In Schulpforta.
1859–1864.

[59] Die beschränkte Vermögenslage der Eltern war wohl ursprünglich der Grund dafür gewesen, daß man schon vor einigen Jahren um eine der wenigen königlichen Freistellen in Schulpforta – denn wohl nur solche standen mir als Rheinländer offen – nachgesucht hatte. Das Gesuch war auf die Zukunft vertröstet worden, und wir hatten schon den Glauben an seine Verwirklichung verloren, auch die Sache nahezu vergessen, als während der Herbstferien 1859 in Oberdreis die überraschende Nachricht eintraf, daß mir eine königliche Freistelle in Pforta zuerkannt worden sei, und daß ich mich dort Ende September zur Aufnahmeprüfung einzufinden habe.

Als der Tag der Abreise kam, begleiteten mich alle bis Dierdorf und nahmen Abschied von mir wie von einem, der ins Kloster geht und auf lange Zeit der Welt und ihren Freuden Valet sagt. Mein Vater allein begleitete mich auf der weiteren Reise, welche infolge der damals noch sehr unvollkommenen Reiseverbindung über Neuwied, Mainz, Frankfurt, Marburg und Eisenach nach Kösen und Pforta führen sollte. Man wußte, daß in Pforta die Kenntnis des lutherischen Katechismus verlangt wurde, der mir ganz unbekannt war, da ich mich in Oberdreis mit dem Heidelberger, in Elberfeld mit dem Lampenbuch hatte abquälen müssen. Um diesem Mangel abzuhelfen, kaufte mein Vater unterwegs in Neuwied den kleinen lutherischen Katechismus und übergab ihn mir kurzerhand mit der Aufforderung, diesen[60] Katechismus während der Reise auf Dampfschiff und Eisenbahn auswendig zu lernen. Dies war natürlich unmöglich, und auch mein Vater wirkte nur insoweit darauf hin, als er gelegentlich, wenn er sich ein Glas Wein oder derartiges genehmigte, woran ich nicht teilnehmen sollte, zu mir zu sagen pflegte: »Du erhältst nichts davon mit, weil du deinen Katechismus noch nicht kennst.«

In Frankfurt stiegen wir im Hotel Drexel ab und verweilten einige Tage, machten auch einen Besuch bei entfernten Verwandten meines Vaters in Offenbach. Damals, Herbst 1859, lebte in Frankfurt noch der Mann, der späterhin auf mein Denken und Leben einen unermeßlichen Einfluß gewinnen sollte, so daß ich ihn als meinen geistigen Vater ansehen muß. Es war das einzige Mal, daß ich in demselben Dunstkreise mit Arthur Schopenhauer weilte, ohne daß mein Vater auch nur daran dachte, mich diesem größten Genius seiner Zeit zuzuführen, den er vermutlich nicht einmal dem Namen nach kannte.

Statt dessen schleppte er mich in Marburg, wo wir wieder einige Tage blieben, zu seinen alten Studienfreunden Münscher, Direktor des dortigen Gymnasiums, und dem alten Justi, der sich im Glanze seiner beiden eben damals als junge Talente aufleuchtenden Söhne zu sonnen pflegte. Ohne Unterbrechung ging es dann weiter, bis Kösen, wo wir im »Mutigen Ritter« abstiegen und mit verschiedenen andern Rezeptionspapas und ihren Söhnen zusammentrafen. Mit den letzteren war sehr bald Bekanntschaft geschlossen, und wir verglichen, wie es ja natürlich war, unsere Kenntnisse und die Aussichten, welche wir bei der auf übermorgen, auf Montag, angesetzten Aufnahmeprüfung an dieselben knüpften. Bei dieser Gelegenheit fragte ich auch darnach, ob wirklich der lutherische Katechismus gefordert werde, und erhielt von einem, der aus der Nähe stammte und mit den Verhältnissen vertraut zu sein schien, die niederschmetternde Antwort: »Ja, wer den lutherischen Katechismus nicht kann, der kann überhaupt nicht aufgenommen werden und wird ohne weiteres abgewiesen.« Meine Bestürzung war grenzenlos. Meinem Vater wagte ich nichts zu sagen. Aber lange stand ich in trübes Sinnen versunken an dem Wasser, welches sich über ein Mühlrad ergoß, und dachte bei mir, daß es vielleicht besser wäre, dort unten in[61] der Tiefe des schäumenden Wassers zu liegen, als eine Beschämung zu erdulden, wie sie mir bevorstand.

Der Montag kam, und um acht Uhr morgens waren alle Novizen in der Aula versammelt. Es wurde etwas Deutsches diktiert, welches wir schriftlich ins Lateinische, und anderes, welches wir ins Griechische zu übersetzen hatten. Ich glaubte mich dabei leidlich aus der Sache gezogen zu haben, und ließ mir gern ein um 10 Uhr uns vorgesetztes Frühstück munden. Dann wurden wir wieder hereinberufen, alle im Halbkreis um das Katheder aufgestellt, und in unsere Mitte trat der geistliche Inspektor, Professor Niese, und begann mit den Worten: »Nun wollen wir einmal sehen, wie es mit dem Katechismus steht.« Mir schlotterten die Knie. Zwar die erste Frage an mich betraf einen der drei Artikel des christlichen Glaubens, welche mir natürlich geläufig waren. Als aber wieder die Reihe an mich kam, da sollte ich eines jener fürchterlichen »Was ist das« hersagen, in welchem von Kleidern und Schuhen, von Haus und Hof und allen möglichen Dingen die Rede ist. Ich wußte kein Wort davon, und stammelte nur heraus: »Ich – ich – habe den Heidelberger Katechismus gehabt.« – »So, Sie sind reformiert?« fragte der Geistliche und ging zum folgenden über. Nun zitterte ich davor, daß der Herr mich im Heidelberger prüfen möchte, in dem ich ebenfalls trotz allen Tanten Elisen nicht sehr Bescheid wußte, und meine Angst legte sich erst, als die Katechisation ohne auf mich zurückzukommen zu Ende ging, und nun andere Lehrer mit andern Fächern folgten, denen ich, von einem schweren Druck befreit, in gehobener Stimmung, ja fast übermütig standhielt. Das Resultat der Prüfung war, daß ich, der ich in Elberfeld als einer der Besten nach Untersekunda aufgerückt war, in Pforta als Letzter in der Obertertia meinen Platz zugewiesen erhielt.

Pforta war für mich eine neue Welt und eine solche, in die ich mich anfangs schwer finden konnte. Ich war schon zu sehr an ein freies Leben gewöhnt, um die Schulordnung nicht als eine schwere Fessel zu empfinden, und mein harmloses, offenherziges Rheinländergemüt paßte in das zeremonielle und zu strengem Rangesunterschied neigende Wesen des Ostens nicht hinein. Das Ganze kam mir lächerlich vor, und ich versuchte zu Anfang die[62] strenge Schulordnung, die Unterordnung unter Stuben- und Tischältesten humoristisch zu nehmen, kam aber damit schlecht an; mein freies Wesen wurde als »unverschämt« bezeichnet und veranlaßte Bedrückung von oben, Quälereien von den mir nebengeordneten Kameraden. Namentlich erschöpfte man sich darin, immer neue Spitznamen für mich zu erfinden, deren ich wohl mehr getragen habe als irgendein anderer.

Da auch Pforta in den letzten vierzig Jahren den Wandel der Zeit an sich erfahren hat, so wird es nicht überflüssig sein, von dem Pforta, wie ich es 1859–1864 gekannt habe, den Nachgeborenen eine kurze Schilderung zu geben.

Alle 180, auf die sechs Klassen von Oberprima bis Untertertia verteilten Alumnen erhielten Unterricht und Nahrung, Wohnung und Schlafstelle unter ein und demselben Dache, in einem alten, riesengroßen Klostergebäude.

Eine Treppe hoch im Schulhause gelangte man von einem langen zum Spazierengehen benutzten Korridor in die fünfzehn Wohnstuben, gewöhnlich drei, stellenweise zwei oder vier Tische enthaltend, an deren jedem ein Primaner, ein Sekundaner und zwei Tertianer zu sitzen pflegten. Der Primaner hatte den Fensterplatz und einen größeren Schrank, mit Pultklappe, die übrigen hatten ihre Schränke an den Wänden und ihren Sitz am Tische, von dem sie während der Arbeitsstunden nicht aufstehen durften.

Zwei Treppen hoch waren unter dem Dach und teilweise mit Mansardenfenstern versehen die sechs großen Schlafsäle eingerichtet, zu welchen man abends um 9 Uhr unter Verlesung der Namen in Gegenwart des wachthabenden Lehrers hinaufstieg, nur mit Pantoffeln und Strümpfen, Hose, Hemd und Rock bekleidet, das Handtuch mit Seife, Glas und Zahnbürste mit hinaufnehmend. Man schlief in eisernen Bettstellen; am Fußende befanden sich Hängevorrichtungen, sowie der Name des Inhabers.

Frühmorgens im Winter um 6, im Sommer um 5 Uhr, mischte sich in die letzten süßen Morgenträume das fatale Läuten der Schulglocke, und alsbald ertönte der Ruf des Schlafsaalinspektors: »Steht auf! steht auf! Macht rasch! macht rasch!« Dann mußte man bei Strafe in einer Minute aus dem Bette[63] sein, ergriff Handtuch, Glas und Zahnbürste und eilte damit zwei Treppen hinunter in die Waschstube. In fürchterlicher Enge drängten sich hier die 180 Knaben um die fünfzehn vorhandenen Waschbecken, welche man sich dadurch sicherte, daß man bei dem Inhaber oder seinem letzten Nachfolger »besetzte« und dann, immer in der Angst sich zu verspäten, abwarten mußte, bis man an die Reihe kam. Mitten durch die Waschstube lief eine Rinne, in die das Wasser ausgegossen und über der die Zähne geputzt wurden. Unaufhörlich erschallten von allen Seiten die Rufe: »Bahn! Bahn! Spuckt nicht! spuckt nicht!« Um 61/2 oder 51/2 Uhr mußte alles in der Aula zum Gebet versammelt sein, dann gab es auf den Stuben Brötchen und Milch und von 7 oder 6 bis 12 Uhr waren teils Lektionen, teils Repetierstunden auf den Stuben. Um 12 Uhr zog man unter Aufsicht des Lehrers in den Speisesaal; einer der Inspektoren sprach ein Gebet und dann stimmten alle 180, vor ihren Plätzen stehend, in einen alten lateinischen, die Trinität verherrlichenden Gesang ein, der jedem gewesenen Pförtner solange er lebt, in den Ohren klingen und dröhnen wird. Die Worte lauteten:


Gloria tibi Trinitas

Aequalis una deitas

Et ante omne saeculum

Et nunc et in perpetuum.


Weder das schlechte Latein noch die in der freisinnigen Pforta auffallende dogmatische Engherzigkeit dieser Strophen wurden von den auf das Essen gerichteten Gemütern empfunden. Kaum war der Gesang verhallt, so stürzte sich alles auf die Plätze, und das Geklapper der Teller und Löffel mischte sich in die nach längerem Schweigen nunmehr zwanglos fließende Unterhaltung. Das Essen ließ zwar nach der Qualität manches zu wünschen übrig, war aber, namentlich auch die Fleischrationen, reichlich, und als ich von Pforta nach Jahresfrist in die Ferien zurückkehrte, war ich um einen halben Kopf größer geworden.

Mittags nach dem Essen war bis 2 Uhr schulgartenfrei: bis 1/22 Uhr durfte sich ohne besondere Gründe niemand auf den Stuben blicken lassen. Im Schulgarten war der südliche, mit Buschwerk bewachsene Abhang in sechs Teile zerlegt und den[64] sechs Klassen als ihre »Plätze« zugewiesen. Das Rauchen war damals allen streng verboten, doch übten es die Primaner, welche nicht mehr unter Aufsicht der Inspektoren, sondern nur unter der der Lehrer standen, auf dem Primanerplatze wie auch auf Spaziergängen und im Wirtshause; und auch auf dem Obersekundanerplatze konnte man täglich duftige blaue Wolken aufsteigen sehen; und die Inspektoren enthielten sich des Eingreifens, indem sie den Brauch gleichwie ein altes Privilegium respektierten.

Geregelt, wie der Vormittag, waren auch die weiteren Tagesstunden. Von 2 bis 4 Uhr waren Lektionen, von 4 bis 5 Uhr Lesestunde, d.h. eine Unterrichtsstunde, welche der Primaner den an seinem Tisch ansässigen und ihm unterstellten Tertianern zu geben hatte. Von 5 bis 7 Uhr war wieder Arbeitsstunde, um 7 Uhr Abendbrot und schulhausfrei bis 8 Uhr, von 8 bis 9 Uhr Arbeitsstunde und Gebet, und um 9 Uhr wurden Sekundaner und Tertianer auf die Schlafsäle hinaufgezählt, während die Primaner erst um 10 Uhr nachfolgten.

Diese ausgezeichnete Hausordnung unterlag der Aufsicht eines einzigen Lehrers, der jede Woche wechselte, des sogenannten Hebdomadarius, welcher mit Hilfe seines Famulus, »ein Ehrenposten«, zu dem nur die besten Schüler gelangten, von Morgen bis Abend die Ordnung in Speisesaal, Betsaal und Schlafsälen aufrechthielt, auch während der Arbeitsstunden. Als Stubenälteste der 15 Stuben funktionierten die 15 Inspektoren, eine Würde, welche den ältesten Primanern für ein bis zwei Semester zufiel. Sie sorgten für Ruhe und Ordnung in den Stuben, während zwei unter ihnen als Wocheninspektoren auch die Disziplin im Betsaal, vor dem Speisesaal und auf den Schlafsälen in Abwesenheit des Lehrers aufrechtzuhalten hatten.

Über die Primaner hatten sie keine Gewalt, aber Sekundaner und Tertianer mußten ihren Ordnungen folgen; die Tertianer waren außerdem noch in Arbeit und Betragen der Aufsicht des an ihrem Tische präsidierenden Primaners als »Obergesellen« unterstellt. Auch strafen durften die Inspektoren. Den Sekundanern erteilten sie Striche, bei deren vieren in einer Woche der Delinquent auf der Inspektionsstube dem Lehrer angezeigt wurde.[65] Tertianer wurden bei kleinen Vergehen von den Inspektoren durch den Ruf Zu mir! veranlaßt, sich abends bei dem Inspektor zu stellen, der dann den Fall näher untersuchte und je nach Umständen den Betreffenden eine Strafarbeit, ein sogenanntes Kapitel auferlegte. Größere Vergehen wie Rauchen, Kochen, Prellen (Verlassen der Anstalt ohne Erlaubnis) usw. wurden vor die Synode, d.h. die jeden Sonnabend tagende Versammlung der Lehrer, gebracht und bei Primanern und Sekundanern je nach Umständen mit zwei bis drei Stunden Karzer bestraft. Eine mildere Strafe, welche ebenfalls nur die Lehrer verhängen konnten, bestand in der »Dispensation« von dem sonntäglichen Spaziergange. Die härteste Strafe, welche jedoch nur selten und auch dann fast ausschließlich in den unteren Klassen verhängt wurde, war das »Karieren«. Der Betreffende erhielt kein Mittagessen und mußte, mit einem Buche in der Hand und allen sichtbar, zusehen, wie die andern speisten. Wer es erst soweit getrieben hatte, der stand in Gefahr, bei der ersten Gelegenheit »geschwenkt«, d.h. fortgeschickt zu werden. Diese Möglichkeit, widerspenstige oder unfähige Schüler zu entlassen, sicherte der Anstalt nicht nur das Vorrecht, nur begabtere Schüler aufzunehmen und zu behalten, sondern übte auch auf das Betragen der Schüler einen starken Druck aus. Es wurde im ganzen sehr wenig, in den oberen Klassen fast gar nicht mehr gestraft, und doch erhielt sich alles im schönsten Gleichgewicht. So hart es auch dem Neuling werden mochte, sich einer so streng geregelten Hausordnung einzufügen, so lag doch eine Art Ersatz darin, daß man von Semester zu Semester neue Privilegien eroberte, welche um so höher im Werte standen, je länger sie vorenthalten blieben. Allen war es erlaubt, am Sonntagnachmittag einundeinehalbe Stunde spazieren zu gehen, den Primanern war wenigstens späterhin täglich bis 2 Uhr Spazierengehen und Besuch bestimmter Wirtshäuser gestattet. Sie pflegten dann eiligst nach dem eine viertel Stunde entfernten Almrich zu streben, wo bei Kaffee, Bier und Billard auch dem verbotenen Rauchen gefrönt wurde. Erschien dann ein Lehrer, so flogen die Stummel unter den Tisch, den man dann wohl bald räumte. Es ist aber zu meiner Zeit vorgekommen, und ich selbst wurde davon mit betroffen, daß die Lehrer oder wie[66] wir zu sagen pflegten »die Kerle« unter den Tisch krochen und aus der Anzahl der gefundenen Stummel auf die Anzahl der Raucher schlossen, welche dementsprechend bestraft wurden. Die Sekundaner, welchen Almrich noch verwehrt war, gingen gewöhnlich nach Kösen in den »Mutigen Ritter«, wo sie bei einiger Wachsamkeit ohne Gefahr rauchen und Karten spielen konnten. Den Tertianern blieb nicht viel mehr übrig als der Kuchenbäcker Hämmerling in Kösen, und es war eine die ganze Woche hindurch tröstende und erwärmende Aussicht, dort unser wöchentlich aus zwei Groschen (25 Pfennig) bestehendes Taschengeld in einer Tasse Kaffee und einem Stückchen Schaumkuchen, wozu es gerade langte, anzulegen.

Noch ist in betreff des äußeren Lebens zu bemerken, daß schon während meiner Pförtnerzeit die strenge Schulordnung nach und nach sich etwas milder gestaltete, namentlich nach Fertigstellung des neuen Waschsaales, in welchem jeder sein eigenes Waschbecken haben konnte. Zwar wurde seitdem schon fünf Minuten vor 5 oder 6 Uhr aufgestanden und nach zwanzig Minuten mußte jeder fertig angezogen auf seinem Platze sitzen, worauf dann eine halbstündige Arbeitszeit, die sogenannte Halleweestunde (wohl Halbwegsstunde) und im Anschluß daran Frühstück, Morgenandacht im Betsaal und die erste Lektion folgte. Dafür aber war am Nachmittag von 4 bis 5 Uhr schulgartenfrei, und wir benutzten diese Stunde mit Vorliebe zum Kegeln und zum Turnen. Letzteres betrieb ich mit großem Eifer; schon konnte ich am Reck den halben Riesenschwung ausführen und übte den ganzen ein, welcher darin besteht, daß man wiederholt um das ganze Reck herumschwingt, ohne es anders als mit den beiden Händen zu berühren. Ich saß damals noch in Obertertia. Es war gerade Ausschlafetag (worüber unten) und ich blickte, als die Freistunde um 4 Uhr schlug, auf ein tüchtiges Stück Arbeit zurück, ich hatte an dem einen Tage das ganze zweite Buch von Xenophons Anabasis durchgelesen. Mit etwas benommenem Kopfe eilte ich in den Schulgarten an das große Reck. Die Stange war schlüpfrig, da es eben etwas geregnet hatte, nichtsdestoweniger übte ich den Riesenschwung, glitt aus und stürzte auf den Hinterkopf. Was dann weiter an diesem Tage sich ereignete, davon[67] hatte ich kein Bewußtsein. Nur einzelne Momente, wie man mich halb besinnungslos am Barren lehnend fand, und wie mein Nebengeselle Bendixsohn mir behilflich war, an meinem Schrank das Nötigste für die Krankenstube zusammenzupacken, wie ich dabei die Zahnbürste in die Stiefel stecken wollte und Bendixsohn sich dem widersetzte, – diese wenigen »lucida intervalla« waren mir in Erinnerung geblieben. Alles andere, wie man mich gefunden, wie ich närrische Reden führte, zur Krankelei (wie die Krankenstube hieß) gebracht wurde, dort Schröpfköpfe am Hinterkopf erhielt, deren Spuren noch heute zu sehen sind, und bewußtlos ins Bett gelegt wurde, das alles konnte ich nur aus den späteren Erzählungen erfahren. Erst am andern Morgen erwache ich zum Bewußtsein, wie aus wirren, wüsten Träumen, finde mich zu meiner Verwunderung mit dick verbundenem Kopfe im Bette des Isolierzimmers der Krankelei. Mehrere Wochen bedurfte ich zu meiner Wiederherstellung und kann noch von Glück sagen, daß der Unfall keine nachteiligen Spuren hinterlassen hat.

Ich war in Elberfeld als einer der Besten nach Untersekunda versetzt worden und trat in Pforta als einer der Schlechtesten in Obertertia ein. Im Griechischen, welches wir bei dem jetzigen Schulrat Franke hatten, war ich so schwach, daß ich bei einem Primaner Privatstunde nahm. Auch im Lateinischen bei Heine und später bei Heintze war ich keineswegs hervorragend, und mitunter wandelte mich das ängstliche Gefühl an, am Ende gar in Tertia sitzenzubleiben. Ich wurde allerdings nach Jahresfrist, Herbst 1860, nach Untersekunda versetzt, aber als einer der Schwächeren; wenigstens erinnere ich mich, daß ich meinen Sitz auf der letzten Bank hatte. Ich arbeitete mit der Gewissenhaftigkeit eines normalen Schülers, tat mich aber in keiner Weise hervor, und von Begeisterung für die Alten war noch keine Rede.

Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie ich als angehender Untersekundaner mir das Dilemma stellte: Komme ich in den oberen Klassen gut durch, so studiere ich Philologie, wenn nicht, dann Theologie. Ich malte mir als höchstes Zukunftsideal aus, wie ich als Lehrer eines Gymnasiums meine Stunden geben, und dann, verheiratet mit einem lieben Mädchen, etwa mit Marie[68] Dohl, wenn mir Ernst Schnabel bei Marie Stürmer den Rang ablaufen sollte, ein behagliches, gemütliches Dasein zu führen dachte. Aber wenn es wahr ist, daß der Mensch mit seinen größeren Zwecken wächst, so sollte sich an mir zunächst das Gegenteil bewähren, daß nämlich mit dem Wachstum des Menschen auch die Zwecke höher gesteckt werden.

Ordinarius in Untersekunda war Corssen, der alles, was er anfaßte, seinen Livius, das Machen lateinischer Verse, die deutsche Geschichte, welche er uns vortrug, mit Schneidigkeit, Feuer und Begeisterung trieb und auch in uns diese Eigenschaften zu wecken wußte. In den Weihnachtsferien 1860–61 durften wir unsern ersten lateinischen Aufsatz über Arminius ma chen. Ich war während der Ferien mit einer nicht beträchtlichen Anzahl in Pforta geblieben; die Schulordnung war weniger streng; eine bescheidene Weihnachtsbescherung und ein kümmerlicher Neujahrsball waren uns beschieden. Als ich von ihm zurückkehrend am 2. Januar mich wieder an den Arminius machte, mischte sich in die Gedanken an ihn die Nachricht, daß König Friedrich Wilhelm IV. in der Nacht vorher verstorben war.

Im Herbst 1858 war Nietzsche in Schulpforta eingetreten, und ich traf im Herbst 1859 in Obertertia in derselben Klasse und Ordnung mit ihm zusammen. Es war gerade Zwischenpause, und Nietzsche als damaliger Primus hatte das Ehrenamt, hin und her zu gehen und uns andere am Aufstehen von den Plätzen und an zu lautem Lärmen und Sprechen zu hindern. Ich saß ganz ruhig auf meinem Platze und kaute friedlich an meinem Frühstücksbrote, einem sogenannten Näckchen (vielleicht für »'n Eckchen«). Noch sehe ich Nietzsche, wie er mit dem unsichern Blick des hochgradig Kurzsichtigen über die Reihen irrte, vergeblich bemüht, einen Anlaß zum Einschreiten zu finden. Hierbei kam er vorüber, wo ich saß, beugte sich herab zu mir und sagte: »Sprechen Sie nicht so laut zu Ihrem Näckchen!« Dies waren die ersten Worte, die er je zu mir gesprochen hat. Ich weiß nicht mehr, was uns zuerst näher zusammenführte. Ich glaube, es war die gemeinsame Liebe zu Anakreon, für dessen Gedichte wir beide als Untersekundaner um so eifriger schwärmten, je weniger Schwierigkeiten das leichte Griechisch derselben dem Verständnisse entgegensetzte.[69] Wir rezitierten seine Verschen auf gemeinsamen Spaziergängen, wir schlossen einen Freundschaftsbund, indem wir – es war auf dem Schlafsaale, wo ich in meinem Koffer unter dem Bette unter andern Heimlichkeiten ein Päckchen Schnupftabak aufbewahrte – in einer weihevollen Stunde zusammenkamen, das in Pforta auch zwischen den Schülern übliche Sie mit dem nur für engere Freunde vorbehaltenen Du vertauschten und Brüderschaft, wenn auch nicht tranken, so doch schnupften. Ein neues Band zwischen uns knüpfte am Sonntag Lätare des Jahres 1861 die gemeinsame Konfirmation. Als die Konfirmanden paarweise zum Altar traten, um kniend die Weihe zu empfangen, da knieten Nietzsche und ich als nächste Freunde nebeneinander. Sehr wohl erinnere ich mich noch an die heilige, weltentrückende Stimmung, die uns während der Wochen vor und nach der Konfirmation erfüllte. Wir wären ganz bereit gewesen, sogleich abzuscheiden, um bei Christo zu sein, und all unser Denken, Fühlen und Treiben war von einer überirdischen Heiterkeit überstrahlt, welche freilich als ein künstlich gezüchtetes Pflänzlein nicht von Dauer sein konnte und sehr bald unter den alltäglichen Eindrücken des Lernens und Lebens ebenso schnell verflog, wie sie gekommen war. Indessen hielt eine gewisse Gläubigkeit noch bis über das Abiturientenexamen hinaus stand. Untergraben wurde dieselbe unmerklich durch die vorzügliche historisch-kritische Methode, mit welcher in Pforta die Alten traktiert wurden, und die sich dann ganz von selbst auf das biblische Gebiet übertrug, wie denn z.B. Steinhart im Hebräischen in Prima den 45. Psalm durchaus als ein weltliches Hochzeitslied erklärte.

Während der ganzen Zeit in Schulpforta blieb die engere Freundschaft mit Nietzsche bestehen, wenn auch nicht ohne vorübergehende Erschütterungen. Noch in Untersekunda bildete sich eine sogenannte forsche Clique, in der man rauchte, trank und Fleißigsein als unehrenhaftes Strebertum verurteilte. Auch wir wurden in ihre Netze gezogen, dadurch den andern näher und voneinander etwas weiter abgebracht. Für die Macht dieser Vorurteile mag ein Beispiel dienen. Wir hatten Sonntagnachmittags von 2 bis 3 Uhr Arbeitsstunde für solche, welche den Nachmittagsgottesdienst nicht besuchen wollten. Ich las gerade im Livius den Übergang[70] Hannibals über die Alpen und war davon so gefesselt, daß ich, als die Freistunde schlug und die andern ins Freie eilten, noch eine Weile zu lesen fortfuhr. Da kommt Nietzsche herein, um mich abzuholen, ertappt mich über dem Livius und hält mir eine strenge Strafpredigt: »Also so treibst du es, und das sind die Mittel und Wege, welche du in Anwendung bringst, um deine Kameraden zu überflügeln und dich bei den Lehrern in Gunst zu setzen! Nun, die andern werden es dir wohl noch deutlicher sagen.« Beschämt gestand ich mein Unrecht ein und war schwach genug, Nietzsche zu bitten, den andern gegenüber das Vorkommnis zu verschweigen, was er versprach und auch gehalten hat. Aus jener Clique ging nach ihrem Zerfall eine Art Dreibund hervor zwischen Nietzsche, mir und einem gewissen Meyer, welcher schön, liebenswürdig und witzig, auch ein vorzüglicher Zeichner von Karikaturen war, aber mit Lehrern und Schulordnung in ewigem Kampfe lag. Noch in Obersekunda mußte er abgehen; Nietzsche und ich geleiteten ihn bis ans Tor und kehrten wehmütig um, nachdem er auf der Kösener Landstraße unsern Blicken entschwunden war. Dieser Meyer also war bis zu seinem Abgange im Jahre 1862 der Dritte in unserm Bunde. Freilich mußte ich mit Schmerz bemerken, daß dasjenige, was ich an Nietzsche suchte und schätzte, sich sehr wenig vertrug mit dem, wozu Meyer ihn herüberzuziehen bestrebt war. Dies ging so weit, daß die beiden eine Zeitlang meiner überdrüssig wurden und, ohne daß etwas Besonderes vorgekommen wäre, mit mir brachen. Hierzu gibt es in Pforta, wo keiner dem andern aus dem Wege gehen kann, das in seiner Art wertvolle und zweckmäßige Mittel des Tollseins. Man erklärt sich mit jemandem für toll, d.h. man betrachtet es als einen Ehrenpunkt, mit ihm nie und nirgends und unter keinen Umständen ein Wort zu sprechen. Wertvoll nannte ich dieses Mittel, weil es Schlimmeres, z.B. Raufereien u. dgl., verhütet. Nietzsche und Meyer waren also toll mit mir. Sechs Wochen lang dauerte diese schwere Zeit, und mit Freuden begrüßte ich die ersten Symptome einer Annäherung von der andern Seite. Ich trieb damals mit dem längst verewigten Melzer Italienisch, was nur dadurch möglich war, daß wir eine Stunde früher als die andern, also statt um 6 schon um 5 Uhr, aufstanden. Dies wurde natürlich als Strebertum vielfach[71] verurteilt und bespöttelt. Meyer machte, wenn ich nicht irre, damals ein Spottgedicht auf mich, in welchem es hieß:


Des Morgens früh beim ersten Grauen,

Wenn alles noch im Schlaf sich wiegt,

Da kann man schon den Spießer schauen,

Wie er vom Schlafsall 'runterkriech, usw.


»Spießer« (vielleicht verwandt mit Spießbürger) ist in Pforta ein Scheltwort für solche, welche das Arbeiten in tadelnswerter Weise übertreiben. In dieser Zeit saß ich eines Abends kurz vor 8 Uhr auf dem Korridor in der Nähe der Schulglocke und beobachtete die Uhr. Unter den auf und ab spazierenden Gruppen waren auch Nietzsche und Meyer. Plötzlich machen sie vor mir halt und fragen: »Che ora è?« Überrascht antworte ich: »Otto ore, in tre minuti«, und lachend ziehen die beiden weiter, indem sie darüber spotten, daß ich minuti gesagt habe, da doch die Minute weiblichen Geschlechts sei. Natürlich trachtete ich nach Revanche. An einem der nächsten Tage wurde in der Klasse bei Steinhart Virgil erklärt. Nietzsche erhob sich und gab eine jener verwegenen Konjekturen zum besten, welche nicht nur die Überlieferung, sondern auch den Autor selbst zu verbessern bemüht sind. Steinhart widerlegte in längerer lateinischer Rede Nietzsches Einfall und fragte zuletzt, ob noch jemand dazu das Wort wünsche, worauf ich mich erhob und sagte:


Nietzschius erravit, neque coniectura probanda est.


Steinhart schmunzelte, und die Klasse lachte über diesen improvisierten Hexameter. Nach diesem Vorgeplänkel erfolgte eines Abends die Austragung des Streites. Zufällig trafen die beiden Parteien und einige Unbeteiligte in einer Stube zusammen. Anzügliche Redensarten erfolgten von beiden Seiten, ohne direkt an den Gegner gerichtet zu sein. Vielmehr wurde einer der unbeteiligt und ruhig Dasitzenden mehr und mehr der Mittelsmann, an den beide Teile ihre Beschwerden richteten, gleich als ob er sie dem Gegner überbringen sollte, der doch alles unmittelbar hörte und auch sofort darauf replizierte. »Sagen Sie zu Nietzsche« usw., »Sagen Sie zu Deussen« usw., »Sagen Sie zu Meyer« usw. – mit diesen Worten begannen die Vorwürfe, die man dem andern[72] zu machen hatte. Immer lebhafter wurde die Wechselrede, bis man endlich die Fiktion, daß man zu dem Mittelsmanne redete, fallen ließ und das Wort direkt an den Gegner richtete, womit der Bann des Tollseins gebrochen war. Es folgte nun von beiden Seiten eine gründliche Aussprache und als Ergebnis derselben die definitive Versöhnung.

Nur noch einmal, nach Meyers Abgang, wurde Nietzsche auf kurze Zeit von mir durch eine schöngeisternde Koterie abgezogen, deren innere Hohlheit ihn jedoch nicht auf die Dauer mir zu entfremden vermochte. Er fiel mir wieder zu, um so mehr, als er damals noch ein zurückhaltendes, etwas scheues Wesen hatte, wenig Befriedigung an dem Treiben der Menge fand und daher auch von den meisten wenig gekannt wurde. Man wußte nur von ihm, daß er sehr gute deutsche Aufsätze und hübsche Gedichte machte, in der Mathematik außerordentlich schwach war und meisterhaft auf dem Klavier zu phantasieren verstand.

Öfter zogen wir uns beide in ein leerstehendes Auditorium zurück, ich deklamierte mit Pathos ein Gedicht, und Nietzsche begleitete die Deklamation, z.B. von Schillers Glocke, mit den Tönen des Klaviers, wobei er mich immer wieder darüber tadelte, daß mein Vortrag zu laut sei. Durch derartige stille Unterhaltungen und tägliches Spazierengehen zu zweien isolierten wir uns von unsern Kameraden, welche, wie bemerkt, den stillen, in sich gekehrten Knaben wenig kannten und um so öfter verkannten. Seine Gleichgültigkeit gegen die kleinen Interessen der Kameraden, sein Mangel an esprit de corps wurden ihm als Charakterlosigkeit ausgelegt, und ich erinnere mich, wie eines Tages ein gewisser M. auf dem Musengang im Schulgarten in diskreter Weise zum Gaudium der Umstehenden einen Hampelmann produzierte, welcher aus einer Photographie Nietzsches ausgeschnitten und hergestellt war. Zum Glück hat mein Freund nie etwas davon erfahren.

Wenn ich jetzt auf die ehrbaren Pastoren, Lehrer, Ärzte, Offiziere, Architekten usw. hinsehe, zu welchen sich unsere damaligen Kameraden fortentwickelt haben, und welche in der Sorge für Amt und Familie den eigentlichen Ernst des Daseins finden, so wird mir begreiflich, daß den meisten schon damals das Organ[73] abging, einen Nietzsche zu verstehen. Was aus mir geworden wäre, wenn ich ihn nicht gehabt hätte, kann ich mir schwer klarmachen. Die Hochschätzung, vielleicht Überschätzung alles Großen und Schönen, und eine entsprechende Verachtung für alles, was nur materiellen Interessen diente, lag wohl von Natur in mir; aber dieser glimmende Funke wurde durch den täglichen Umgang mit Nietzsche zu einer Flamme der einseitigen Begeisterung für alles Ideale entfacht, welche nie wieder erloschen ist, auch nachdem sich meine Wege von denen des Freundes trennten. Damals, in Pforta, verstanden wir uns vollkommen. Auf einsamen Spaziergängen wurden alle möglichen Gegenstände der Religion und Philosophie, der Poesie, bildenden Kunst und Musik besprochen; oft liefen die Gedanken ins Dunkle aus, und wenn dann die Worte versagten, so blickten wir uns in die Augen, und der eine sprach zum andern: »Wir verstehen uns schon.« Diese Redensart wurde zwischen uns zum geflügelten Worte; wir nahmen uns vor, sie als trivial zu meiden, und mußten lachen, wenn sie uns gelegentlich trotzdem entschlüpfte. Alle großen Namen der Geschichte, Literatur und Musik belebten unsere Unterhaltung, und wenn ich mit den Alten mehr vertraut war, so besaß Nietzsche die größere Kenntnis der deutschen Literatur und Vorzeit. In der Regel stand irgendein Gegenstand im Mittelpunkte seines Interesses und reizte ihn zu produktiver Bearbeitung, wie er sich denn eine Zeitlang mit dem Entwurf zu einem Heldengedicht über Hermanrich trug. Es ist merkwürdig, daß Nietzsche, der ein so feines und tiefes Verständnis für alle Poesie hatte, doch niemals ein guter Rezitator gewesen ist.

Zurückkehrend zur Konfirmation, bemerke ich noch, daß ich in Oberdreis uniert getauft, in Elberfeld reformiert im Konfirmandenunterricht belehrt und schließlich in Pforta lutherisch konfirmiert worden bin. Übrigens habe ich die Differenzen dieser drei Richtungen von jeher wenig beachtet, auch ehe ich mir den Standpunkt erkämpfte, von welchem aus sie in ihrer vollen Nichtigkeit erschienen. In Pforta schloß sich an die Konfirmation eine Woche später das Abendmahl mit vorhergehender Beichte. Man kniete dabei in einem abgeschlossenen Raum vor dem Geistlichen nieder und las eine gewöhnliche aus dem Gesangbuch abgeschriebene[74] Beichtformel ab, an welche man dann noch anschließen konnte, was man persönlich auf dem Herzen hatte. Ich fühlte kein Bedürfnis, diese Bräuche von Beichte und Abendmahl in den folgenden Jahren zu wiederholen; ein Zwang Bestand nicht, aber später, als ich schon in Prima saß, wurden wir einmal von Lehrern so energisch auf den Gebrauch dieser Gnadenmittel hingewiesen, daß ich mich nicht ganz leichten Herzens bestimmen ließ, nochmals teilzunehmen. Wiederum kniete ich im Beichtstuhle vor dem aufgeklärten, freidenkenden Niese; ich las meine Beichtformel ab, und als er mich fragte, was ich noch auf dem Herzen habe, bekannte ich, daß ich der Gewohnheit des Rauchens frönte und doch nicht die Kraft in mir fühlte, künftig davon abzustehen. Seine Antwort bewegte sich um den Gedanken, daß das Evangelium gekommen sei, um die Werke des Gesetzes aufzulösen, und damit verließ ich den Beichtstuhl, verwirrter als ich hineingetreten war. Übrigens schützte vor einem Erstarren in der Orthodoxie, wie es in Elberfeld vielleicht mein Schicksal gewesen wäre, der freie wissenschaftliche Geist, mit welchem in Pforta alles betrieben wurde, und der auch mich bald mächtig ergriff.

Es war nach Ostern 1860, als ich, der ich bis dahin immer unter den Schwächeren gewesen war, plötzlich anfing, in den lateinischen Klausurarbeiten bei Corssen und bald darauf in den griechischen bei Heintze, wie wir sie allwöchentlich unter dem Namen der Dokimastika zu schreiben hatten, eine Eins nach der andern davonzutragen und dadurch die Aufmerksamkeit der Kameraden und Lehrer zu erregen.

Während die kürzeren Ferien zu Ostern, Pfingsten und Michaelis nur von den näher Wohnenden zur Heimreise benutzt wurden, so mußten in den großen Ferien im Monat Juli und späterhin auch in den Weihnachtsferien alle nach Hause reisen, wozu unter Umständen aus der Anstaltskasse ein Beitrag gespendet wurde. Die großen Juliferien kündigten sich schon acht Tage vorher durch eine allgemeine Lockerung der Schulordnung an, man zog in den Wald und holte Laub, um die Stuben zu bekränzen. Die Türen wurden ausgehoben, und Spottgedichte nebst Bildern durften angeheftet werden, in denen gelegentlich auch die Lehrer nicht geschont wurden.[75]

Dann kam der große Tag heran, und eine große Völkerwanderung erfolgte schon am frühen Morgen zum Bahnhofe in Kösen. Mein Reisegeld war mit zwölf Talern reichlich bemessen; ein Drittel davon konnte bei bescheidener Einrichtung der Reise erspart bleiben und wurde regelmäßig zum Anschaffen von Klassikern benutzt. So erstand ich von den Ferienersparnissen als Untersekundaner in Neuwied Xenophons Memorabilien von Breitenbach und Theokrits Idyllen in der Ausgabe von Fritzsche; als Obersekundaner kaufte ich in Eisenach einen Tacitus und Sallust, und diese Bücher wurden dann während der Ferien zu Hause studiert.

Einen höheren Flug konnte ich in Prima nehmen, und hier muß ich mit tiefem Danke eines Mannes gedenken, der als einfacher Bauer doch meine Bedürfnisse erkannte und förderte. Es ist dies der schon früher erwähnte Onkel Wilhelm Heinrich Deussen in Jüchen, der von allen mich besonders ins Herz geschlossen haben mochte; regelmäßig besuchte ich ihn in den Ferien, verbrachte einige Tage in seinem Hause unter lebhaften, für beide Teile anregenden Unterhaltungen. Beim Abschiede schenkte er mir dann regelmäßig fünf, einmal sogar zehn Taler. Wohl nie ist eine Gabe besser angebracht gewesen als diese. Sie, zusammen mit den jedesmaligen Reiseersparnissen, machte es mir möglich, schon in Obersekunda einen dicken Lessing in einem Bande, in Prima den englischen Shakespeare nebst dem Wörterbuch von Delius, sodann Goethes Werke in sechs Bänden und zuletzt auch Schiller in zwei Bänden zu erstehen.

Der Besitz dieser Werke regte mich an, sie in den Mußestunden eifrig zu lesen, und so danke ich es meinem Onkel, daß ich in Pforta und in einem Alter, wo das Gemüt die größte Empfänglichkeit besitzt, nicht nur Lessing und Shakespeare, sondern vor allem auch Goethe mit der größten Wonne las; zuletzt auch Schiller, der aber nach Goethe keinen so tiefen Eindruck mehr machen konnte, und daher lebenslänglich bei mir etwas im Hintergrunde geblieben ist.

Die Sommerferien 1864 brachten mich in Oberdreis einem Manne näher, der noch später tief in unser Leben eingegriffen hat. Er hieß Friedrich Braitmaier, stammte aus Urach in[76] Schwaben, war im Tübinger Stift erzogen worden und kam als Kandidat der Theologie und völliger Freigeist nach dem Norden, wo er als Hauslehrer bei uns eintrat und die Erziehung meiner beiden jüngsten Brüder Immanuel und Reinhard leitete. Er hatte ein etwas plumpes, ungeschliffenes Wesen, wußte aber diesen Mangel durch einen scharfsinnigen, rastlos bohrenden Verstand und durch ein allseitiges, umfassendes Wissen derart auszugleichen, daß ich bald mit der größten Liebe und Bewunderung an ihm hing. Meine kleinen Brüder mochten wenig an ihm haben; mich hat er während dieser Ferien in hohem Grade angeregt und aufgeklärt, täglich unternahmen wir beide längere Spaziergänge, kehrten im Wirtshause ein, und es gab kaum ein Thema des Wissens und des Lebens, welches nicht berührt und mehr oder weniger eingehend durchgesprochen wurde. Meine Verehrung für den Mann kannte keine Grenzen, und eines Nachmittags beim Kaffee, als er gerade nicht zugegen war, äußerte ich vor aller Ohren: »Wenn ich ein Mädchen wäre, so müßte dieser und kein anderer mein Mann werden.« Meine Mutter erschrak und rief aus: »Oje! Paul!« Von diesem Manne wird noch manches zu berichten sein.

Je schöner sich die Ferien in Oberdreis und bei den Verwandten am Niederrhein gestalteten, um so schwerer waren die ersten Tage nach der Rückkehr in Pforta zu ertragen; und noch jetzt fühle ich den Schauder, der mich beim Wiederbetreten der langen, frisch getünchten Hallen und Kreuzgänge überkam, und das Unbehagen, anstatt so vieler zarten Familienverhältnisse, wieder auf die Kameraden und ihr strammes und etwas rohes Wesen angewiesen zu sein. Bald aber war man wieder eingewöhnt, freute sich der von Semester zu Semester eroberten Vorrechte und des täglichen Wachsens in den Wissenschaften, welche namentlich in den oberen Klassen in ganz ausgezeichneter Weise betrieben wurden. Zwar das Französische war unter Koberstein sehr vernachlässigt und auch im Deutschen machte er es sich so bequem wie möglich. Und doch wirkte er tief genug auf uns ein, weniger durch das, was er tat, als durch das, was er war. Denn wir hatten einen solchen Respekt vor seiner anerkannten, wissenschaftlichen Größe, daß seine Beurteilung der Aufsätze wie ein Evangelium[77] hingenommen wurde, und auch sonst manches hingeworfene Wort uns unvergeßlich blieb. Die Geschichte lehrte Corssen, mit Begeisterung und Strenge. Aber der ganze Schwerpunkt lag im Lateinischen und Griechischen, welche beide ausgezeichnet vertreten waren. Das gewählte Latein, in welchem Keil fast die ganze Stunde durch mit uns verkehrte, die flammende Begeisterung, welche Steinhart für Sophokles und Platon bei allen zu entzünden wußte, die es verschmähten, in seinen Stunden Unfug zu treiben, die ruhige Klarheit, mit der ein Peter seinen Tacitus erklärte, dieses und vieles andere erwärmt mich noch heute nach vierzig Jahren, wenn ich daran zurückdenke. Wie ideale Menschentypen stehen diese Männer in meiner Erinnerung da, und haben ohne Frage viel tiefer und segensreicher auf mich gewirkt, als später die Universitätsprofessoren.

Der plötzliche Aufschwung, den ich in Untersekunda nahm, dauerte an, und ich war und blieb im Lateinischen und Griechischen einer der Besten, ich darf wohl sagen, der Beste meiner Klasse. Allwöchentlich war ein Tag, der sogenannte Studientag, gewöhnlich Ausschlafetag genannt, von allen Lektionen frei. Dann saßen wir immer unter Aufsicht von 7 bis 9, 10 bis 12, 2 bis 4, 5 bis 7 und 8 bis 9 oder 10 Uhr auf unsern Stuben, fertigten die großen Arbeiten, sowohl deutsche wie lateinische Aufsätze an; ja einmal reichte ich bei Steinhard, bei dem man sich vieles erlauben durfte, einen ausführlichen Kommentar über einen Chor des Sophokles nicht, wie die Vorschrift war, in lateinischer, sondern von Anfang bis zu Ende in griechischer Sprache ein.

Steinhard hatte seine Freude daran und erklärte vor der Klasse, es lese sich wie ein gut geschriebener griechischer Scholiast. Den größten Raum nahm in Pforta die Privatlektüre ein. Es war Stil, vielleicht sogar Vorschrift, daß jeder in Untersekunda die ganze Odyssee, in Obersekunda die ganze Ilias auf griechisch durcharbeitete und sich beim Lehrer darüber auswies. In Unterprima habe ich und so haben auch wohl die andern alle den ganzen Sophokles durchgemacht, und neben diesen und andern griechischen Dichtern wurden auch die Prosaiker und die lateinischen Schriftsteller nicht vernachlässigt. Besondere Freude hatten wir auch am Machen lateinischer Verse, und zum Schulfeste, am[78] 21. Mai 1864, war mir die ehrenvolle Aufgabe zuteil geworden, die Erstürmung der Düppler Schanzen in ein paar hundert Distichen zu besingen und öffentlich vorzutragen. Das Gedicht fing an mit den Worten:


»Vicimus! haec hodie sit prima sit ultima nobis,

Vicimus! haec iterum, vicimus usque salus!«


Es folgten dann verschiedene Heldentaten: Der tapfere clinkus nomen habet, welcher sein Leben opferte, indem er an den Palisaden einen completum pulvere saccum, den damals in aller Mund lebenden Pulversack entzündet hatte, war nicht vergessen, und die Klage über den Tod des Generals von Raven klang in die Worte aus:


»major erat nobis talis fortuna diei

esseque debetat mixta dolore minor!«


Das ist schön! sagte der ernste und nicht leicht lobende Peter, als er diese Worte in meinem Manuskripte las. Mein Vortrag in der Aula wurde mit rauschendem Beifall aufgenommen, die Damen versicherten, sie hätten alles aus den Gesten verstanden, und als ich nach Schluß der Feier den Saal verließ, packte mich Steinhart und drückte mir vor aller Augen einen Kuß auf den Mund. Alljährlich wurde zu Fastnacht von den drei oberen Klassen Theater gespielt, und es genügt, um mein Genre zu bezeichnen, wenn ich erwähne, daß ich in Obersekunda in Körners Nachtwächter den Nachtwächter, in Unterprima in Wallensteins Lager den Kapuziner, und in Oberprima in den Handwerkerszenen des Sommernachtstraums den Weber »Zettel« mit dem Eselskopfe zu spielen hatte.

So rückte das letzte Semester heran, in welchem wir nach eigener Wahl von allen schriftlichen Arbeiten entbunden wurden, wofür wir dann eine große lateinische Arbeit von wissenschaftlichem Charakter zu liefern hatten. Ich untersuchte in der meinigen den Einfluß, welchen die religiösen Anschauungen des Herodot auf dessen Geschichtsdarstellung ausgeübt haben und versuchte unter anderm, dabei nachzuweisen, daß Xerxes nicht, wie Herodot erzählt, Fesseln in den Hellespont geworfen habe, und daß die Sage davon in einer mißverstandenen Stelle der Perser des Äschylus ihren Ursprung habe.[79]

So kam das Abiturientenexamen heran. Der deutsche Aufsatz über »Vorteile und Gefahren des Reichtums«, der lateinische über den ersten Punischen Krieg, die Übersetzung ins Lateinische, Griechische, Hebräische und Französische, sowie die mathematische Klausur waren glücklich überstanden, und nun wurde für das mündliche Examen auf Tod und Leben Geschichte repetiert, ohne daß ich davon Gebrauch machen konnte, da ich zugleich mit mehreren andern von der mündlichen Prüfung dispensiert wurde.

Der so lange heiß ersehnte und doch auch so wehmütige Tag war gekommen, an dem wir von der Mutter Pforta Abschied nehmen sollten. Alles war in der Aula versammelt, das herzbrechende Lied, das wir so oft schon gehört, wurde wieder einmal, und dieses Mal für uns, gesungen. Dann betrat jeder von uns das Katheder und hielt seine Abschiedsrede, während für jeden sein besonderer Freund oder Liebling, solange er sprach, oben auf dem Korridor die Schulglocke läutete. Es klang wie Totengeläut.

Quelle:
Deussen, Paul: Mein Leben. Leipzig 1922, S. 59-80.
Lizenz:
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Mein Leben: Herausgegeben von Dr. Erika Rosenthal-Deussen [Reprint der Originalausgabe von 1922]

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