Minden und Marburg.
1869–1872.

[109] Es war in der zweiten Hälfte des April 1869, als ich, vom Mindener Bahnhofe kommend, die lange Weserbrücke überschritt und in das damals noch mit Mauern und Wällen umgürtete und mit einem schönen Glacis umgebene Minden einrückte. Durch die Weserstraße auf den Marktplatz gelangt, hat man zur Rechten eine höher gelegene, in die Nähe des damaligen Gymnasiums führende und zur Linken eine tiefer unten verlaufende ruhige Straße, auf der linken Seite mit zierlichen, villenartigen Häusern geschmückt, deren hintere Gärten bis zu einem Wassergraben und dem jenseits desselben befindlichen Glacis reichten; das anmutigste dieser Häuser gehörte dem Kaufmann Busch, der es mit seinem einzigen, die Tertia besuchenden Sohne Julius bewohnte. Die Frau des Hauses war gestorben, und eine Hausdame, Fräulein Eßmann, führte das Regiment. Hier fand ich eine Treppe hoch ein höchst angenehmes Zimmer, richtete mich mit meinen Büchern und Sachen wohnlich ein und machte dann, von einem Schüler geleitet, meine Antrittsbesuche bei den Kollegen. Minden hatte eine stark besuchte, Gymnasium und Realschule kombinierende Anstalt, an deren Spitze der Direktor Gandtner stand, ein energischer, sehr tätiger Mann, welcher seine umfangreiche Amtstätigkeit in vortrefflicher Weise versah. Ihm galt mein erster Besuch; er empfing mich freundlichst und teilte mir mit, daß ich mit drei andern Probekandidaten, Adolf, Schmidt und Völkers, zusammen als Hilfslehrer mit 1200 Mark jährlich[110] einen Teil des Unterrichtes vornehmlich in den unteren Klassen zu erteilen habe. Ich erhielt das Ordinariat nebst dem lateinischen und deutschen Unterricht in Sexta, dazu in Untertertia alles das, was ein anderer gern von sich abwälzt, den Unterricht im Deutschen, in der Geschichte (zu der ich gar keine Fakultas angemeldet hatte) und in der Religion. Dazu kam vor wenigen Schülern das Hebräische in Sekunda und Prima. Jeder der Hilfslehrer, so sagte mir der Direktor, hat 24 Stunden wöchentlich zu geben, nur Sie sind der Glückliche, welcher ihrer 26 erhalten hat. Ein etwas verdrießliches Gesicht machte der Direktor, als ich ihm von meiner schon über ein Jahr andauernden Heiserkeit erzählte, und er empfahl mir, sofort energische Maßregeln dagegen zu ergreifen. Ich wandte mich zu diesem Behuf an Dr. Cramer, einen zum Kuratorium des Gymnasiums gehörigen, in der Stadt hoch angesehenen, charaktervollen Mann und vortrefflichen Arzt. Sein Sohn, ein lieber, aufgeweckter Junge, besuchte meine Ordinariatsklasse, die Sexta. Dr. Cramer nahm mich sofort in eine energische Kur; jeden zweiten Tag mußte ich bei ihm antreten und er blies mittels eines Röhrchens eine Höllensteinlösung in meine Kehle, von der mir die Augen übergingen. Die erfreuliche Folge war, daß meine Stimme von Monat zu Monat mehr Metall gewann, wenn ich auch jahrelang noch im Sprechen einigermaßen gehemmt war, ja bis auf den heutigen Tag Grund habe, mit meiner Stimme ökonomisch zu verfahren. Der ausgezeichnete Mann hatte immer ein freundliches, ermutigendes Wort für mich, und als ich nach einem halben Jahr mit der Kur aufhören durfte, dankend Abschied nahm und von meinem magern Gehalte eine Reihe von Talern bescheiden auf den Nebentisch legte, da wies der menschenfreundliche Arzt dies mit solcher Entschiedenheit zurück, daß mir nichts übrigblieb, als mein Geld wieder an mich zu nehmen.

Inzwischen hatte ich mutig angefangen zu unterrichten, wobei ich meine Unterrichtsmethode meinen Stimmverhältnissen anpaßte. Ich nahm stets einen festen Punkt ein, von dem ich die ganze Klasse, in der Regel 30–40 Schüler, fest im Auge behielt. Ich zerlegte in sorgfältiger Vorbereitung den Lehrstoff in eine Reihe von Fragen; jede derselben richtete sich an die ganze Klasse;[111] dann machte ich eine angemessene Pause, in der ich beobachtete, ob alle mitarbeiteten, und rief schließlich einen Schüler zur Beantwortung auf. Ich sprach deutlich, aber leise, und hierdurch waren auch die Schüler genötigt, genau hinzuhören und sich ruhig zu verhalten. Ich glaube von mir sagen zu dürfen, daß ich ein guter Lehrer war, namentlich in meiner Sexta und in Prima und Sekunda im Hebräischen. Am mühevollsten war der Unterricht in der überdies stark besuchten Untertertia. Es ist dies ja die Durchgangszeit der sogenannten Flegeljahre, in welcher die kindliche Anhänglichkeit der unteren Klassen sich verloren hat, und das Gefühl des Sekundaners, ein gereifter junger Mann zu sein, der auf sich hält, noch nicht erwacht ist. In dieser Flegelklasse sind Fächer wie Lateinisch und Griechisch dem Lehrer sehr willkommen, weil er hier Gelegenheit hat, seine Jungens immer im Trab zu halten. Schwieriger ist dies schon in den mir zugeteilten Fächern der Religion, Geschichte und des Deutschen, wo es sich darum handelt, sogenannte Ideen zu wecken unter einer jugendlichen Schar, bei welcher die Angst das hauptsächlich treibende Motiv ist.

Dies letztere galt namentlich für Minden, denn, im Gegensatz zu andern Schulen, herrschte ein ziemlich roher Ton. Bis in die Tertia hinein bestand das üblichste Strafmittel in Ohrfeigen. Dieses System schien mir sehr barbarisch, es widersprach all meinen Ideen von Humanität, und ich konnte mich nicht dazu entschließen. Ich erfand daher ein künstlich ausgedachtes System von Punkten oder Strichen, welche notiert wurden, und deren vier eine Strafarbeit zur Folge hatten. Daneben suchte ich durch würdige Haltung und besonders dadurch zu wirken, daß ich den Unterricht möglichst interessant gestaltete: in der Religionsstunde den Durchgang durchs Rote Meer mit Begeisterung schilderte, in der Geschichte Kaiser und Papst gegeneinander auftreten und perorieren ließ, und im Deutschen alle möglichen Gegenstände der Welt und des Lebens zur Sprache brachte. Immerhin konnte ich mit meinen milden Mitteln gegen den allgemein herrschenden Usus nicht ankommen und mußte mich wohl odeer übel entschließen, ebenso wie die andern für jede kleine Unart körperlich zu strafen. Das Probekandidatenzeugnis, welches ich am Schluß des ersten[112] Jahres erhielt, besagte denn auch nach Anerkennung meiner Lehr-Erfolge: »Die Disziplin hat ihm in seiner Klasse gar keine, in den mittleren Klassen keine irgend erheblichen Schwierigkeiten bereitet.« Ich war kaum ein viertel Jahr in Minden, als die sechs Wochen langen Sommerferien eintraten. Ich benutzte sie, um nach Marburg zu reisen und dort mein Staatsexamen abzulegen. Zwei Klausurarbeiten, ein Aufsatz über Goethes Stellung zum Griechentum bei Lucae und die Übersetzung eines Cicerobriefes ins Griechische bei Leopold Schmidt, machten den Anfang. Dann folgte das mündliche Examen, welches eine Stelle des Plautus und eine solche des Thucydides zum Übersetzen brachte, woran sich dann eine nicht nur in lateinischer, sondern auch in griechischer Sprache geführte Diskussion knüpfte. Gut verlief auch das Examen im Deutschen, Hebräischen und in der Religion, und mein Zeugnis, welches mir die Lehrfähigkeit für Griechisch, Lateinisch, Deutsch und Hebräisch für die oberen und in der Religion für die mittleren Klassen (nur diese hatte ich nachgesucht) zuerkannte, besteht in einem ausführlichen, viele Seiten füllenden Protokoll über den Verlauf des Examens und schließt mit den Worten: »Nach diesem allen konnte dem Kandidaten, welcher uns in seinen Leistungen überhaupt als ein junger Mann von ausgezeichneten Anlagen, vielseitigen sicheren Kenntnissen, ausgebildetem, selbständigem Urteil und nicht geringer Fähigkeit klarer und lebendiger Darstellung erschienen ist, ein Zeugnis ersten Grades zuerkannt werden mit der Fakultas, 1. das Griechische, Lateinische, Deutsche und Hebräische in allen Klassen, 2. Religion in den mittleren Klassen zu lehren.«

Sehr befriedigt und von einer wahren Felsenlast befreit, kehrte ich nach Minden zurück und fing an, zum ersten Male seit langer Zeit, mich wohl und behaglich zu fühlen. Die Schule war mir nicht eben zur Last und ließ für einen fleißigen Menschen Zeit genug für eigene Arbeit über, die sich jetzt dem Studium der Bibel und der Philosophie zuwandte. So kam der Herbst heran und mit ihm zum ersten Male eine wirkliche Ferienzeit; zwölf Tage hatte ich zur Verfügung und 21 Taler von meinem Gehalt erspart. Ich beschloß, beides zu einer Harzreife zu benutzen. Es war dies eigentlich die erste Vergnügungsreise in meinem Leben,[113] von der ich geistig wie körperlich erquickt und gestärkt zurückkehrte, und als ich zum ersten Male wieder vor meine Tertianer trat, da schilderte ich in längerer Ausführung, wie jetzt die Sonne engere und immer engere Kreise am Himmel beschreiben wird, wie bald die Novemberstürme über die kahlen Felder dahinbrausen werden, der Schnee die erstorbene Natur wie mit einem Leichentuch bedecken wird, und wie man in das behagliche Haus zurückgezogen, während der dunkeln Wintertage an dem geistigen Lichte der Poesie und Wissenschaft sich erleuchten und erwärmen werde. Diese Rede machte, wie ich hinterher auf Umwegen erfuhr, tiefen Eindruck, und so trat ich denn frohgemut die Winterkampagne an, förderte nach besten Kräften meine Schüler und benutzte jeden freien Augenblick vorwiegend zum Studium der Bibel. Denn ich glaubte durch meine in schönem Latein geschriebene Platodissertation hinreichende Wurzeln in der klassischen Philologie geschlagen zu haben, um für einige Zeit den Blick von ihr ab- und andern nicht weniger bedeutenden Erscheinungen zu wenden zu dürfen.

Indessen sollte der Winter noch eine andere Gelegenheit bringen, meinen Gesichtskreis zu erweitern. Große Freude herrschte unter unserer Tischgesellschaft im Hotel Stadt Düsseldorf in der Weserstraße, als bekannt wurde, daß eine Schauspielergesellschaft eintreffen und in der neu erbauten Tonhalle spielen werde. Hier war Gelegenheit geboten, diesen Kreisen näherzutreten, welche ein jugendlicher Enthusiasmus so gern mit einem idealen Nimbus zu umgeben pflegt. Mehrere Mitglieder der Truppe verkehrten auch in der Stadt Düsseldorf, und allabendlich nach dem Theater saß man mit den Künstlern und Künstlerinnen oft bis um 2 Uhr nachts in der Tonhalle zusammen. Ich war erstaunt zu sehen, wie Primadonna, Liebhaber und Komiker, die auf der Bühne in idealem Glanze erschienen waren, sich im Leben als sehr einfache, ja mitunter armselige Menschen entpuppten, welche gern ihre ganze Bühnenherrlichkeit für eine bescheidene bürgerliche Existenz darangegeben haben würden.

Das erste Jahr in Minden war glücklich abgelaufen, und durch das Anerbieten einer ordentlichen Gymnasiallehrerstelle mit 500 Talern und dem Ordinariate von Quinta ließ ich mich für[114] ein zweites Jahr halten, obgleich mir schon damals immer deutlicher wurde, daß weder der Kreis der Kollegen noch die Arbeit mit den Schülern meine Ansprüche an das Leben auf die Dauer zu befriedigen imstande waren. Das neue Sommerhalbjahr 1870 brachte uns einen neuen Probekandidaten und Hilfslehrer und mir einen lieben und sympathischen Kameraden in Gestalt des Dr. Hermann Heinze, gegenwärtig Direktor des Mindener Gymnasiums, der sich bald eng an mich anschloß, wie ich ihn denn auch in den Pfingstferien nach Oberdreis mitgenommen habe. Bald darauf aber umzog sich der politische Horizont mit den düstersten Wolken, und eben waren die Sommerferien eingetreten, als Frankreich an Deutschland den Krieg erklärte. Für die langen Sommerferien war zum Frommen der einheimischen Schüler ein zweistündiges Silentium eingerichtet, in welchem jüngere Lehrer gegen besondere Vergütung die Aufsicht führten. Ich hatte die beiden letzten Wochen übernommen, und so war ich in der ersten Hälfte der Ferien frei. Ich benutzte diese Tage, um noch schnell nach Oberdreis zu fahren, denn wer weiß, wann es wieder geschehen konnte. Zu meiner Verwunderung fand ich auf der Hinreise, daß, trotz des erklärten Krieges, auf der Eisenbahn alles seinen gewöhnlichen geordneten Gang ging. Die Preußen bedurften noch weniger Wochen, um alles in Kriegsbereitschaft zu setzen, während die Franzosen unfertig, wie sie waren, darauflosstürmten und bei Saarbrücken einige billige Lorbeeren ernteten. Zu Hause fand ich alles in begreiflicher Aufregung. Man erwartete nichts anderes, als daß die Franzosen das Rheinland überschwemmen würden, man beriet sich, wie man Silberzeug und andere Wertsachen bergen könnte und machte sich auf das Schlimmste gefaßt. Meiner Militärpflicht hatte ich noch nicht genügt, sondern die Sache in Erwägung eines von mir noch abzulegenden theologischen Examens, durch welches man damals vom Militärdienst befreit blieb, hinausgeschoben. Jetzt, wo man jeden Mann gebrauchen konnte, wollte auch ich nicht zurückbleiben, und so hatte ich mich bereits in Minden gemeldet und stellte mich nochmals bei der Rückreise von Oberdreis in Neuwied zur Verfügung. Von Neuwied fuhr ich nach Köln, um von dort zwei Tage vor der Übernahme meines Silentiums nach Minden[115] zurückzufahren. Inzwischen hatte sich der Verkehr auf der Eisenbahn völlig geändert. Die Preußen waren marschfertig geworden, und nun wurden Tag und Nacht aus allen Teilen der Monarchie lange Züge mit Soldaten nach der Westgrenze des Vaterlandes befördert. Mit Schrecken erfuhr ich auf dem Bahnhofe zu Deutz, daß heute überhaupt kein Zug nach Minden fahre. Vergebens erklärte ich, daß ich Verpflichtungen übernommen habe und befördert werden müsse. »Jedes Wort ist vergebens,« erklärte der Stationsvorsteher, »der nächste Zug, mit dem Personen nach Minden befördert werden können, fährt morgen mittag um 1 Uhr.« Ich mußte mich darein ergeben, noch eine Nacht in Köln zuzubringen und tröstete mich damit, daß ich immer noch morgen abend in Minden eintreffen und übermorgen früh das Silentium der Absprache gemäß rechtzeitig übernehmen könne. Lange vor 1 Uhr war ich am nächsten Tage auf dem Bahnhof; ein endlos langer Zug stand bereit, ein unglaubliches Gewimmel von Reisenden drängte sich, ihn zu füllen. Endlich setzte sich der Zug in Bewegung, aber auf jeder Station mußte er längere Zeit liegenbleiben, um lange mit Soldaten vollgepfropfte Züge vorüberzulassen; inzwischen stieg man in unserm Zuge ein und aus, ohne Ordnung und Aufsicht; ich habe dergleichen auf deutschen Bahnen nie wieder erlebt. Der Abend kam, die Nacht brach herein, und wir hatten noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt. Endlich, um 4 Uhr morgens, langten wir in Minden an. Statt der fahrplanmäßigen sechs Stunden hatten wir nicht weniger als fünfzehn Stunden gebraucht, um die Strecke von Köln nach Minden zurückzulegen. Es war schon heller Tag; durch die noch menschenleeren Straßen wanderte ich zu meiner Wohnung; leise, um nicht zu stören, betrat ich das Haus und gelangte in mein Zimmer. In meinem Bett lag ein Offizier. Bei meinem Eintritt fuhr er in die Höhe. »Entschuldigen Sie,« sagte ich, »dies ist nämlich mein Zimmer. Bleiben Sie ruhig liegen, ich werde mich auf dem Kanapee einrichten.« An Schlafen war nicht mehr zu denken, aber am Morgen um 8 Uhr erschien ich pünktlich im Silentium.

Meine Hausleute, oder genauer gesagt, die Hausdame Fräulein Eßmann hatte einen schweren Fehler begangen. Statt für[116] den Offizier unten in einem freistehenden Zimmer ein Bett einzurichten, hatte sie einfach über mein Zimmer verfügt, obgleich sie wissen mußte, daß meine Rückkehr bevorstand. Ich überlegte den Fall mit Freund Heinze und er erklärte, daß ich mir etwas Derartiges nicht bieten lassen dürfe und sogleich ausziehen müsse. An diesem kleinen Vorkommnisse ersehe ich, wie sehr der Mensch sich ändern kann. Jetzt hat mich das Leben realistischer denken gelehrt, und ich würde mir noch schlimmeres gefallen lassen, ehe ich meine schöne Wohnung mit einer schlechteren vertauschte und für fremde Sünden mich selbst strafte. Damals aber siegte der Idealismus der Jugend, ich verließ die reizende Villa des Herrn Busch und zog zu Herrn Dannemann, wo Freund Heinze schon wohnte und ich ein bescheidenes Zimmer zwei Treppen hoch nach dem Hofe heraus bezog. Indessen waren die Ferien verstrichen und der Schulunterricht hatte wieder seinen Gang genommen, während aus dem Westen eine Siegesnachricht nach der andern einlief und eifrig diskutiert wurde. Der Morgenunterricht am 3. September hatte eben begonnen, als wie ein Lauffeuer die Kunde von Mund zu Mund lief, daß Napoleon und seine ganze Armee bei Sedan gefangengenommen sei. Nun war an eine Fortsetzung des Unterrichts nicht zu denken, der Tag wurde freigegeben und wir Lehrer zogen in die Kneipe. Hier saß ich neben Oberlehrer Quapp und erzählte ihm, daß ich mich nach Ausbruch des Krieges zweimal in Minden und in Neuwied gemeldet habe, erregte aber seinen höchsten Unwillen, als ich hinzufügte, daß dies weniger aus Patriotismus als vielmehr in dem Wunsche geschehen sei, meine Lebenserfahrungen zu bereichern. Dieser Wunsch ging freilich nicht in Erfüllung, denn der Krieg ging weiter und zu Ende, ohne daß man mich noch als Rekruten auszubilden für nötig erachtet hätte.

Wenn ich im Genuß geistiger Getränke all mein Leben lang mäßig gewesen bin, so kann ich mir es wahrlich nicht zum Verdienst anrechnen, denn die ersten Versuche als Burschenschaftler der Franconia in Bonn, es den andern im Trinken gleichzutun, hatten für mich am nächsten Morgen einen so scheußlichen Kopfschmerz und einen so gänzlich verdorbenen Tag zur Folge gehabt, daß ich sehr bald davon abstand und bei den pflichtmäßigen[117] Trinkgelagen mich durchmogelte, so gut ich konnte. Die Folge war daß ich in bezug auf geistige Getränke auch noch als Lehrer in Minden so ziemlich auf dem Standpunkte der Unschuld stand, und dies benutzten meine Tischgenossen in der »Stadt Düsseldorf«, um mir einen schlimmen Streich zu spielen. An einem Sonntagnachmittag, wo, wie öfter, etwas Gemeinsames unternommen wurde, lud ein junger Mann, der in einem Weingeschäft angestellt war, uns zur Besichtigung seines Weinkellers ein. Es mochte wohl ein halbes Dutzend unter uns sein, welches dieser freundlichen Einladung Folge leistete. Wir gingen von Faß zu Faß und nahmen hier und da die verschiedensten Proben durcheinander. Meine Befürchtung, daß es des Guten zuviel werden könne, begegnete man mit der Versicherung, daß die Weine ohne jede üble Folge sein würden, wenn man zwischendurch gelegentlich einen Kognak trinke. Wie ich an diesem unheilvollen Abend, von einigen Kameraden geleitet, nach Hause und in mein Bett gekommen bin, weiß ich kaum zu sagen. Man versicherte mir später, daß man nie einen liebenswürdigeren Betrunkenen gesehen habe. Am andern Morgen erwachte ich aus schweren Träumen. Ich drehte mich auf die andere Seite und hatte das Gefühl, als wenn alles Getränk mit mir auf diese Seite ströme. Ich sprang aus dem Bett, um mich für die um 8 Uhr beginnende Schule anzukleiden, und bemerkte mit Schrecken, wie der Boden unter mir schwankte. Eine Tasse schwarzen Kaffees sollte mich ernüchtern, aber der Magen versagte die Aufnahme. Mit Aufbietung aller Willenskraft begab ich mich zum Gymnasium, wo sich am Montagmorgen, wie üblich, sämtliche Schüler und die in der ersten Stunde beschäftigten Lehrer zur gemeinsamen Andacht versammelten; die Schüler füllten die Bänke, die Lehrer saßen ihnen auf einem erhöhten Podium gegenüber. Ich habe nie eine qualvollere Viertelstunde erlebt. Jeden Augenblick wollten mir die Augen zufallen, ich fürchtete von meinem Stuhl zu sinken, und nur die entsetzliche Angst vor den möglichen Folgen hielt mich wach und aufrecht. Etwas besser ging es in den Unterrichtsstunden. Ich hatte Religion in Quarta zu geben, wo gerade der Durchgang der Kinder Israels durch das Rote Meer zu besprechen war. Mit feuriger Begeisterung schilderte ich, wie die Wassermauern zur[118] Rechten und Linken sich türmten und dann über Pharao und seinem Heer zusammenrauschten, und so gelang es mir, mich wach zu halten. Ähnlich verfuhr ich in den folgenden Stunden, aber keiner war froher als ich, als es 4 Uhr schlug, ohne daß jemand etwas gemerkt hatte, und ich nach Hause gehen konnte, mich auszuschlafen.

Die Folgen des Sieges von Sedan und der weiteren Ereignisse sollten wir bald mit Augen sehen. Täglich wanderte man nach dem Bahnhofe, wenn endlos lange Züge mit Verwundeten oder Gefangenen durchpassierten. Es war ein gräßlicher Anblick, alle diese jungen, kräftigen Gestalten zu sehen, wie sie mit Wunden an Kopf, Armen und Beinen, mit amputierten Gliedmaßen als Krüppel von den Schlachtfeldern zurückkehrten. Dann kamen lange Züge gefangener Franzosen, von denen 5000 in einem Lager auf dem Felde jenseits des Bahnhofs interniert wurden, während die Offiziere frei in der Stadt sich bewegen durften und willkommene Gelegenheit boten, das Französische mit ihnen zu radebrechen. Täglich wanderte man nun, reichlich mit Tabak und Zigarren versehen, hinaus in das französische Feldlager. Es war eine förmliche Stadt mit Straßen und Plätzen, deren Häuser aus Zelten bestanden; da waren treuherzige Bauerngesichter aus allen Gegenden Frankreichs zu sehen, untermischt mit den afrikanischen Turkos, alle sehr bescheiden und sehr dankbar für die gespendeten Zigarren, denn in bezug auf Rauchutensilien wurden die armen Kerle sehr knapp gehalten. Auf meinen späteren Reisen glaube ich bemerkt zu haben, daß der Südländer noch weit gieriger auf den Tabak erpicht ist, als der Bewohner des Nordens. Es mag das wohl auf den erschlaffenden Einfluß der Hitze zurückzuführen sein, welche ein Reizmittel erwünscht macht, und dieses weit gefahrloser im Nikotin als im Alkohol finden läßt.

Während da draußen in der Welt der Kriegslärm tobte und seinen Wellenschlag bis zu uns gelangen ließ, waren es andere, mächtige Kämpfe, welche mein Inneres zu durchleben hatte. Wenn ich auch meine Lehrerpflichten von morgens 8 bis nachmittags um 4 Uhr gewissenhaft und mit Geschick erfüllte, so fing der eigentliche Ernst des Tages doch für mich erst an, wenn die Obliegenheiten der Schule hinter mir lagen. Abgesehen von einem[119] täglich streng durchgeführten Spaziergang durch das Glacis rund um die Stadt herum und von dem unter Leitung des Musikdirektors Drobisch geübten Klavierspiel, gehörte der Rest des Tages oft bis tief in die Nacht hinein der wissenschaftlichen Arbeit. Obgleich meine Erfolge im Doktorexamen und Staatsexamen, welche wesentlich auf dem in Pforta Gelernten beruhten, mir die Fortarbeit in der klassischen Philologie als das Gebiet nahelegten, auf dem es mir nach Anlage und Bildung am leichtesten gelungen wäre, mit bedeutenden Leistungen hervorzutreten, so war mir doch nicht soviel an der Anerkennung der Welt, wie an der Befriedigung der tiefsten Bedürfnisse meines von Kindheit an religiös gestimmten Gemütes gelegen. Die Theologie hatte hier gänzlich versagt und das mit Eifer fortgesetzte Bibelstudium befestigte mich immer mehr in der Überzeugung, auch hier nur eine historische, aus rein menschlichen Motiven hervorgehende Entwicklung zu sehen. So hoffte ich denn mein Heil von der Philosophie und hatte mich, sobald ich durch Erledigung der Examina freie Hand gewonnen hatte, mit Eifer dem Studium Kants zugewendet, denn auf diesen wies die ganze folgende Entwicklung, bis zur Gegenwart hin, als auf ihren gemeinsamen Ausgangspunkt zurück, und so wandte ich mich, gestärkt und ermutigt durch meine platonischen Studien, der Kritik der reinen Vernunft zu, welche ich wie auch die übrigen Werke Kants schon seit meiner Tübinger Zeit in der Ausgabe von Rosenkrantz und Schubert besaß, ohne doch bis dahin tiefer eingedrungen zu sein. Schopenhauers ersten Band hatte ich, wie bereits berichtet, in Oberdreis im Herbst 1868 gelesen und bewundert, aber doch nachher wie einen Traum wieder abzuschütteln versucht. Immerhin war die Erinnerung an ihn stark genug, um jetzt beim Studium der Kantschen Kritik der reinen Vernunft auf Schritt und Tritt innezuwerden, wie die Probleme, in welchen Kant aus dem Schutt der Tradition sich mühsam zum Lichte emporzuringen suchte, von Schopenhauer mit rücksichtsloser, durchgreifender Energie und siegreicher Klarheit der Lösung zugeführt worden waren. So trieb mich das Studium Kants unwiderstehlich zu Schopenhauer hin, und jetzt trat im Winter des Kriegsjahres in Minden eine an Wirkung auf mein ganzes künftiges Denken und Leben[120] unvergleichliche Epoche ein, in welcher das Studium Schopenhauers alle andern Interessen in den Hintergrund drängte. Jetzt fing ich an einzusehen, daß es überhaupt nur zwei Lebensrichtungen gibt, die auf Glückseligkeit abzielende heidnische und die ihr entgegengesetzte christliche, welche den uns von Natur innewohnenden egoistischen Trieb nach Leben, Lust und Glückseligkeit als das Verwerfliche, zu Überwindende erkennt und nirgendwo reiner und schöner zum Ausdrucke kommt, als in der Ethik Schopenhauers. Er wurde mir jetzt zu dem, was er vielen kommenden Zeiten sein wird, zum philosophus christianissimus, und das Studium Schopenhauers, verbunden mit der Lektüre des Neuen Testamentes, gestaltete sich in mir zu einem harmonischen Ganzen, welches die strengsten Anforderungen der Wissenschaft mit den ebenso unabweisbaren Bedürfnissen des religiösen Gemütes in voll befriedigender Weise vereinigte. Der Name Schopenhauer war immer auf meinen Lippen, jeden, dessen ich habhaft werden konnte, plagte ich damit; der ganze Tag, soweit er mir gehörte, war seinen Gedanken gewidmet, und nachts verfolgten sie mich bis in meine Träume hinein. Unter diesen Eindrücken ging der letzte Mindener Winter zu Ende, während sich auch äußerlich Ereignisse vorbereiteten, welche dem Schifflein meines Lebens einen neuen Kurs geben sollten.

Während der beiden Jahre meiner Tätigkeit in Minden hatte sich in mir das Gefühl immer lebendiger herausgebildet, daß ich mich nicht in dem meiner Natur angemessenen Fahrwasser befände. So reifte in mir der Entschluß, wenn irgend möglich, mich von der Schule loszumachen und die akademische Laufbahn einzuschlagen. Es war um Weihnachten 1870, als mir zwei Anerbieten vorlagen; das eine war eine Gymnasiallehrerstelle in Duisburg mit 600 Talern Gehalt und dem Religionsunterricht in den oberen Klassen; gleichzeitig aber hatte der Direktor des Gymnasiums in Marburg, wo ich infolge meiner Examina gut angeschrieben war, mir eine Hilfslehrerstelle an seinem Gymnasium mit 400 Talern Gehalt angeboten. Die Entscheidung konnte mir nicht schwer fallen. Wollte ich in der Gymnasialkarriere verharren, so mußte ich Duisburg annehmen, wollte ich der Universität näherkommen, so dürfte ich das Opfer nicht scheuen, im[121] Gehalt auf 400 Taler und im Rang auf eine Anfängerstelle zurückzugehen und für Marburg mich verpflichten. Dies machte ich mir vollständig klar, und auf der Weserbrücke stehend, sagte ich zu mir: Da ich entschlossen bin, zur Universität zu gehen, so werfe ich hier die Duisburger Stelle mit ihren 600 Talern ins Wasser und stecke die Marburger Stelle mit ihren 400 Talern in die Tasche. Der Abschied von Minden wurde mir nicht eben schwer. Während meines zweijährigen Aufenthalts war ich mit allen Kollegen in gutem Einvernehmen geblieben, aber keinem derselben sonderlich nähergetreten, außer etwa dem Dr. Heinze. Nähere Beziehungen unterhielt ich auch zu meinem Klavierlehrer, dem Musikdirektor Drobisch, welcher mir das Geleit gab, als ich auf dem Mindener Bahnhof abreiste. Ich fuhr nach Oberdreis, wo ich einige Tage blieb. Mein Vater, damals 70 Jahre alt, beschloß, mich bei der Abreise zu begleiten. Da ihm das Gehen schon beschwerlich fiel, fuhren wir bis Altenkirchen mit unserm Wagen, und unterwegs sagte mir Papa, daß es Zeit für ihn werde, zu sagen: »Bestelle dein Haus!« Er konnte nicht voraussehen, daß ihm noch volle sechzehn Jahre zu leben beschieden waren, Zeit genug, nicht nur sein Haus zu bestellen, sondern auch das meine bestellt zu sehen. Er starb am 9. Januar 1887, fünf Monate nach meiner Verheiratung.

In Marburg angelangt, stiegen wir im »Ritter« ab und begaben uns alsbald auf die Suche nach einer Wohnung. Die Auswahl war nicht groß und unsere Wahl nicht glücklich. In der Nähe des Gymnasiums befindet sich ein freier Platz, die Hofstadt genannt, in einer der unruhigsten Gegenden Marburgs. Hier, in dem Hause, welches durch eine Gedenktafel als die ehemalige Wohnung Jung-Stillings gekennzeichnet ist, wohnten zwei Treppen hoch zwei ältliche Frauen, die Schwestern Stedefeld, bei welchen ich mich für den Sommer einmietete, weil eben nichts anderes zu haben war, obgleich die Wohnung manches zu wünschen übrigließ und für mich eine wahre Quelle der Leiden wurde. Zwar genügte das Wohnzimmer, obgleich durch den vom Platze herauftönenden Kinderlärm unruhig, im übrigen meinen bescheidenen Ansprüchen, schlimm war es aber um das kleine Schlafzimmer bestellt, welches, in einem Vorbau des die Ecke zweier[122] Straßen bildenden Hauses angebracht, gleichsam wie ein Vogelkorb in der Luft schwebte und bei Tag von Morgen bis Abend dem Straßenlärm ausgesetzt war, aber auch bei Nacht keine Ruhe bot, da man bei Neigung zu Schlaflosigkeit, die sich sehr bald infolge des angestrengten Studiums bei mir einstellte, fast jede Stunde die benachbarten Turmuhren schlagen hörte.

Mein Vater verließ mich, und ich nahm meine Aufgabe in Angriff, welche für das bevorstehende Sommerhalbjahr 1871 eine doppelte war, einerseits mußte ich mich in die neue Schule einarbeiten, andererseits hatte ich meinen Eltern zugesagt, im Laufe des Sommers das theologische Examen pro licentia concionandi abzulegen, durch welches man damals von allen militärischen Verpflichtungen befreit wurde. Meiner durch die Studien des vorigen Winters schon geschwächten Gesundheit wäre es sicherlich ersprießlicher gewesen, zu dienen, welches mir bei meiner stets bewahrten Vorliebe für das Turnen, der Fähigkeit, mich allen Lebenslagen leicht anzupassen, keine Schwierigkeiten bereitet haben würde. Aber die Eltern fürchteten die Kosten des Einjährig-Freiwilligen-Jahres, hegten auch wohl, namentlich meine Mutter, noch immer die stille Hoffnung, mich dereinst als eine Leuchte der Kirche, etwa als einen Schleiermacher auf der Kanzel zu sehen, und obwohl ich selbst mir andere Ziele gesteckt hatte und jener Hoffnung schon längst entwachsen war, so war ich doch von jeher gewohnt, jede Last auf meine kräftigen Schultern zu nehmen und mit Lust und Eifer zuzugreifen, wo es etwas Neues zu lernen gab. Die Tätigkeit am Gymnasium bereitete mir nach den Erfahrungen in Minden nicht die mindeste Schwierigkeit, war vielmehr für mich ein unterhaltender Sport und angenehmer Zeitvertreib, nur daß ich von meinen Studien wenig Zeit zum Vertreiben übrig hatte. Ich erhielt wieder das Ordinariat von Sexta und in den mittleren Klassen den Ovid und einiges andere. Um hier von vornherein alle Schwierigkeiten abzuschneiden, beschloß ich, die unruhigen Elemente durch ein energisches, wohl gar bärbeißiges Auftreten einzuschüchtern. Sobald die geringste Unordnung sich zeigte, fuhr ich grimmig darauflos, so daß die Schüler in der ersten Zeit gelegentlich behaupteten: »Dieser Deussen ist ja ein wahrer Teufel!« Der Erfolg dieser[123] Schauspielerei war ein vollständiger und dauernder: meine Jungen saßen da wie die Lämmer, und bald konnte ich ihnen sogar gelegentlich den Rücken zuwenden, ohne daß einer es wagte, sich zu regen. Dabei gelang es mir, das Interesse der Schüler durch Klarheit und Lebendigkeit, auch durch einfließende Scherze wachzuhalten, so daß ich mich nach kurzer Zeit einer nicht geringen Beliebtheit erfreute. Auch war in Marburg der Menschenschlag sanfter und ihm entsprechend seine Behandlung eine ungleich mildere als die in Minden. Körperliche Züchtigungen, welche in Minden fast alle Stunden von der Sexta bis hinauf zur Tertia vorkamen, durften in Marburg nur bei offener Auflehnung gegen die Autorität des Lehrers angewendet werden, und auch dann war dem Direktor sofort Anzeige zu erstatten. In den eineinhalb Jahren meines Marburger Aufenthaltes habe ich nur einmal eine Ohrfeige erteilt. Ein großer, wegen seiner Roheit und Körperstärke gefürchteter Schüler hatte einen armen kleinen Kerl mißhandelt. Ich ließ ihn vortreten, hielt ihm sein Unrecht vor und verabfolgte ihm vor der ganzen Klasse, die auf meiner Seite stand, einen kräftigen Backenstreich. Dem Direktor machte ich pflichtmäßig davon Anzeige; er mißbilligte mein Vorgehen nicht, meinte aber, daß auch dieser Fall sich noch ohne körperliche Züchtigung hätte erledigen lassen. Wie die Schüler, so waren auch die Lehrer vom Direktor an bis zum letzten Hilfslehrer gutherzige, harmlose Männer, weniger schneidig als in Minden, aber auch erheblich sympathischer, so daß ich noch jetzt mit angenehmen Empfindungen an alle zurückdenke, was ich von den Mindener Kollegen nicht im gleichen Maße behaupten kann. Übrigens stand während des Sommers 1871 der Verkehr mit Lehrern wie mit Schülern für mich in zweiter Linie, da das herannahende theologische Examen alle Zeit, die ich von der Schule erübrigen konnte, und alle Kraft in Anspruch nahm.

Das theologische Examen wurde in Marburg nicht wie in den altpreußischen Provinzen vor dem Konsistorium, sondern vor der theologischen Fakultät abgelegt; wodurch mehr Nachdruck auf den wissenschaftlichen als auf den praktischen Leistungen lag und meine Aufgabe wesentlich erleichtert wurde. Im Bibelstudium war ich schon lange bewandert. An der Hand von de Wettes Einleitung[124] zum Alten und Neuen Testamente hatte ich das griechische Neue Testament ganz, vom hebräischen Alten Testament sämtliche historischen Bücher von der Genesis bis zum zweiten Buch der Könige zweimal durchgelesen, dazu auch den ganzen Jesaias, die wichtigsten Psalmen und vieles andere. Die hebräische Sprache in ihrer edelen Einfachheit war mir sehr lieb geworden und ich sehnte mich danach, jemand zu finden, mit dem ich hebräisch hätte sprechen können. Freilich vergebens! Auch die biblischen Realien hatte ich aus Wieners vortrefflichem biblischen Reallexikon mit großem Interesse studiert. Noch erinnere ich mich an einen Sonntag nachmittag, welchen ich dem Studium der Topographie von Jerusalem gewidmet hatte. Ich empfand dabei die heißeste Sehnsucht, die heiligen Stätten mit eigenen Augen zu sehen und mußte mir doch sagen, daß für mich armen Gymnasiallehrer bei meinem beschränkten Gehalt und knapp bemessenen Ferienurlaub nicht die mindeste Aussicht sei, jemals nach Palästina oder überhaupt nur aus Deutschland herauszukommen.

War somit das Bibelstudium in den Grundsprachen für mich mehr ein Genuß als eine Arbeit, so empfand ich die Notwendigkeit, die ganze Kirchengeschichte in so kurzer Zeit dem Gedächtnis einzuprägen, als eine wahre Plage. Ich wählte zum Studium den kleinsten Kurtz, entwarf mir über alle achtzehn Jahrhunderte synchronistische Tabellen mit sieben parallelen Spalten, repetierte nach diesen unermüdlich und eignete mir so in wenigen Monaten eine klare und feste, allerdings nur auf das Wesentlichste beschränkte Übersicht der Tatsachen an, mit welchen ich das Examen zu bestehen hoffen durfte. Weniger Not machte mir die Dogmatik; da der Hutterus redivivus für mich zuviel entbehrliches Detail enthielt, so ging ich das Handbuch von de Wette durch, welches im ersten Teil die biblische Theologie, im zweiten die altlutherische Dogmatik in reichlich exzerpierten Stellen der wichtigsten altlutherischen Dogmatiker, Quenstedt, Calovius usw., behandelt. Aus diesen prägte ich mir die lateinischen Schlagworte und Hauptsätze ein, und sie verbanden sich so glücklich mit der mein Lebenselement bildenden Weltanschauung Schopenhauers, den ich in meiner Eingabe an die Fakultät als den Philosophus christianissimus zu bezeichnen wagte, daß sich daraus ein Philosophie[125] und Christentum vereinigendes organisch zusammenhängendes Ganzes ergab. Um die praktischen Disziplinen mich zu kümmern, hatte ich weder Zeit noch Neigung; und auch während meiner Universitätsjahre hatten sie mir gänzlich ferngestanden. War es doch überhaupt schwierig und gelang es doch nur durch Hereinziehung solcher Publika wie die von Schaarschmidt in Bonn vorgetragene und mir gänzlich dunkel gebliebene »philosophische Lehre von Gott«, das erforderliche theologische Triennium nachzuweisen. An häuslichen Arbeiten wurde nur eine Predigt über das neue Gebot der Liebe (Ev. Joh. 14) und eine Katechese über eine Parabel bei Lukas gefordert, welche beide sich in sechs Wochen bequem herstellen ließen; im übrigen bestand das Examen in einer zweitägigen Klausur und in der mündlichen Prüfung vor der Fakultät. Mit meiner gewohnten Arbeitskraft und Arbeitslust griff ich alle diese Dinge tapfer an; kam ich nachmittags um 4 Uhr aus der Schule nach Haus, so gehörte der übrige Tag bis spät in die Nacht den theologischen Studien, nur daß ich täglich gegen Abend einen einsamen, melancholischen Spaziergang über Ockershausen zur Eisenbahnbrücke machte, wo ich im Gespräch mit dem freundlichen Bahnwärter einige Augenblicke ausruhte, um dann über die Brücke zu gehen und auf der andern Seite der Bahn heimzukehren. Gelegentlich unterbrach ich auch die Arbeit, indem ich etwas Klavier spielte. Ich übte gerade die Pathétique von Beethoven ein, und noch heute, wenn ich das Finale dieser Sonate höre, erwacht in meiner Erinnerung die ganze damalige Situation und wie eine trübe Wolke über einer einförmigen Landschaft lagernde Gemütsstimmung, welche beide zusammen von Tag zu Tag immer drückender bis zur Unerträglichkeit wurden. Die unruhige Lage des Hauses störte meine Arbeit und den von alters her mir sehr schätzenswerten Mittagsschlaf, und nachts wurde ich in meinem luftigen Wolkenkuckucksheim immer wieder durch das Schlagen der Turmuhren aus meinem unruhigen Halbschlafe aufgeschreckt. Aber auch nach den schlechtesten Nächten mußte ich mich tagsüber zur Arbeit zwingen, denn der Examentermin rückte immer näher, und ich konnte keinen Tag mehr entbehren. Eine gelinde Verzweiflung ergriff mich, wenn ich sehen mußte, wie ich von Tag zu Tag[126] meine Gesundheit mehr und mehr untergrub, und schließlich ging ich zum Dekan, Prof. Dietrich, und schlug ihm vor, das Examen lieber noch ein Semester hinauszuschieben. Er riet davon ab; durch ein Tentamen, wie es zum Nutz und Frommen der Kandidaten vom Dekan abgehalten zu werden pflegte, hatte er sich schon vordem vom Stand meines Wissens unterrichtet, und so empfahl er mir jetzt lieber durchzuhalten und dadurch um so eher von der nervösen Spannung, in der ich mich befand, freizuwerden. Ich hielt also durch, aber über die Folgen wird noch weiterhin zu berichten sein. Predigt und Katechese waren abgeliefert, und der Termin für die Klausurarbeiten rückte heran. Wir versammelten uns, etwa ein Dutzend Kandidaten, im Hause des Dekans; er diktierte, jede halbe Stunde eine Frage, welche wir unter seiner Aufsicht ohne andere Hilfsmittel als den hebräischen und griechischen Grundtext schriftlich auszuarbeiten und sogleich abzuliefern hatten.

So saßen wir beim Dekan von 2 Uhr nachmittags bis 8 Uhr abends und am nächsten Morgen von 8 bis gegen 1 Uhr, worauf das Zusammensein mit einem solennen Diner im Hause des Dekans beschlossen wurde. Hierbei bestand ein Brauch, auf den man mich vorher aufmerksam gemacht hatte, an den ich aber erst glaubte, als mir Direktor Münscher auf mein Befragen die Sache bestätigte. Jeder Kandidat hatte nach beendigtem Mahle als Entschädigung für den Dekan in seiner Serviette oder unter dem Teller in diskreter Weise einen Taler zu verstecken. Ich weiß nicht, ob dieser seltsame Brauch noch heute besteht. Am 28. Juli 1871 wurde ich zum mündlichen Examen zitiert. Sehr zum Vorteile gereichte es mir, daß das ganze Examen in lateinischer Sprache abgehalten wurde, in welcher es soviel leichter ist, den Mangel an positiven Kenntnissen durch einen Schwall eleganter Worte zu verbergen. Die Interpretation der Texte verlief sehr gut, für die Dogmatik standen mir die lateinischen Schlagworte der altlutherischen Dogmatiker reichlich zur Verfügung und in der Ethik gewann ich den vollen Beifall des Examinators Heppe, als ich im Geiste der Schopenhauerschen Philosophie den Satz aussprach und begründete: Ethica non praescribit sed describit. Schlimmer erging es mir in der Kirchengeschichte. Der alte Henke fragte[127] mich nach Servet. Ich wußte von ihm alles, was in meinem kleinen Kurz stand, aber der Examinator verlangte mehr, die Aufzählung seiner Schriften und ähnliches, womit ich nicht dienen konnte. Ich machte verzweifelte Anstrengungen, die Rede auf ein anderes Thema hinüberzuspielen, aber Henke holte mich von allen Seitensprüngen zu Servet zurück, selbst nachdem ich rundheraus erklärt hatte: »De Serveta nihil amplius scio!« Ich war bei dieser peinlichen Lage der Sündenbock für andere, denn das Examen war öffentlich und dahinten saßen ein paar, welche, wie mir Henke späterhin gleichsam entschuldigend erklärte, sein Kolleg zu schwänzen pflegten, und um ihnen die Hölle heiß zu machen, ließ er mich hineinfallen. Immerhin war der Gesamteindruck des Examens von der Art, daß ich nicht nur bestanden hatte, sondern als Prädikat sogar ein »bene stetit« erhielt. Von einer Zentnerlast befreit zog ich mich erschöpft und zu keiner Kneiperei aufgelegt auf mein Zimmer zurück, wo mich alsbald mein Direktor, der alte, treue Münscher, besuchte, um mir seine Glückwünsche und die seiner Familie zu überbringen.

Das theologische Examen war also bestanden und meine Natur hatte tapfer bis zu Ende durchgehalten. Hinterher aber zeigten sich die Folgen der übergroßen Anstrengung, die ich mir den Sommer hindurch zugemutet hatte. Es folgten halb schlaflose Nächte und umflorte Tage. Meinem Dienst an der Schule konnte ich nach wie vor mit Leichtigkeit nachkommen, aber zu wissenschaftlicher Arbeit war ich nicht imstande, und wenn ich meinen Aristoteles aufschlug, so fühlte ich, wie der Kopf sich weigerte, die Gedanken des Philosophen in sich aufzunehmen. Ein Gefühl der Steifheit des Denkorgans und ein Druck an der oberen Stirn, der jetzt noch zuweilen nach größeren geistigen Anstrengungen wiederkehrt, verhinderte mich damals an jeder intensiven Arbeit. Ich war in Verzweiflung, denn die Furcht überkam mich, daß es mit meiner wissenschaftlichen Tätigkeit für immer zu Ende sei. Ich wandte mich an Dr. Hüter, damals Privatdozent und Vater eines meiner Schüler. Er empfahl geistige Ruhe, kalte Waschungen und Körperbewegung, ohne daß ich fürs erste davon einen Erfolg spürte. So lag ich im September 1871 in unruhigem Halbschlummer in meinem Bett, als um 3 Uhr nachts der Briefbote[128] einen Eilbrief an mich brachte, welcher eine der bedeutendsten Wendungen in meinem Leben einleitete. Schopenhauer sagt einmal: »Wir glauben, daß die wichtigsten Ereignisse unseres Lebens sich sofort in ihrer Bedeutung, gleichsam mit Pauken und Trompeten anmelden und finden hinterher, daß sie ganz leise durch die Hintertür sich eingeschlichen haben.« So war es aber nicht, als im September 1871 mitten in der Nacht jener wichtige Brief eintraf, welcher eine völlige Wandlung in meinem Lebensschicksal vorbereitete und mich in große Aufregung versetzte. Der Brief kam von Nietzsche. Er war nach Oberdreis gegangen, wo man meine Ankunft erwartete und den Brief liegen ließ. Da sie sich verzögerte, so öffnete man das Schreiben und fand es wichtig genug, um es mir durch einen Eilboten zuzustellen, welcher es dann um 3 Uhr nachts brachte. Der Inhalt war folgender:

Mein lieber Freund, nicht wahr, Du bist noch willens, Dich einmal für Philosophie zu habilitieren? Seitdem ich dies weiß, denke ich immer daran, wie Deine Lage etwas zu erleichtern sei, und heute fällt mir eine Proposition zu, die Dir vielleicht nützen könnte. Man fragt bei mir an, ob ich jemanden wüßte, der sich für 4 Jahre unter folgenden Bedingungen zu einer Erzieherstelle verpflichten würde.

Es gilt in einer russischen Familie zu leben, und zwar für den Winter in Florenz. Ein begabter, doch etwas verwöhnter Knabe von 13 Jahren ist zu unterrichten, und zwar in Englisch, Lateinisch und Deutsch. In der Familie wird Französisch gesprochen. Dieses Sprachenaggregat macht ja Dir keine Schwierigkeit. Der Gehalt ist hoch, 3000–4000 francs, also circa 1000 Thaler. Natürlich völlig freie Station.

Dadurch würdest Du nun für 4 Jahre der Vorbereitung ein fast freier Mann und könntest fast ganz Deinen philosophischen Vorbereitungen leben. Du könntest fast die ganze Summe Dir, bei Deinen außerordentlich mäßigen Lebensansprüchen ersparen, um Deine Privatdozentenlaufbahn, so kurz sie auch sein wird, als Rentier zu beginnen. Kurz, Du gewinnst Zeit und Geld, nicht zu reden von dem Werte eines Aufenthaltes in Italien, Schweiz usw.[129]

Schreibe mir nach kaltblütiger Überlegung, aber so rasch als möglich, eine Antwort. Denn die eine Bedingung wäre, daß Du diesen Winter bereits antrittst. Dazu müßtest Du Deine Schulmannkarriere mit rascher Faust abschließen.

Also werter und lieber Freund! Schnell! Ja! oder Nein!

Ich selbst habe beschlossen, Dich in diesem Herbst zu sehen. Ich reise nach Norddeutschland und werde etwa am 20. Oktober über Marburg nach Basel zurückkehren. Ich freue mich herzlich, Dich wiederzusehen. – Richte meine besten Grüße an Deine ausgezeichnete Familie aus. – Noch 11/2 Wochen bin ich in Basel. Während dieser, ja in den nächsten Tagen muß Deine Antwort da sein. – Nimm die Sache nur nicht so feierlich. Es soll kein Entschluß, aber ein lustiges Wagnis sein.

Si nihil est lusisse videmur.

Die Kunde von Deinem theologischen Examen hat mich in Erstaunen gesetzt. Mehr sage ich erst, nachdem ich Dich wiedergesehen habe. Hast Du den »Sokrates« noch einmal gelesen? Auf Wiedersehn lieber, alter Freund und Kamerad!


Basel, 12. September 1871.


Friedr. Nietzsche.


Ich schrieb an Nietzsche, daß ich geneigt sei, auf die Sache einzugehen und bat ihn, seine Antwort mit den näheren Angaben nach Oberdreis zu richten, wohin ich unverzüglich und in großer Aufregung abreiste. Dort traf mich ein weiterer Brief Nietzsches vom 26. September, in welchem er mich aufforderte, an Frau von Kantschin, welche damals im Chateau Copet bei Ouchy wohnte, zu schreiben und ein Rendezvous zu verabreden. Mit vieler Mühe und Sorgfalt brachte ich einen französischen Brief zustande und erhielt darauf die Aufforderung, mich am 21. Oktober, nachmittags 3 Uhr, zu Vevey im Hotel d'Angleterre einzufinden. Ich nahm in Marburg, wo inzwischen der Unterricht wieder begonnen hatte, Urlaub und fuhr mit Frack und allem Nötigen versehen, mit dem Nachtzuge über Frankfurt nach dem Bodensee und direkt nach Vevey. Die Hoffnung, etwas von der Herrlichkeit der Alpen zu sehen, erwies sich als irrig. Ich durchquerte die ganze Schweiz, ohne einen Berg zu sehen, da alles mit Wolken bedeckt war. Erst[130] auf der Höhe von Chexbrex, von wo ich nach Vevey mit dem Omnibus hinunterfuhr, hellte sich das Wetter auf, ein Mitreisender hatte mir das Hotel du Leman als einfach und gut empfohlen. Ich verwechselte dies mit dem Hotel du Lac und geriet so versehentlich in das vornehmste Hotel des Ortes. Am Abend ging ich am See spazieren und knüpfte mit einem Herrn ein Gespräch an, welches sich naturgemäß dem eben beendeten Deutsch-Französischen Krieg zuwendete. »Nous sommes neutres«, sagte der Herr. »Wir sind sächlich«, wie er in deutscher Sprache erklärend hinzusetzte. Am folgenden Tage kleidete ich mich sorgfältig an und erschien in Frack, weißer Binde und weißen Handschuhen um 3 Uhr im Hotel d'Angleterre. Nicht lange hatte ich gewartet, als eine größere Dame in Perücke, schwarzer, etwas nachlässiger Kleidung und ungenierter Haltung eintrat. Es war Madame de Cantchine, meine künftige Gebieterin. Da sie kein Deutsch verstand, so wurde die Unterhaltung französisch geführt, wodurch ich genötigt war, oft um Wiederholung des Gesagten zu bitten. Madame Kantschin schien an meinem mangelhaften Französisch Anstoß zu nehmen, und vielleicht war dies der Grund, daß sie mir schließlich erklärte, der gegenwärtige Erzieher bleibe noch ein Jahr, und dann solle ich an seine Stelle treten. Vorher, während meiner Ferien im Juli 1872, solle ich besuchsweise kommen, um zu probieren, ob ich mit dem Knaben fertig würde. Endlich kam auch die Vergütung für meine gegenwärtige Reise zur Sprache, ich schlug meine Kosten auf 200 Franken an und erhielt die Antwort: »Gut, Sie werden die 200 Franken heute abend in Ihrem Hotel finden.« Damit war die Audienz beendet. Etwas enttäuscht über den Aufschub machte ich, um über die Eindrücke nachzudenken, einen längeren Spaziergang und kehrte in mein Hotel zurück. Der Portier überreichte mir ein Kuvert mit 200 Franken, und ich konnte bemerken, wie man mich von diesem Augenblicke an mit sichtlich größerer Aufmerksamkeit behandelte. Am folgenden Tage trat ich die Rückfahrt von Vevey nach Basel an. Hungrig und müde kam ich gegen 8 Uhr abends dort an, nahm Wohnung im Hotel zum Wilden Mann und eilte ohne Verzug zu Nietzsche, in der Hoffnung, ihn ins Hotel mitzunehmen, dort in seiner Gegenwart behaglich zu speisen und den einzigen[131] Abend, den ich ihm nach sechsjähriger Trennung widmen konnte, in seiner Gesellschaft zu verbringen. Aber es sollte anders kommen, Nietzsche war nicht zu Hause, wohl aber der im selben Hause wohnende Professor Overbeck. Ich begrüßte ihn, er empfing mich freundlichst und nötigte mich zu bleiben; Nietzsche sei bei Burckhardt und könne jeden Augenblick zurückkommen. Ein frugales Abendbrot, bestehend aus Tee und Butterbrot, wurde aufgetragen, und ich mußte teilnehmen. Es war herzlich gut gemeint, aber im stillen sehnte ich mich nach einem substantielleren Diner im Hotel. Eine Stunde nach der andern verging; endlich, nach 11 Uhr, erschien Nietzsche. Er war in höchst animierter Stimmung, erzählte von seinem Gastmahl bei Burckhardt und wie sie nicht versäumt hatten, von dem getrunkenen Weine eine Spende für die Götter auszugießen. Alsbald entschloß er sich, mich in mein Hotel zu bringen, aber ein Wiedersehen nach sechsjähriger Trennung war nicht so kurz zu fassen. Unter mancherlei Gesprächen gingen wir bis 2 Uhr nachts von einem Ende der Stadt zum andern auf und ab. Nietzsche erläuterte mir die intermontane Lage des Kantons Basel, wie er es nannte, und belustigte sich darüber, daß ich keine Ahnung hatte, in welchem Teile der Stadt wir uns jedesmal befanden. Er erschien an jenem Abend lebendiger, feuriger, übermütiger, als ich ihn je gesehen. Immer wieder kam er darauf zurück, daß ich nach Marburg telegraphieren solle, um noch für einen Tag länger Urlaub zu erhalten. Jetzt wird es mir schwer zu begreifen, daß ich auf diesen Wunsch nicht einging. Aber die Ansichten des jungen, so früh in die Fesseln des Gymnasiallehrerdienstes eingeschmiedeten, weltunkundigen Gelehrten waren zu eng, um eine solche Extravaganz zu wagen. Mit Schmerzen nahm ich um 2 Uhr nachts vor meinem Hotel von dem Freunde Abschied, und in trauriger Stimmung dampfte ich am andern Morgen an den blauen Bergen des Schwarzwaldes vorüber auf Marburg zu. Ich hatte zwar keinen Schaden gehabt, meine Reise war mir reichlich vergütet worden, aber die Hoffnung auf Veränderung meiner Lebenslage war in die Ferne gerückt, wer weiß, ob sie sich nun überhaupt verwirklichen werde. Bis zu den nächsten Sommerferien, wo ich mich der Verabredung gemäß wieder bei den Russen einfinden sollte, war noch fast ein Jahr zu durchleben,[132] ein Jahr voll Unruhe und ohne Hoffnung auf Fortschritt, da mich sowohl mein nervöser Zustand wie die Aussicht auf die bevorstehende Veränderung verhinderten, größere wissenschaftliche Arbeiten zu unternehmen. Dazu kam noch etwas anderes, um meine Stimmung zu verdüstern. Wiederholt dachte ich daran, an Nietzsche zu schreiben, konnte mich aber im Gefühle der dem Anscheine nach fehlgeschlagenen Hoffnung immer noch nicht dazu entschließen. Da traf ein Brief von Nietzsche ein, welcher mir im gereizten Tone über mein Schweigen Vorwürfe machte. Ein so verfehltes Wiedersehen wie das unsrige bedürfe doch wohl einiger Entschuldigung; meine Weigerung, noch einen Tag länger zu bleiben, habe ihn sehr verdrossen, den Pflichten gegen die Schule stünden höhere Pflichten gegenüber, die ich gegen den Freund hätte, usw. Dieser Brief ging mir sehr zu Herzen. Ich suchte in meiner Antwort die Sache möglichst ins gleiche zu bringen und war erfreut, als mir Nietzsche gegen Weihnachten hin sein erstes Werk: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« sandte. Die großen, wenn auch nicht eben philologisch durchgearbeiteten Gedanken von dem dionysischen und apollinischen Elemente in der griechischen Tragödie beschäftigten mich lebhaft, wenn ich im Winterschnee meinen täglichen einsamen Spaziergang nach Norden zu bis über die Eisenbahnbrücke und zurück machte, an dem Walde vorüber, dessen kahle Wipfel im Winde rauschten, während der Mond sein geisterhaftes Licht über die öde Winterlandschaft ergoß. Ich hatte meine unruhige Wohnung aufgegeben und eine andere bezogen.

Im Hotel Ritter, wohin ich meinen bis Herbst 1871 sehr bescheidenen Mittagstisch im Interesse einer ausreichenderen Verpflegung auf Betreiben meiner Mutter verlegt hatte, saß ich neben einigen Universitätsprofessoren, dem Historiker Nissen und dem Juristen Krüger, deren wohlwollendes Entgegenkommen doch etwas zu sehr nach Herablassung schmeckte, als daß ich den Mut gehabt hätte, ihnen näherzutreten. Die Kollegen an der Schule lebten meist in stiller Zurückgezogenheit. Mein Freund Böhr, derselbe, mit dem ich im Juli 1862 eine Tour durch den Thüringer Wald unternommen hatte, war zu meiner freudigen Überraschung in Marburg als Militärarzt aufgetaucht,[133] aber vielbeschäftigt und nur selten zu haben. In dieser Vereinsamung geriet ich, ich weiß nicht wie, in die Gesellschaft einiger junger Leute, teils Examenkandidaten, teils noch halber Studenten, mit denen ich einige Zeit lang nachmittägliche Exkursionen in die Umgegend von Marburg unternahm, ohne daß ich an ihrem etwas wüsten und ziemlich geistlosen Treiben dauernde Befriedigung gefunden hätte. Interessanter waren die Fußtouren, die ich durch Schnee und Eis gelegentlich mit Professor Horstmann machte, um seine auf dem Lande wohnenden Kranken zu besuchen, wobei manches belehrende Wort, mancher wertvolle Eindruck mir zuteil wurde. Wir traten in das Zimmer eines Kranken. Horstmann fragte nach seinem Befinden, sprach ihm Mut ein und verließ ihn mit dem Wunsche baldiger Besserung. »Haben Sie bemerkt,« fragte Horstmann, nachdem wir ins Freie gelangt waren, »wie die Kräfte des Kranken sich unter meinem Zuspruche sichtlich belebten?« – »Wohl habe ich es bemerkt«, versetzte ich, »und sehe daran einmal wieder, wie groß der seelische Einfluß ist auf die Genesung des Kranken.« – »Und doch«, sagte Horstmann, »kann dieser Mann keine 24 Stunden mehr leben.« Wir lesen und hören oft von wunderbaren Krankenheilungen, welche nur dem Eindrucke einer mächtigen, das Vertrauen des Patienten besitzenden Persönlichkeit verdankt werden, aber der gegenwärtige Fall machte es mir zweifelhaft, ob derartige Heilungen auch von Dauer gewesen sind. Noch muß ich eines in diesen Winter fallenden Balles gedenken, zu dem Professor Henke unter vielen andern auch mich freundlich eingeladen hatte. Es wurde die ganze Nacht durchgetanzt und ich nahm mit Vergnügen daran teil, wunderte mich aber im stillen, daß man mich ebenso wie alle andern behandelte und nicht mit der Auszeichnung, auf die ich in jugendlicher Selbstüberschätzung Anspruch zu haben glaubte. Ich verließ das Fest mit den übrigen erst um 6 Uhr morgens, um zwei Stunden später vor meinen Schülern zu stehen und den morgendlichen Unterricht in üblicher Weise mit dem Sprechen eines Vaterunsers zu beginnen. Da ich selbst in Oberdreis uniert getauft, in Elberfeld reformiert katechisiert und in Pforta lutherisch konfirmiert worden war und schon lange diese Unterschiede gering zu schätzen, zu perhorreszieren gewohnt war,[134] da ferner meine Schüler halb lutherisch, halb reformiert waren, so suchte ich meiner Geringschätzung dieser konfessionellen Unterschiede dadurch Ausdruck zu geben, daß ich abwechselnd das eine Mal das Gebet mit »Vater unser« und dann wieder mit »Unser Vater« begann, auch die dem so schönen einfachen Gebete des Herrn erst später angefügte inhaltleere Doxologie wegließ, woraus sich in der Stadt das Gerede bildete, ich gehe damit um, eine neue Religion zu stiften. Auch sonst war es mir nicht möglich, bei den engen Anschauungen meiner Marburger Mitbürger jeden Anstoß zu vermeiden. So hatte ich in Quarta den Religionsunterricht zu geben und als Lehrpensum war gerade der Katechismus vorgeschrieben. Aber welcher Katechismus? Da die Klasse halb lutherisch und halb reformiert war, so lernte in derselben Stunde die eine Hälfte den lutherischen, die andere den reformierten Katechismus, und der Lehrer sollte den einen wie den andern nebeneinander in der Stunde erklären. War ich schon hierdurch gereizt, so wurde ich es noch mehr durch die Art, mit der sich ein unbescheidener Herausgeber in der für uns vorgeschriebenen Ausgabe des kleinen lutherischen Katechismus allerlei Änderungen erlaubt hatte. So heißt es bei Luther in der Erklärung des ersten Gebotes: »Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.« Hier war dem Herausgeber nicht entgangen, daß Gott zu den beiden ersten Verben als Akkusativ, zum dritten als Dativ zu fassen ist. Um diese Inkonzinnität zu heben, schob er das Wörtchen »ihm« ein: und um diesem mehr Nachdruck zu geben, setzte er das Wort »allein« hinzu. Diese Fälschung des ehrwürdigen lutherischen Textes erbitterte mich aufs höchste. Ich erklärte vor der Klasse die einzelnen Worte: »Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben,« – aber was steht hier, rief ich aus: »ihm allein vertrauen!« Sollen wir nicht auch unsern Eltern, unsern Lehrern vertrauen? Die Worte »ihm allein« sind unechter Zusatz und müssen gestrichen werden! – Dies Vorkommnis muß wohl von den Schülern zu Hause berichtet worden sein; denn wenige Tage darauf besuchte mich der Direktor, um mir in seiner milden Art darüber Vorhaltungen zu machen. Aber Herr Direktor, sagte ich, Sie selbst können doch unmöglich eine solche Verfälschung der Worte Luthers gutheißen. Er stimmte[135] mir zu, betonte aber, daß diese konfessionellen Unterschiede hier im Hessenlande mit Blut erkämpft worden seien, und daher sehr schonend behandelt werden müßten.

Das Sommersemester 1872 war gekommen und mit ihm war manches besser geworden. Obgleich ich für das Turnen keine Fakultas hatte, vielmehr nur daran dachte, mir eine solche gelegentlich zu erwerben, so wurde mir doch schon der gesamte Turnunterricht am Gymnasium übertragen. Es waren dafür jährlich 200 Taler ausgesetzt, und da bei dem Mangel einer Turnhalle im Winter nicht geturnt wurde, so verteilte sich diese Summe auf die sechs Sommermonate und bedeutete somit für mich eine Verdoppelung meines bisherigen Einkommens. Freilich brachte mir die Sache viel Arbeit, da ich nicht nur an den beiden Tagen, für welche die Turnstunden angesetzt waren, sondern fast jeden Nachmittag auf dem Turnplatze erschien, die Geräte herausgab, die Übungen überwachte und selbst eifrig mitturnte. Die Krönung der Sache war eine dreitägige Turnfahrt, welche ich von Marburg bis in die Gegend von Kassel hin mit den sechzig Schülern der drei oberen Klassen unternahm, und zwar allein, da eine Beteiligung auch anderer Lehrer zwar sehr erwünscht war, aber aus Bequemlichkeit unterblieb. Bei Tage wurde rüstig gewandert, und für die Nacht wurden meine Jungens auf Strohlager gebettet, während für mich ein Bett reserviert war. Bei dem milden Charakter der hessischen Jugend lief diese Turnfahrt ohne jeden Mißklang ab. Meine Schüler folgten mir gern, weil sie mich liebten, und ich war denn auch immer bereit, ihnen jeden billigen Wunsch zu erfüllen. Dies hatte allerdings mitunter seine Schwierigkeit. Wir kamen nach Fritzlar, wo ein großes Nonnenkloster besteht, und meine Schüler wünschten, dasselbe zu besichtigen. Ich will sehen, was sich tun läßt, sagte ich; stellt euch hier vor der Gartenpforte in Reih' und Glied auf und rührt euch nicht. Ich klingelte; die Pforte wurde geöffnet und eine Nonne trat heraus; sowie sie mich aber an der Spitze meiner Rotte erblickte, fuhr sie zurück, schloß die Pforte, öffnete ein Schiebefensterchen und fragte nach meinem Begehr. Diese meine Schüler, sagte ich, bitten um die Erlaubnis, das Kloster zu besichtigen. – Das ist leider unmöglich, da Männer bei uns keinen Zutritt haben. – Ich denke,[136] Sie können mit uns eine Ausnahme machen; diese jungen Leute kommen weither aus der Universitätsstadt Marburg, um das berühmte Kloster zu sehen, und es würde für sie ein wertvoller Eindruck fürs ganze Leben sein. – Ich kann leider nichts darin tun, aber vielleicht sprechen Sie mit der Oberin. – Ich willigte ein, sie öffnete die Pforte, ich warf noch einen strengen Blick auf meine Jungens, welche standen wie die Mauern, und trat durch die Pforte, welche sich alsbald hinter mir schloß, in einen weiten Garten. Meine Führerin war auf dem vielfach gewundenen und mit hoher Hecke umfriedigten Wege vorausgeeilt; bei jeder Wendung des Weges wartete sie, so daß ich immer nur den legten Zipfel ihres Gewandes, nie sie selbst erblickte. So gelangte ich in einen geräumigen Saal, der wie alles hier äußerst sauber, aber vollkommen leer war. Ich stand allein in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten. Plötzlich hörte ich eine sanfte Stimme sagen: Was wünschen Sie? Ich sah mich um; in einem Nebenraum, durch ein Gitter getrennt, saß nicht sichtbar, nur hörbar für mich, die Oberin. Ich trug mein Gesuch vor. Sie bedauerte, es abschlagen zu müssen. Ich wiederholte, daß wir weither kämen aus der Universitätsstadt Marburg, um das berühmte Kloster zu sehen, und daß es für meine Schüler ein wertvoller Eindruck fürs ganze Leben sein werde. Nach einigem Besinnen sagte sie, daß eine Besichtigung des Klosters nach ihren Ordensregeln nicht gestattet werden könne, daß wir aber doch die Kirche sehen könnten. Dankend nahm ich an, kehrte zu meiner Rotte zurück, warf noch einen strengen Blick auf sie und bedeutete sie, mir zu folgen. Pforten und Türen schienen sich von selbst zu öffnen, und die ganze Bande ergoß sich in das schmucke Kirchlein. Es war wirklich eine Sehenswürdigkeit: Altar und Wände waren mit Heiligenbildern geschmückt, der Boden mit zierlichem Mosaik belegt, alles von peinlichster Sauberkeit, blank und neu wie eine Puppenstube. Indem ich mich noch umsehe, bemerke ich, wie meine Buben eine Erhöhung auf der einen Seite erklimmen und hinüberschauen. Ich steige auch hinauf, zu sehen, was es da gibt, und sehe über die Schranke weg in einen weiten Raum, wo sämtliche Nonnen in Betstühlen auf den Knien ihren Gebetsübungen oblagen. Schnell reiße ich meine Kerle herunter und sorge, daß[137] wir das Freie gewinnen. So endigte dieser Besuch des Nonnenklosters zu Fritzlar. Sehr befriedigt, wenn auch von der langen Wanderung ermüdet, brachte ich meine ganze Schar am Abend des dritten Tages wohlbehalten nach Marburg zurück.

Neben der Unterhaltung, welche die Schule und das Turnen boten, nahm auch der gesellige Verkehr in diesem zweiten Marburger Sommer für mich freundlichere Formen an. Außer dem Museum, einer Gesellschaft, welcher so ziemlich jeder, und so auch ich angehörte, ohne daß es mich eben sonderlich dorthin gezogen hätte, bestand noch eine zweite Gesellschaft, der Marburger Alpenklub, welchem hauptsächlich jüngere Leute, Privatdozenten der Universität u. dgl. angehörten. In sie ließ ich mich aufnehmen und schloß mich mit Vergnügen den allwöchentlich am Sonnabendnachmittag stattfindenden Exkursionen an. Vorsitzender war der Professor Extraordinarius der Rechte Felix Plattner, kurzweg Fix genannt, welcher den gemeinsamen Ausflügen als Vorläufer diente und gelegentlich wohl die scherzhafte Entstellung dieses Titels in Verläufer bei der Schwierigkeit so vieler Waldwege wahrmachte. Außer ihm sind mir namentlich noch zwei Privatdozenten, der Mathematiker Heß und der Nationalökonom Maier, als muntere und geistreiche Kameraden in angenehmer Erinnerung. Man zog an schönen Sommernachmittagen hinaus, lagerte sich an einer Stelle im Wald, an welche vorsorglich ein Fäßchen Bier vorausgeschickt worden war, und es entwickelte sich unter den fünf oder sechs Teilnehmern, mehr waren selten vorhanden, unter animierten Gesprächen ein weidliches Zechgelage, von dem wir erst spät am Abend in rosiger Stimmung heimkehrten.

Inzwischen rückten die Sommerferien heran, und der Absprache gemäß schrieb ich an Madame Kantschin, daß ich vom 3. bis zum. 24. Juli frei und bereit sei, versuchsweise, wie sie es vorgeschlagen habe, die Leitung ihres Sohnes zu übernehmen. Nicht wenig betroffen war ich, als darauf ein kurzes Billett etwa folgenden Inhaltes eintraf:


Cher monsieur,

Des circonstances survenus ne me permettent pas de poursuivre mon projet, je dois renoncer à l'espoir de vous engager comme precepteur de mon fils.

Aimée de Cantchine.
[138]

Über diesen Ausgang einer Angelegenheit, die mich ein ganzes Jahr lang beunruhigt und von andern Unternehmungen zurückgehalten hatte, war ich nicht wenig verdrießlich. Vergebens also hatte ich mich darauf gefreut, die schöne Schweiz auch einmal in besserer Beleuchtung zu sehen als im vergangenen Oktober, wo ich sie eilig durchfahren und kaum einen Berg zu sehen bekommen hatte. Nun gerade will ich hingehen, sagte ich zu mir, wechselte mein vom Turnen erspartes Geld, von Laden zu Laden gehend, denn einen Bankier gab es damals in Marburg noch nicht, in ein paar hundert Franken um und saß am Nachmittag des Tages, an dem die Schule geschlossen hatte, auf der Bahn, um nach Frankfurt und von dort die Nacht durch über Stuttgart nach dem Bodensee zu fahren, wo ich in Friedrichshafen am frühen Morgen eintraf, mit Entzücken Hände und Gesicht in den Wassern des Bodensees wusch, und dann aller Sorgen ledig nach Schaffhausen weiterfuhr. Der Rheinfall, wie er seine Wassermassen über ragende Klippen tief unten in den schäumenden Kessel schüttet, das ungeheure Getöse, welches man unterhalb auf einem Vorsprung stehend aus nächster Nähe vernimmt, der Regenbogen, den die Sonnenstrahlen in dem aufspritzenden Wasserschaum bilden, das alles entzückte den noch nicht verwöhnten Reisenden aufs höchste. Das vornehme Hotel, nachdem ich mich über seine Preise orientiert hatte, wurde nur von außen bewundert, indem ich hier wie überall die einfacheren Häuser bevorzugte. In Zürich versah ich mich im Konsumverein mit Brot und Käse, ließ die mir an der Seite hängende, mit dem Schweizerkreuz gezierte Feldflasche mit Wein füllen und wanderte rüstig über die Berge nach Zug, fuhr mit dem Dampfer über den See und begann den Aufstieg zum Rigi. Auf halber Höhe warf ich einen Blick auf die wächsernen Füße und Hände, welche an dem Wallfahrtsorte »Maria im Schnee« für vermeintliche Heilung von gläubigen Seelen gestiftet worden waren, und weiter stieg ich den waldigen Abhang hinauf, bis ich den Bergsattel bei Staffelshöhe erreicht hatte, und nun plötzlich der Vierwaldstätter See und die jenseitigen Berge mit ihrem zauberhaften Blau mir vor Augen traten. Überwältigt warf ich mich ins Gras und weidete mich wohl über eine Stunde an soviel Herrlichkeit. Erst gegen Abend dachte ich daran, für ein[139] Nachtquartier zu sorgen. Ich trat ins Hotel und erhielt auf meine Anfrage die unwillkommene Antwort: »Ein Zimmer können Sie haben, aber nur mit einem andern Herrn zusammen.« »Wo ist der Herr?« fragte ich. »Er ist ausgegangen und wird wohl erst zur Nacht wieder zurückkommen.« So unangenehm diese Aussicht für mich war, so mußte ich doch, bei der Unmöglichkeit, ein anderes Unterkommen zu finden, mich in das Unvermeidliche fügen. Ich ließ mir die gute Laune nicht verderben, speiste vergnügt zu Abend, schwärmte noch mit einigen schnell gewonnenen Bekannten bei Mondschein im Freien umher und suchte erst spät nach 10 Uhr das mir angewiesene Zimmer auf. Richtig! Dort hinten in der andern Ecke des geräumigen Zimmers lag schon einer im Bett. »Guten Abend«, sagte ich. – »Guten Abend« tönte mir eine sanfte, wohlklingende Stimme entgegen. – »Erlaube mich vorzustellen: Dr. Deussen aus Marburg.« – »Sehr angenehm. Ich bin Paul Rée, Doktor der Philosophie.« Ich überlegte, was alles für Fächer bis herab zur Hühnerologie und Mistologie sich unter dem Namen eines Doktors der Philosophie verbergen konnten, und fragte daher nach einer kleinen Pause vorsichtig weiter: »Philosophie im weiteren oder im engeren Sinne?« – »Philosophie im engsten Sinne«, erwiderte der Unbekannte. Wieder eine kleine Pause, darauf ich: »Haben Sie sich schon an irgendeinen Philosophen näher angeschlossen?« Auf diese Frage erwiderte der Unbekannte nur ein Wort, und dieses einzige Wort bewirkte, daß ich mit einem Satze an seinem Bette war, seine Hand in der meinigen hielt und aus einem gänzlich Fremden zu einem Freunde, einem Bruder geworden war. Dies eine Wort war der Name: »Schopenhauer.« Natürlich saßen wir nun noch länger zusammen, natürlich verbrachten wir den nächsten Morgen miteinander, stiegen in gemeinsamer Wanderung und unter mancherlei Gesprächen, auch über Nietzsche und seinen Kreis, dem Dr. Paul Rée damals noch angehörte, nach Vitznau hinab, und trennten uns hier mit dem festen Vorsatze, uns wieder zu begegnen. Wir sind uns wieder begegnet, freilich erst zwölf Jahre später in Berlin, und davon wird noch die Rede sein. Ich selbst, erquickt durch dieses Zusammensein, setzte meine einsame Wanderung den Vierwaldstätter See hinauf fort, besuchte Brunnen, die Tellkapelle, Flüelen und[140] verbrachte die nächste Nacht im Roten Ochsen zu Altdorf. Weiter wanderte ich das Reußtal hinauf, sah bei Göschenen den eben im Bau begriffenen Tunnel und gelangte in abendlicher Wanderung nach Andermatt. Mein Plan war, hier rechtsum zu schwenken, um über die Furka und den Rhonegletscher ins Berner Oberland zu gelangen. Vorher aber wollte ich doch noch die Paßhöhe des Gotthard sehen und stieg über Hospental bis zum Gotthardhospiz hinauf. Auf der Höhe angelangt, konnte ich mich natürlich nicht enthalten, ein paar hundert Schritte weiterzugehen, um einen Ausblick nach der italienischen Seite zu gewinnen. Mit jedem Schritte wuchs das Verlangen, zu dem noch nie gesehenen Italien hinabzusteigen. Ich kam mir vor wie Hannibal, als er über die Alpen ging und unter Schnee und Eis in die blühenden Täler Italiens hinunterblickte. Und als ich einige Schritte weiter auf eine Sennhütte traf, wo man nur Italienisch verstand, da konnte ich nicht mehr widerstehen. Ich eilte ins Hotel zurück, wo ich mit einem anwesenden Lehrer die Sache besprach. Ich zählte mein Geld, zählte die mir noch übrigen Ferientage, beides wollte für einen Abstecher nach Italien nicht recht reichen, aber ich durfte hoffen, bei sparsamer Einrichtung mit dem Gelde auszukommen, wenigstens bis nach Basel, wo ich ja bei Nietzsche eine Anleihe machen konnte. Und so griff ich meinen Alpenstock, hüpfte auf den kürzesten Fußwegen wie ein Böcklein von Fels zu Fels und langte den Abend in Airolo an. Denselben Tag gelangte ich zu Fuß nach Faido und weiter mit der Post bis Bellinzona. Als ich hier am andern Morgen meine Wanderung antreten wollte, erbot sich ein zurückfahrender Kutscher, mich für zwei Franken nach Lugano zu fahren. Ich nahm es an und fuhr an dem schönsten Sommermorgen, eine Zigarette rauchend, mit Entzücken in die italienische Landschaft hinein. Entgegenkommende Weiber riefen uns etwas zu und deuteten auf den Wagen; ich sah mich um und bemerkte, daß der Kutschenschlag neben mir brannte; ein Funken meiner Zigarette war durch das zerrissene Oberleder in die aus Werg bestehende Füllung gedrungen und hatte diese entzündet. Schnell griff ich zu, um das Feuer zu ersticken, wobei ich mir an dem geschmolzenen Teer die Hände furchtbar verbrannte. In Lugano angelangt, fuhren wir bei einer Apotheke vor, um[141] für die großen Brandblasen an meinen Händen eine schmerzlindernde Salbe zu kaufen. Nachdem ich meinen braven Kutscher durch Verdoppelung des Fahrgeldes und Spendung einer Erfrischung zu seiner vollen Befriedigung abgefertigt hatte, stellten sich sofort zwei andere Kerls ein, welche sich erboten, in einem Retourboot mich für zwei Franken die weite Strecke bis zum östlichen Ende des Sees zu rudern. Nicht ohne Bedenken für meine Sicherheit nahm ich es an, gelangte dann aber glücklich nach genußreicher Fahrt nach Porlezza und von dort in zweistündiger Wanderung durch die abendliche Gegend nach Menaggio. Im weiteren Verlaufe meiner Reise drang ich bis Mailand vor und erfreute mich namentlich an der südländischen Vegetation in den Gärten außerhalb der Stadt. Ich wähnte, in die Tropenwelt versetzt zu sein, von der ich doch noch so weit entfernt war, und deren Zauber sich mir erst 1892, gerade zwanzig Jahre später, erschließen sollte. Nun aber war es für mich die höchste Zeit, meinen Rückweg nach Norden anzutreten, da namentlich der Geldvorrat sich in beängstigender Weise verringert hatte. Ich gelangte nach Pallanza, wo ich für einen Frank etwas Abendbrot und ein Nachtlager als einziger Gast eines Massenquartiers von 30 Betten erlangte, aber schon um 1 Uhr nachts aufbrechen mußte, um auf einem Gelegenheitsfuhrwerk, neben dem Kutscher sitzend und fortwährend mit dem Schlafe kämpfend, nach Domo d'Ossola zu gelangen. Von hier aus unternahm ich über Iselle den Aufstieg zum Simplon, immer neben dem Postwagen her, dessen Insassen ausgestiegen waren und für ihr bezahltes Postgeld nicht schneller und besser als ich hinaufgelangten. Im Simplonhospiz kehrte ich ein und wurde als besserer Gast die Treppe hinaufgeleitet, wo alsbald ein geistlicher Herr erschien, höflich fragte, was er mir anbieten dürfe, und mich, während ich an einem Kalbsbraten mir gütlich tat, in französischer Sprache unterhielt. Ich fragte nach meiner Schuldigkeit, er lehnte jede Bezahlung ab und stellte mir frei, in der Kirche, zu der er den Weg wies, ohne mich zu begleiten, etwas in den Opferstock zu legen. Ich legte den ungefähren Wert des Verzehrten in möglichst kleinen Münzsorten zusammen und freute mich, als das Geld mit Gerassel in der Blechbüchse verschwand. In Basel, wohin ich mit einem Frank[142] in der Tasche gelangte, begab ich mich zu Nietzsche, der den kleinen Stoß, den unsere Freundschaft ein Jahr vorher erlitten hatte, durch doppelte Freundlichkeit wieder gutzumachen wußte. Ich erzählte von meiner schönen Reise und wie sehr ich mich in den letzten Tagen hatte einrichten müssen. »Du kannst mir«, sagte ich, »etwas Geld leihen, ich schicke es dir sogleich von Marburg zurück.« – »Lieber Freund, wieviel bedarfst du?« sagte er, wie immer gewählt in Worten und Ausdruck. – »Nun, du kannst mir so etwa vierzig Franken geben.« – »Lieber Freund, hier sind achtzig, nimm sie für den Fall, daß du noch mehr brauchst, als du voraussiehst.« Ich nahm sie mit Dank und habe sie sogleich nach meiner Ankunft in Marburg zurückgeschickt. Mehrere Tage weilte ich in Basel, sie gehören zu den angenehmsten, deren ich mich erinnern kann. Nietzsche, immer sorgfältig gekleidet und mit einem weißen Zylinderhut geschmückt, holte mich öfter zum Spaziergang in meinem Hotel ab und führte mich in den Kreis seiner Freunde ein, die mir alle sehr herzlich entgegenkamen. Da war der früh verstorbene Professor Brockhaus, da war Romundt, damals Privatdozent in Basel, von dem später noch zu berichten sein wird, da war vor allem Elisabeth, Nietzsches Schwester, der ich meinen Besuch machte, nachdem ich mir ihr zu Ehren ein Paar grüne Glacéhandschuhe gekauft hatte, worüber sie in gutmütigem Spott sich erging.

Sehr befriedigt von meinem Baseler Aufenthalt und von meiner ganzen Schweizer Reise kehrte ich nach Marburg zurück, nahm mit Lust meinen Unterricht in der Klasse wie auf dem Turnplatze wieder auf und dachte nicht mehr an das wie eine Fata Morgana erschienene und wieder geschwundene russische Intermezzo, da erhielt ich, unerwarteterweise, wieder einen Brief von Madame Kantschin:

Der Lehrer, den man für ihren Sohn bestimmt habe, sei krank geworden, ob ich noch in der Lage und geneigt sei, seine Stelle einzunehmen. Etwas verwundert über diesen Gang der Dinge, schrieb ich, daß die Juliferien vorüber seien, daß ich aber bereit sei, in den Herbstferien während der ersten Hälfte des Oktobers hinüberzukommen, um, ihrem Wunsche gemäß, probeweise die Leitung des Knaben zu übernehmen. Mit Spannung[143] wartete ich nun von Tag zu Tag, von Woche zu Woche auf Madame Kantschins Antwort, aber vergebens. Michaelis 1872 und mit ihm die Herbstferien waren gekommen, und ich war ohne Nachricht. Nun war meine Geduld zu Ende. Ich beschloß, das ganze russische Abenteuer mir aus dem Sinn zu schlagen und mich fürs erste mit meinem gegenwärtigen Berufe zufriedenzugeben. Dies wurde mir um so leichter, als die Aussichten für die Zukunft anfingen, sich freundlicher zu gestalten. Mein Einkommen war zwar immer noch auf 1200 Mark beschränkt, wozu noch 600 Mark für den Turnunterricht kamen, den ich nach Absolvierung eines in Aussicht genommenen Turnlehrerkursus in Berlin definitiv zu übernehmen mich bereit erklärt hatte. Auch der Schulrat Rumpel hatte mich bei einer Revision seines besonderen Wohlwollens versichert, für Neujahr 1873 eine definitive Anstellung und Gehaltserhöhung in si chere Aussicht gestellt, und der greifbarste Beweis dafür, daß man mir wohlwollte, bestand darin, daß man für den kommenden Winter mir jungem Hilfslehrer mit Übergehung älterer Kollegen, die darüber nicht wenig ungehalten waren, den Unterricht des Sophokles in der Prima zugeteilt hatte. Als ich eines Abends um 11 Uhr nach Hause zurückkehrte, trat mir meine Wirtin mit den Worten entgegen: »Herr Toctor, es ist ein Tälechramm für Sie da.« Eilig öffnete ich, das Telegramm kam aus Genf von Madame Kantschin und lautete:


Mon mari est ici pour peu de temps; veuillez arriver immédiatement pour arrangements definitifs.

Aimée Cantchine.


Das Formular für die bezahlte Rückantwort lag bei.

Diese erneute Anknüpfung kam mir wenig gelegen. Ich beriet die Sache bei mir und fühlte wenig Lust, ihr näherzutreten. Ich beriet sie am andern Morgen mit einigen mir befreundeten Kollegen, Fürstenau, Rotfuchs u.a., und sie rieten mir alle ab. Diese Russen, sagten sie, seien ein sehr unzuverlässiges Volk, wie ich es ja selbst schon erfahren habe. Ihre Entschlüsse seien sehr wandelbar und am Ende sei sogar die Bezahlung für geleistete Dienste bei ihnen zweifelhaft. Ich entschloß mich zurückzutelegraphieren: Die Ferien seien vorüber, und es sei mir unmöglich, jetzt zu reisen.[144] Nur aus Höflichkeit fügte ich hinzu, daß Monsieur Kantschin mich jederzeit in Marburg sprechen könne. Das Telegramm ging ab, und ich hielt damit die Sache endgültig für erledigt. Wieder ging ich am Abend ins Bierhaus, kaum daß ich noch an die russische Affäre dachte, kehrte abends um 11 Uhr nach Hause zurück und wieder kam mir meine Wirtin an der Tür entgegen mit den Worten: »Herr Toctor, es ist wieder ein Tälechramm für Sie da.« Es lautete:


Vous êtes priés d'arriver immédiatement. Si refusez, serons forcés, chercher ailleurs.


Ich hatte also die Sache noch einmal in der Hand. Nach einer unruhigen Nacht beschloß ich nochmals den Rat meiner Freunde einzuholen. Vor allen andern würde ich zu Direktor Münscher gegangen sein, wenn er schon von seiner Reise zurückgewesen wäre. Er und seine ganze Familie würden mir sicherlich geraten haben, unbedingt abzulehnen, und da ich selbst sehr schwankte, so würde ein kleiner Anstoß genügt haben, mich zu veranlassen, daß ich ein zweites ablehnendes Telegramm schickte, wodurch dann die Sache für immer erledigt gewesen wäre. Aber Münschers waren noch nicht zurück, und diese kleine Zufälligkeit sollte für viele kommende Jahre, vielleicht für mein ganzes Leben entscheidend werden. In Ermangelung Münschers suchte ich Professor Kollmann, den ältesten Lehrer unseres Gymnasiums, auf. Er war nicht zu Hause. Ich hörte, er sei nach dem Bahnhof gegangen. Dorthin richtete ich meine Schritte und begegnete Kollmann auf der Bahnbrücke. Als ich ihm die Sache von meiner ersten Ablehnung und der abermals und dringend ergangenen telegraphischen Aufforderung vortrug, stutzte der alte, durch widerwärtige Schickungen gebeugte Mann, blickte aufwärts und sprach: »Sollte dies nicht ein Wink von oben sein? – Ich würde Ihnen raten, zu reisen; den nötigen Urlaub kann ich als Vertreter des Direktors Ihnen geben.« Ich überlegte bei mir, daß ich bei diesem ganzen Abenteuer zunächst nicht sonderlich viel riskieren würde. Die Reisekosten waren nicht hoch, und die Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß man sie mir, wie im vorigen Jahre, zurückerstatten werde. Kurz entschlossen nahm ich den angebotenen[145] Urlaub an, telegraphierte nach Genf, daß ich morgen nachmittag eintreffen werde, und dampfte am selben Tage gegen Abend auf Frankfurt zu. Am andern Morgen war ich in Basel und nachmittags um 3 Uhr in Genf. Ich stieg ab im »Hotel de la Poste« und sandte einen Dienstmann zu M. Kantschin, mit der Bitte, eine Zeit zu bestimmen, wann ich meine Aufwartung machen dürfe. Inzwischen wusch ich mich nach der langen Nachtfahrt und war noch nicht damit fertig, als der Dienstmann mit der Nachricht zurückkam: »Monsieur est prié d'arriver immédiatement!« Eiligst machte ich mich fertig und begab mich in die Pension Buscarlet. In einem geräumigen, eleganten Salon empfingen mich Monsieur und Madame Kantschin, letztere auf einen Lehnstuhl hingegossen, anscheinend leidend, wie es solch vornehme Damen in der Regel zu sein pflegen. Mit Anstand schritt ich auf sie zu, küßte ihre Hand und sagte mit einer eigens zu diesem Zwecke einstudierten Redensart: »Bonjour Madame, comment ça va-t-il?« – »Ah mal Monsieur«, war ihre Antwort. Aber schon hatte Monsieur Kantschin sich meiner bemächtigt und begann einen längeren Vortrag auf Französisch, von dem mir so vieles entging, daß mir angst und bange wurde. Da hauchte Madame Kantschin von ihrem Lehnstuhl aus die erlösenden Worte: »Mon mari parle l'Allemand. Demitri! parle-lui allemand.«

Nun fing Monsieur Kantschin an, in sehr ungehobeltem Deutsch zu entwickeln, daß der bisherige Erzieher seines Sohnes, M. Berthoud, ihn sehr vernachlässigt habe, da er sich mehr für seine Malerei als für seinen Zögling interessiert habe. Daß dieser, obgleich wohlbegabt, bei dem Examen, welches er im Juli zum Jahresabschlusse zusammen mit der Klasse abzulegen hatte, gänzlich durchgefallen sei, und daß es sich nun mehr darum handele, den Fehler wieder gutzumachen und seinen Georges, nachdem er für Untersekunda durchgefallen war, in einem Jahr nach Obersekunda zu bringen. »Nicht einmal die Programme der Schule hatte M. Berthoud in Händen«, sagte der Vater im Tone des Vorwurfs. Ich aber dachte bei mir: »Das will ich mir merken!« Übrigens führte ich meine Rolle mit Geschick durch. Ich spielte mich als der erfahrene Schulmann und Pädagoge auf, der nur gekommen sei, um der Familie seinen Rat nicht zu versagen. Eine[146] sofortige Übernahme der Stelle sei schon darum ausgeschlossen, weil ich an eine sechswöchige Kündigungsfrist gebunden sei. Inzwischen war es 7 Uhr geworden. Jemand trat heran und es entspann sich ein Gespräch halb russisch, halb französisch, von dem ich so gut wie nichts verstand. Jetzt wandte sich M. Kantschin zu mir in seinem urwüchsigen Deutsch mit der Bemerkung: »Es handelt sich nämlich um unser Mittagessen«, und lud mich ein, daran teilzunehmen. Ich nahm dankend an und saß zwischen Monsieur und Georges. Letzterer, ein feiner, aufgeweckter, aber offenbar sehr verwöhnter vierzehnjähriger Junge, knüpfte mit mir eine Unterhaltung darüber an, ob es richtiger sei, Zizero oder Kikero zu sagen, welches ich dann mit Aufbietung von allerlei Gelehrsamkeit beantwortete. Inzwischen wurde ein sehr gutes Mahl aufgetragen, und M. Kantschin bestellte nach seiner Gewohnheit eine Flasche Burgunder und eine Flasche Champagner, welche ich beide mit ihm zu leeren hatte, da die Kinder grundsätzlich keine schweren Weine bekamen und Madame Kantschin immer ihren eigenen Wein trank. Zur schicklichen Zeit empfahl ich mich und versprach, am nächsten Morgen um 10 Uhr wiederzukommen. Schnell verschaffte ich mir am frühen Morgen die Programme der Schule, las sie durch und erschien so aufs beste vorbereitet bei Kantschin. Auch jetzt noch hielt ich an meiner Position fest, daß ich nur gekommen sei, um meinen Rat zu erteilen, und daß ein sofortiges Engagement unmöglich sei. Die Sache wurde hin und her besprochen. Inzwischen wurde ein gutes Frühstück aufgetragen, welches mir ebensosehr zusagte wie das Diner am Abend vorher. Hier ist doch gut sein, dachte ich bei mir und fing an, in meinen Entschlüssen schwankend zu werden. Nun aber fing M. Kantschin an, die Gehaltsfrage zu besprechen. Nietzsche hatte das Jahr vorher geschrieben: »Gehalt hoch, 3000 bis 4000 Franken«, und an mehr hatte ich nie gedacht. Es machte daher auf mich einen tiefen Eindruck, als M. Kantschin von vornherein immer von 5000 Franken redete. Ich ließ mir nichts merken, beschloß aber, ganz sachte einzulenken. Es wäre ja möglich, meinte ich, daß man mich in Marburg sogleich losließe, es käme darauf an, den Versuch zu machen. Allerdings war das Anerbieten Kantschins nicht ganz nach meinem Geschmack. Ich[147] sollte nämlich die Hälfte der 5000 Franken monatweise und die andere Hälfte nur dann erhalten, wenn Georges sein Examen bestanden hätte. »Es kann mißlingen,« meinte ich, »und dann ist das Äquivalent dem Aufgeben einer bescheidenen, aber gesicherten Lebensstellung nicht entsprechend.« – »Es darf nicht mißlingen,« sagte Kantschin, »mein Sohn ist begabt, und Sie haben in den Programmen genau, was gefordert wird.« – »Er könnte krank werden,« meinte ich, »und dann würde eine Verzögerung ohne meine Schuld eintreten.« – »Er wird nicht krank,« sagte Kantschin, »er darf es nicht werden.« So ging das Gespräch hin und her, und wir kamen schließlich überein, daß ich monatlich 300 Franken und den Rest des Geldes, also 1400 Franken, am Ende des Schuljahres, und nur dann erhalten solle, wenn es mir gelänge, Georges über beide Klassen, die verfehlte und die neue hinwegzubringen, alles vorausgesetzt, daß es mir gelänge, in Marburg loszukommen. Die Aussicht hierzu schien in meinen Augen in demselben Maße zu wachsen, wie die Lust zunahm, aus meinen ärmlichen Verhältnissen heraus in ein vornehmes Haus versetzt zu werden, statt meiner 1200 Mark, die kaum zu meinem Unterhalt ausreichten, 5000 Franken zu beziehen und dabei auf Kosten der Familie logé, nourri, chauffé, éclairé, blanchi und amusé zu werden, denn alles, was ich mit dem Knaben unternahm, Theater, Konzerte, Ausflüge, Reisen usw., gingen selbstverständlich auf Kosten der Familie. Sie haben bei uns, sagte Madame Kantschin, keine andern Ausgaben als die für l'habillement et les bottes. Dazu sollte an Stelle des ermüdenden Unterrichts vor einer ganzen Klasse und die zeitraubenden Korrekturen die Beschäftigung mit einem einzigen Knaben treten, welche Hoffnung ließ, auch für wissenschaftliches Arbeiten Zeit übrigzubehalten. Selbstverständlich geschah auch schon die gegenwärtige Reise auf Kosten der Familie, und zu ihrer Bestreitung überreichte mir M. Kantschin 200 Franken in schönen französischen Goldstücken. Sollte es mir gelingen loszukommen, wie ich hoffe, bemerkte ich, so würde, obgleich ich keine Schulden in Marburg habe, doch noch zur glatten Abwicklung ein Vorschuß erwünscht sein. M. Kantschin schritt zu einer Kassette und entnahm ihr noch weitere 200 Franken, die er mir als Vorschuß auf mein Gehalt reichte.[148] Soviel Gold hatte ich noch nie zusammengesehen, geschweige denn besessen. Man lud mich ein, zum Diner zu bleiben, aber ich lehnte dankend ab, unter dem Vorwande, daß ich doch auch in meinem Hotel etwas verzehren müsse, in Wahrheit aber, weil mir das Herz voll war und ich das Bedürfnis empfand, für mich allein zu sein. Ich empfahl mich mit dem Versprechen, am andern Morgen nach Marburg zu fahren, alles zu tun, um dort frei zu werden und dann sofort wiederzukommen. Ich begab mich in ein Gartenrestaurant am Genfer See, und indem ich in einem Briefe an meine Mutter, deren Geburtstag gerade an dem Tage war, das Geschehene berichtete, den herrlichen blauen See, die Kette der Alpen und das reiche Leben um mich her gewahrte, und im Vergleich meine Marburger Existenz danebenstellte, da kannte mein Entzücken über die bevorstehende Veränderung keine Grenzen mehr. Am andern Morgen saß ich auf der Bahn, langte gegen Abend in Basel und nach glücklicher Nachtfahrt in aller Frühe des nächsten Morgens in Frankfurt an. Hier hatte ich einen kurzen Aufenthalt. Ich benutzte ihn, um nach Kassel an den Schulrat zu telegraphieren: »Bitte, mich in einer wichtigen Angelegenheit heute morgen empfangen zu wollen.« Dann bestieg ich meinen Zug, fuhr mit seltsam gemischten Gefühlen an Marburg vorbei, direkt nach Kassel. Der Schulrat war zu Hause. »Sie haben, Herr Schulrat,« begann ich, »mich vor kurzem Ihres besonderen Wohlwollens versichert, jetzt ist eine Gelegenheit, es zu zeigen. Sie besteht darin, daß Sie mich sofort und ohne Einhaltung der sechswöchigen Kündigungsfrist aus meiner Stellung entlassen.« Ich schilderte ihm sodann die Lage der Sache im einzelnen. Er riet mir ab. »Sie wissen,« sagte er, »daß wir es gut mit Ihnen vorhaben. Wir schätzen Sie, wir haben Ihnen schon jetzt den Sophokles in Prima übertragen und Sie sollen zu Neujahr ganz gewiß eine definitive Anstellung mit 600 Talern erhalten.« Das alles konnte mich jetzt nicht reizen. Ich machte geltend, daß meine Absicht auf die Universität gerichtet sei, und daß die russische Erzieherstelle mich am sichersten diesem ersehnten Ziele näherbringen werde. Noch manches wurde hin und her geredet, und als der Schulrat sah, daß mein Entschluß unerschütterlich war, erklärte er: »Nun wohl, Sie können sogleich loskommen,[149] wenn Sie einen Stellvertreter stellen.« Als ich erklärte, daß ich mich bemühen würde, einen solchen zu beschaffen, teilte er mir mit, daß ein solcher vorhanden sei und beauftragte mich, dem Direktor dieses in seinem Namen kundzugeben. Frohen Herzens und mit warmem Dank schied ich vom Schulrat und fuhr mit dem nächsten Zuge nach Marburg zurück. Ich eilte zum Direktor; er war nicht zu Hause, denn am selben Abend sollte ein Abschiedsessen zu Ehren des nach Bonn berufenen Professor Mangold stattfinden, zu dem alle Welt sich im Hotel Pfeiffer versammelte. Ich beschloß, daran teilzunehmen, um dort den Direktor zu sprechen. Ich erwartete ihn am Eingange des Hotels; er begrüßte mich mit großer Herzlichkeit; als ich ihm das Geschehene und meine Bitte um Entlassung mitteilte, prallte er zurück und erklärte, daß er so eine wichtige Angelegenheit doch nicht hier zwischen Tür und Angel so plötzlich erledigen könne. Ich bedauerte, daß die Sache keinen Aufschub erleiden dürfe, da ich versprochen hätte, noch heute abend nach Genf zu telegraphieren. »Sie müssen«, sagte er, »doch vor allem die Einwilligung des Schulrats haben.« – »Ich habe sie schon«, versetzte ich, und teilte meine Unterredung mit dem Schulrat mit, und daß ich einen Stellvertreter haben müsse, daß ein solcher aber nach Erklärung des Schulrats schon vorhanden sei. »Also, lieber Herr Direktor,« sagte ich, »darf ich telegraphieren?« – »Tun Sie, was Sie nicht lassen können!« sagte er. Nun eilte ich aufs Telegraphenamt und meldete nach Genf, daß ich die Stelle annähme und in drei Tagen, bis zum 20. Oktober, dort eintreffen werde. Dann kehrte ich in das Hotel zurück und nahm frohen Herzens im Kreise der Kollegen an dem Abschiedessen für Mangold teil, welches sich unerwarteterweise zu einem Abschiedessen auch für mich gestaltet hatte. Alle wunderten sich über das Geschehene und wünschten mir Glück zum neuen Lebenswege.

Wieder führte mich der Zug dieselbe Strecke wie vor acht Tagen, über Frankfurt und Basel nach Genf, wo ich am Sonntag, dem 20. Oktober 1872, um 3 Uhr nachmittags, wohlbehalten eintraf. Mein erster Gang war zum Friseur, um mir die etwas ins Kraut geschossenen Haare schneiden und mich zum Empfang in der Familie etwas frisieren zu lassen. In meinem mangelhaften[150] Französisch befahl ich ihm, als er mit Haarschneiden fertig war, mich auch zu frisieren, frisez moi, wie ich dies ausdrückte. Statt der erwarteten kurzen Scheitelung und Glättung der Haare fühle ich ein längeres Zupfen und Zerren unter merklicher Wärmeentwicklung, wage aber nichts mehr zu sagen, und als ich endlich frei werde, bemerke ich mit Entsetzen, daß der Mensch mir die schönsten Locken gebrannt hat, die ersten und letzten, die ich in meinem Leben getragen habe. Zum Glück kannte man mich in der Familie noch nicht genau genug, um es zu bemerken, und nach drei Tagen hatten meine Haare den gewohnten, schlichten Zustand wieder angenommen.

Mit meiner Übersiedelung nach Genf im 28. Lebensjahre schließt eine Epoche meines Lebens, auf welcher selbst in der Rückerinnerung, die doch alles in rosigen Farben erscheinen läßt, ein dunkler Schatten lagert. Es war die Sehnsucht nach einem in weiter Ferne liegenden Ziele, welche mich meine Gymnasiallehrerzeit hindurch in Minden wie in Marburg begleitete und mir oft mein Dasein wie das in einem Gefängnisse erscheinen ließ. Jetzt konnte ich freier aufatmen, denn die Hoffnung, das Ziel des akademischen Lehramtes zu erreichen, war nun nicht mehr aussichtslos und sollte sich, wie sich zeigen wird, noch schneller verwirklichen, als ich es bei meiner Ankunft in Genf hoffen durfte.

Quelle:
Deussen, Paul: Mein Leben. Leipzig 1922, S. 109-151.
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Mein Leben: Herausgegeben von Dr. Erika Rosenthal-Deussen [Reprint der Originalausgabe von 1922]

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