielleicht hat Gott mich nicht so täuschen wollen, denn er heisst ja der Allgütige? – Allein wenn es seiner Güte widersprochen hätte, mich zu schaffen, dass ich immer getäuscht würde, so würde es sich mit ihr ebensowenig vertragen, dass ich bisweilen getäuscht würde, und doch kann man dies nicht bestreiten. – Vielleicht giebt es Menschen, die lieber einen allmächtigen Gott leugnen, als alle anderen Dinge für ungewiss halten. Wir wollen diesen nicht entgegentreten und zugeben, dass all diese Angaben über Gott erdichtet seien. Mögen sie nun annehmen, dass ich durch das Schicksal oder durch Zufall oder durch die fortlaufende Kette der Dinge oder sonst das geworden bin, was ich bin; so ist doch, wenn mein Dasein wegen der in dem Getäuschtwerden und Irren enthaltenen Unvollkommenheit nicht von einem allmächtigen Schöpfer abgeleitet werden kann, es um so wahrscheinlicher, dass ich unvollkommen bin und immer getäuscht werde.

Auf diese Beweisgründe habe ich keine Antwort, vielmehr bin ich nunmehr genöthigt, anzuerkennen, dass Alles, was ich früher für wahr hielt, in Zweifel gezogen werden kann, und zwar nicht aus Uebereilung oder Leichtsinn, sondern aus triftigen und wohlerwogenen Gründen. Ich habe deshalb meine Zustimmung ebenso hiervon, wie von dem offenbar Falschen, künftig mit Sorgfalt abzuhalten, wenn ich überhaupt etwas Gewisses erreichen will. Aber es genügt noch nicht, dies bemerkt zu haben; ich muss auch sorgen, es festzuhalten. Denn die gewohnten Meinungen kehren immer wieder und nehmen meinen Glauben selbst gegen meinen Willen in Beschlag, gleich als wäre er durch lange Hebung und vertrauliche Bande an sie gefesselt. Ich werde nie davon loskommen, ihnen beizustimmen und zu vertrauen, so lange ich die Dinge so nehme, wie sie sind, nämlich zwar als einigermassen zweifelhaft, wie gezeigt worden, aber doch von solcher Wahrscheinlichkeit, dass es vernünftiger ist, sie zu glauben, als zu bestreiten. Ich werde deshalb vielleicht nicht unrichtig verfahren, wenn ich, in gerade entgegengesetzter Absicht, mich selbst täusche und jenes Alles eine Zeitlang für durchaus unwahr und eingebildet setze, bis durch Ausgleichung des Gewichts der Vorurtheile auf beiden Seiten[23] keine üble Gewohnheit mehr mein Urtheil von der wahren Erkenntniss der Dinge abwendet. Denn ich weiss, dass daraus inmittelst keine Gefahr und kein Irrthum hervorgehen wird, und dass ich mich dem Misstrauen nicht zu stark hingeben kann, da es sich hier nicht um die Ausführung, sondern nur um die Erkenntniss der Dinge handelt.

Ich will also annehmen, dass nicht der allgütige Gott die Quelle der Wahrheit ist, sondern dass ein boshafter Geist, der zugleich höchst mächtig und listig ist, all seine Klugheit anwendet, um mich zu täuschen; ich will annehmen, dass der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben, die Gestalten, die Tone und alles Aeusserliche nur das Spiel von Träumen ist, wodurch er meiner Leichtgläubigkeit Fallen stellt; ich werde von mir selbst annehmen, dass ich keine Hände habe, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, keine Sinne, sondern dass ich mir nur den Besitz derselben fälschlich einbilde; ich werde hartnäckig in dieser Meinung verharren und so, wenn es mir auch nicht möglich ist, etwas Wahres zu erkennen, wenigstens nach meinen Kräften es erreichen, dass ich dem unwahren nicht zustimme, und mit festem Willen mich vorsehen, um nicht von jenem Betrüger trotz seiner Macht und List hintergangen zu werden. Aber dieses Unternehmen ist mühevoll, und eine gewisse Trägheit lässt mich in das gewohnte Leben zurückfallen. Wie ein Gefangener, der zufällig im Traume einer eingebildeten Freiheit genoss, bei dem späteren Argwohn, dass er nur träume, sich fürchtet, aufzuwachen, und deshalb den schmeichlerischen Täuschungen sich lange hingiebt, so falle ich von selbst in die alten Meinungen zurück und scheue das Erwachen, damit nicht der lieblichen Ruhe ein arbeitsvolles Erwachen folge, was, statt in hellem Licht, in der unvertilgbaren Finsterniss der angeregten Schwierigkeiten verbracht werden muss.[24]

Quelle:
René Descartes' philosophische Werke. Abteilung 2, Berlin 1870, S. 19-25.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon