Zehn Jahre in Berlin.
1880–1889.

[202] Die nächste Aufgabe war, mich häuslich einzurichten. Ich durchwanderte die Stadt vom Ostbahnhof bis zum Potsdamer Viertel. Nach langer Wanderung kam ich schließlich Körnerstraße 14 an, wo eine Treppe hoch eine Frau Koppe wohnte, welche zwei behagliche Zimmer für dreißig Mark monatlich zu vermieten hatte. Ermüdet wie ich war, bat ich sie, mir eine Tasse Kaffee zu bereiten; der Kaffee war gut, das gab den Ausschlag; ich mietete die Zimmer, und bald war auch ein Schustermeister namens Goethe zur Hand, welcher meine Kisten öffnete, mir beim Einrichten half und die Reinigung von Kleidern und Stiefeln für ein mäßiges Monatsgeld übernahm. Ich war also eingerichtet. Sofort ging ich an die Arbeit. Ungestört durch irgendwelche andern Pflichten oder durch Bekanntschaften konnte ich mich vom Morgen bis zum Abend der Beschäftigung hingeben, alle wichtigeren Upanishads, vor allem also Brihadaranyaka und Chandogya, zu lesen und Auszüge daraus anzufertigen. Im übrigen verbrachte ich die nächsten Monate in einer Eingezogenheit, wie sie nur in einer Millionenstadt möglich ist. So vergingen Wochen, in welchen ich außer den Weisungen an meine Hauswirtin oder den Kellner des Restaurants vom Morgen bis zum Abend kein Wort sprach. Eine Unterbrechung dieser Periode des Schweigens machten nur die Besuche bei Weber, der das Sanskrit, und bei Zeller, der die Philosophie vertrat, sowie bei dem zeitweiligen Dekan, Professor Hübner. Hierbei befolgte ich die Politik, bei[203] Weber das Sanskrit, bei Zeller die Philosophie als meinen Lebenszweck hinzustellen, während ich selbst darüber nicht im klaren war, welche der beiden Karrieren ich am besten zu verfolgen hätte. An Weber hatte ich schon von Rußland aus geschrieben und ihm meine Absicht mitgeteilt, mich in Berlin für Sanskrit zu habilitieren. Den Ort Terny, von wo aus ich den Brief schrieb, hatte ich schlauerweise mit russischen Buchstaben geschrieben, in der richtigen Voraussetzung, daß Weber ihn nicht verstehen würde. Er empfing mich, wie es nicht anders zu erwarten war, mit der Eröffnung, daß eine Habilitation für das Sanskrit in Berlin gar keine Aussicht auf Beförderung biete. Er würde, sagte er, mir dies schon nach Rußland geschrieben haben, wenn er den Ort meines Aufenthaltes aus meinem Brief hätte ersehen können. Durch seine ablehnende Haltung ließ ich mich in meinen Plänen nicht im geringsten beeinflussen. Durch Weber erfuhr ich auch, daß Zeller, dem er von meinen Absichten Mitteilung gemacht hatte, geäußert habe: »Es ist ein Schopenhauerianer, es wäre mir nicht angenehm, wenn er sich hier habilitierte.« Auch durch diese Äußerung ließ ich mich nicht entmutigen, ging zu Zeller hin und machte ihm kurz davon Mitteilung, daß ich mich für die Philosophie zu habilitieren wünsche; dabei bat ich nicht um seinen Rat, der voraussichtlich ebenfalls ein ablehnender gewesen sein würde. Unter diesen Umständen beschloß ich, sehr vorsichtig zu verfahren, meine »Elemente der Metaphysik« nicht als Habilitationsschrift einzureichen und mit der Habilitation zu warten, bis ich in der Lage war, eine gediegene, jedem Parteistandpunkte willkommene Arbeit aufzuweisen. Inzwischen war es April geworden, und das neue Semester begann. Ich belegte und besuchte eine Zeitlang bei Zeller die Logik, bei Weber den Atharvaveda. Ersteres bot mir sehr wenig, da Zeller den größten Teil der Stunde diktierte und der Inhalt nichts wesentlich Neues mitteilte. Um so wertvoller war mir die Interpretation des Atharvaveda bei Weber. Hier handelte es sich oft um desperate Texte, und es war ebenso genußreich wie belehrend zu sehen, wie Weber es angriff, ihnen einen Sinn abzugewinnen. Inzwischen war es Ende Mai geworden, und ich mußte daran denken, ein dem alten Herrn v. Kantschin gegebenes Versprechen einzulösen und an Ort und Stelle die[204] Ursachen zu untersuchen, welche am 19. Juni des vorigen Jahres den Tod seines Sohnes herbeigeführt hatten. Diese traurige Begebenheit habe ich bisher noch nicht erwähnt, um sie hier im Zusammenhang darzustellen.

Herr Zeidler, den ich schon früher erwähnte, wurde mit Georges zusammengespannt, und ich hatte während der ersten Monate des Jahres 1879 nur die Aufgabe, über ihre Arbeiten eine Art entfernter Aufsicht zu üben. Es kam dann meine Reise nach Paris, mein Engagement durch den Fürsten Zscherbatoff und am 10. Mai 1879 meine definitive Abreise von Aachen. Kaum einen Monat war ich in meiner neuen Stellung, als ich durch eine furchtbare Nachricht erschreckt wurde. Am 19. Juni erhielt ich nämlich von der Aufwartefrau, der ich anbefohlen hatte, besondere Ereignisse je nach Umständen telegraphisch zu melden, ein Telegramm, welches zwölf Worte Adresse und außer ihr nur die lakonische Mitteilung enthielt: »Herr v. Kantschin erschossen, lebt noch.« Aufs höchste bestürzt, schrieb ich nach verschiedenen Seiten um Auskunft und erhielt wenige Tage darauf vom Vater meines Zöglings die Bestätigung der furchtbaren Nachricht. Daß Georges nie genug Schußwaffen besitzen konnte, daß er auch öfter drohte, sich das Leben zu nehmen, ohne daß irgend jemand dies für ernst nahm, ist wohl schon berichtet worden. Man mußte ihm fest gegenübertreten, dann aber auch wieder durch Güte sein Herz gewinnen, und daran hat es Zeidler, bei aller Achtung vor seinem Charakter, zu sehr fehlen lassen. Ich bin Georges nachgegangen, habe ihn angetrunken aus dem Wirtshaus, habe ihn von den Pariser Rollschuhdämchen geholt und bin ihm, wenn er die Laune hatte nicht arbeiten zu wollen, in und außer dem Hause nicht von der Seite gegangen. Anders Herr Zeidler. Der Weisung des Vaters entsprechend gab er Georges Geld, viel Geld, wenn er arbeitete, und wenn er nicht arbeitete, nichts, ließ ihn aber im übrigen seine Wege laufen, ohne ihm nachzugehen. Dann wurden goldene Uhr und Kette versetzt und später vom Vater wieder eingelöst, dann trieb sich Georges in Wirtshäusern und bedenklicheren Orten herum, ohne daß jemand es ihm wehrte; so sank er immer tiefer und gleichzeitig nahm nach Erschöpfung aller Genüsse die Lebenslust in ihm ab, während[205] sich ein grimmiger Haß gegen Herrn Zeidler in ihm ansammelte. Seinem Verlangen, Herrn Zeidler zu entlassen, wurde nicht Folge gegeben, und so geschah es, daß er in der Nacht vom 18. zum 19. Juni, nachdem er sich auf der Straße, in Wirtshäusern und andern Lokalitäten herumgetrieben hatte, um 2 Uhr nachts nach Hause kam und mit einer Doppelpistole zwei Schüsse in seine Schläfe abgab, worauf er bewußtlos von Blut überströmt am andern Morgen gefunden wurde. Auf dem Tische lag ein Zettel, der folgenden Wortlaut hatte:

»Je meurs, parce que je ne peux plus vivre dans les circonstances, dans lesquelles je vis, et que mon père refuse de me séparer de cet homme (Zeidler).«

Drei Ärzte waren am Morgen zur Stelle und beschlossen, von dem immer noch schwer Röchelnden die Schädeldecke abzunehmen, da die Schüsse nur Streifschüsse gewesen waren. Nach mehrstündiger Arbeit zeigte sich, daß ein kleines Stückchen Blei, so groß wie ein Hirsekorn, den Weg ins Gehirn gefunden hatte; Georges starb gegen Mittag unter den Händen der Ärzte. Zehn Minuten darauf kam aus Spaa, wo er mit seiner Familie weilte, der alte Herr v. Kantschin an, um seinen Sohn zu besuchen. Als man ihm schon vor dem Hause die furchtbare Nachricht mitteilte, wankte der starke Mann und drohte zusammenzubrechen. Bald waren auch Mutter und Schwestern zur Stelle, und wenige Tage darauf wurde der Leichnam nach Paris übergeführt und beigesetzt. Mit ihm begrub der Vater seine höchste Hoffnung im Leben. Jetzt ruht er mit seinem so heißgeliebten Sohne in demselben Grabe. Inzwischen war gleich nach dem Tode die Vermutung aufgetaucht, daß Georges das Opfer eines amerikanischen Duells geworden sei. Der alte v. Kantschin beauftragte einen Pariser Detektiv, die Sache zu verfolgen, welcher mehr und mehr Geld zu ziehen wußte, im ganzen 10000 Franken, und dann auch glücklich herausbekommen haben will, daß ein junger Mann, namens v. Pohlen, unmittelbar vor seiner Abreise nach Amerika ihm gestanden, daß in jener Nacht Georges das Los gezogen habe, welcher von beiden noch in derselben Nacht aus dem Leben scheiden müsse. Diese Angelegenheit führte mich im Juni 1880 nach Aachen, wo ich die ganzen Vorgänge an der Hand von[206] Zeugenaussagen unterste und darüber in eignem französisch geschriebenen Buche, welches ich dem Herrn v. Kantschin schenkte, ganz ausführlich Bericht erstattete. Nach Berlin zurückgekehrt, verbrachte ich den Monat Juli 1880 in fleißiger Arbeit. Die Herbstferien verbrachte ich im Elternhause.

Wieder hörte ich Webers Vorlesungen über den Rigveda, war aber im übrigen vom Morgen bis zum Abend mit Çankara beschäftigt, aus dessen Hauptwerke ich mein System des Vedanta schöpfte. Bis 1/212 Uhr abends saß ich bei der Arbeit, ging dann aus, um vor Mitternacht, wo die Bierhäuser schlossen, zwecks ruhigen Schlafens ein Glas Bier zu trinken, und kehrte dann nach Hause zurück, zum bestirnten Himmel emporblickend und die Erhabenheit des Brahman im Geiste überdenkend und im Herzen empfindend. So verging der Winter, abgesehen von der Berührung mit Kommilitonen wie Seeler, Leumann, Thyssen und andern und gelegentlichen Einladungen bei Weber, in völliger Abgeschiedenheit von der Welt und fleißiger Arbeit, wobei nur eine Beunruhigung wie eine dunkle Wolke am heiteren Himmel meines Bewußtseins schwebte. Meine russischen Freunde, wie vor allen Dingen der alte Herr v. Kantschin, hatten mich nicht vergessen und suchten meiner immerhin prekären Lage abzuhelfen. So verfolgten sie das Projekt, mir eine Stelle als Professor einer russischen Universität zu verschaffen. Russisch hatte ich so gut gelernt, daß ich in dieser Sprache korrekte Briefe zu schreiben, auch in der Konversation mir ganz gut zu helfen verstand. Ich sollte nun noch ein Jahr lang schon als russischer Stipendiat einen Fortbildungskursus in Leipzig durchmachen und dann sofort mit einer ordentlichen Professur an einer russischen Universität betraut werden. Daß aus diesem Plane nichts geworden ist, bedaure ich weniger als die im Jahre 1874 erhoffte Professur in Genf, denn so stark ich auch kosmopolitisch gesinnt bin, würde es mir doch weniger als meine gegenwärtige Stellung zugesagt haben, lebenslänglich als Professor etwa in Kasan oder wohl gar in Sibirien festzusitzen. Die Sache war sehr gut eingefädelt, dem russischen Kultusministerium war ich durch die Fürsprache meiner Freunde und meine als otlitschi (ausgezeichnet) anerkannten Zeugnisse empfohlen. (Noch heute stehen die im russischen[207] Ministerium mit Bleistift am Rande übersetzten Prädikate in meinen Zeugnissen.) Da war es der verhängnisvolle 13. März des Jahres 1881, welcher alle auf Rußland zielenden und so wohlvorbereiteten Zukunftspläne wie ein Kartenhaus umwarf. Es war ein Sonntagnachmittag, und ich war in die Moabiter Brauerei gegangen, um ein Glas Bier zu trinken und die Zeitung zu lesen, als die erschütternde Kunde telegraphisch eintraf, daß der Kaiser Alexander II. einem Attentate zum Opfer gefallen war.

Bald erfuhr man auch alle Einzelheiten der traurigen Begebenheit. Der Kaiser war am Sonntagnachmittag ausgefahren, als eine Bombe geworfen wurde und seinen Wagen beschädigte. Der Täter wurde verhaftet und dem Kaiser vorgeführt, der einige ernste Worte an ihn richtete und dann mit seiner Umgebung zu Fuß durch den Schnee weiterging. Plötzlich ein furchtbarer Knall und alle lagen am Boden. Eine andere Bombe war geworfen worden und hatte dem Kaiser beide Beine zerschmettert. Man hob ihn auf und fragte: »Wie fühlen sich Eure Majestät?« Er erwiderte: »Cholodno, cholodno (kalt).« Man trug ihn in ein Haus und verband ihn, aber kurz darauf starb er. Sieben Attentäter, die sich zu diesem Verbrechen verschworen hatten, darunter auch ein Weib, wurden gefangengenommen, zum Tode verurteilt und gleichzeitig, nachdem sie auf dem Richtplatze durch Umarmung und Kuß voneinander Abschied genommen, gehängt. Sie glaubten als Märtyrer für eine Sache zu sterben, welche sie für die gute hielten, wenn sie es auch nicht war.

Der Tod des Kaisers hatte den Sturz des Ministeriums zur Folge, die für meine Sache gewonnenen Geheimräte traten zurück, und alle die kunstvoll gesponnenen Fäden waren mit einem Schlage wie Spinnwebe zerrissen. Ich wußte nicht, ob ich diesen Ausgang bedauern oder mit Freude begrüßen sollte. Jedenfalls war dadurch die Situation geklärt und der weitere Weg gewiesen. Ich arbeitete unbeirrt an meinem »System des Vedanta« weiter und hatte es bis auf den letzten Teil, die Lehre von der Seelenwanderung und Erlösung, vollendet, als am 21. Mai 1881 meine Zeugnisse aus Rußland mit dem Ausdrucke des größten Bedauerns zurückkamen, und sofort war mein[208] Entschluß gefaßt. Am selben Morgen packte ich Zeugnisse, Doktordissertation, »Elemente der Metaphysik« und das handschriftliche »System des Vedanta« zusammen und trug sie mit dem nötigen Antrage zum Dekan der philosophischen Fakultät, Professor Zupitza, um in aller Form meine Habilitation an der Berliner Universität für Philosophie im ganzen Umfang und Interpretation indischer und griechischer philosophischer Texte zu beantragen. Ich hielt den Schritt, daß ich meine Habilitation beantragt hatte, vor jedermann geheim, da mir bekannt war, wie sehr die Berliner Fakultäten geneigt sind, Habilitationen bei dem großen Andrang abzulehnen, und wie wenig ich von irgendwelcher Seite auf Protektion rechnen durfte. Aber selbst wenn die Habilitation glückte, durfte ich hoffen, jemals über den Privatdozenten hinauszukommen?

Im Mai 1881, nach Beantragung meiner Habilitation, ging ich nach Oberdreis, diesmal ohne Sanskrit, aber um so eifriger mit der Philosophie und namentlich ihrer Geschichte beschäftigt. Der mit Spannung erwartete Brief traf gegen Ende Juni ein; er enthielt die Mitteilung, daß die eingereichten Schriften Gnade gefunden hatten und zugleich die Einladung, mich am 28. Juli zur Probevorlesung nebst nachfolgendem Kolloquium zu stellen. Von den drei Themen, die ich vorschriftsmäßig für die erstere bei meiner Eingabe vorgeschlagen hatte, war, wie ich schon vorausgesehen hatte, dasjenige gewählt worden, welches die Stellung des Cartesius in der Geschichte der Philosophie zum Gegenstand hatte. Ich arbeitete diese Vorlesung mit allem Fleiß aus und steckte sie, als ich am Nachmittag des 28. Juli im Fakultätszimmer der philosophischen Fakultät zu Berlin mich einfand, in die Hintertasche meines Frackes, entschlossen, nur dann zum Manuskript zu greifen, wenn mir der Faden der Rede reißen sollte, ein Fall, der nach meinen Aachener Antezedenzien nicht zu erwarten war und denn auch nicht eintrat. Es war für mich eine feierliche Stunde, als der Dekan mich in das Fakultätszimmer einführte, mir einen Platz anwies, wo ich auf der einen Seite den berühmten Weber, auf der andern den nicht weniger berühmten Zeller hatte, und um mich blickend solche Koryphäen wie Mommsen anwesend sah, da eine sinnige Einrichtung in Berlin nur diejenigen, welche[209] bei einer Habilitation zugegen sind, an deren Emolumenten teilnehmen ließ. Gewöhnlich pflegten sich dann die Herren während der Kandidat sich seiner Aufgabe entledigt, miteinander ein wenig zu unterhalten, und es war kein geringes Kompliment für mich, als der Dekan mir später mitteilte, daß bei meinem Vortrag, von Vorlesung war ja keine Rede, alle aufmerksam zugehört hätten. Erfrischt durch den Gedanken, endlich einmal wieder wie in den Aachener Zeiten vor einer Versammlung, und noch dazu einer solchen von lauter Gelehrten ersten Ranges sprechen zu dürfen, entwickelte ich drei viertel Stunden lang in lebendiger und klarer Rede das gestellte Thema, ein kurzes Kolloquium folgte, bei welchem Zeller einiges über Geulincx und Malebranche zu hören wünschte, worauf Weber die Rede auf sein Lieblingsthema brachte, daß die Upanishads, weil sie Prädestination lehren, unter christlichem Einfluß stehen müßten, sehr bald aber, als ich auseinandersetzte, wie Prädestination überall, wo Theismus und Determinismus herrschen, deren notwendige Folge ist, sich für befriedigt erklärte und von weiteren Fragen abstand. Da auch sonst niemand mehr das Wort ergriff, wurde ich ins Wartezimmer verwiesen und verbrachte ein Viertelstündchen in banger Ungewißheit. Der Dekan trat zu mir ein und fing eine Unterhaltung an, aus der ich nicht entnehmen konnte, ob meine Habilitation geglückt sei, und erst als ich danach fragte, sagte der gute Zupitza, daß er dieses selbstverständlich nicht erwähnt habe.

Auf die Probevorlesung und das Kolloquium folgte noch die Antrittsvorlesung vor den Studenten, durch die man erst berechtigt war, den Titel eines Privatdozenten zu führen. Gern hätte ich sie bis zum Wiederanfang des Semesters hinausgeschoben, aber im September war in Berlin der Orientalistenkongreß, und um bei ihm schon als Privatdozent der Berliner Universität auftreten zu können, mußte ich meine Antrittsvorlesung über den Begriff der Metaphysik, abermals nach sehr unruhigen Nächten und Tagen, da alles schon in den Ferien war, vor einer nur spärlichen Zuhörerschaft halten. Die Zwischenzeit benutzte ich, um mein »System des Vedanta« zu Ende zu führen. Das Manuskript hatte ich mir, um sogleich daran weiterzuarbeiten, am Abend der[210] Probevorlesung vom Dekan zurückerbeten, ein Eifer, welchen dieser so merkwürdig fand, daß er andern davon erzählte, wodurch die Kunde wieder zu meinen Ohren kam.

In freudiger Stimmung über den erreichten Erfolg nahm ich im September 1881 am Berliner Orienalistenkongreß als Mitglied des Büros teil, hielt auch über den Vedanta eine mit Begeisterung vorgetragene und ebenso aufgenommene Rede, welche sehr dazu beitrug, in den Kreisen der Sanskritisten mich und mein erst im Manuskript fertiges Buch einzuführen. Die nächste Sorge war, für dasselbe einen Verleger zu finden. Ich knüpfte mit Brockhaus an und war froh, daß er den Verlag übernahm, wenn auch unter wenig günstigen Bedingungen.

Mit Verlangen sah ich dem Anfang des Wintersemesters 1881/82 entgegen, wo es mir nach mehr als zweijähriger Unterbrechung vergönnt sein sollte, den Beruf, zu welchem ich mich vor allen andern geeignet fühlte, wiederaufzunehmen und in öffentlichen Vorlesungen mitzuteilen, was mir Kopf und Herz so tief bewegte. Da ich noch nicht im Lektionskatalog stand, konnte ich meine Vorlesung über Metaphysik, wie ich sie nannte, nur am schwarzen Brett ankündigen und erlebte die bittere Enttäuschung, nachdem ich in Aachen im Februar 1879 mit etwa dreihundert Zuhörern geschlossen hatte, hier im Oktober 1881 nur drei zu finden, zu denen sich gegen Weihnachten noch zwei weitere gesellten. Vor diesen fünf, unter denen zwei, Männling in Berlin und Laroche in Golzow, als Prediger wirken und mir noch heute befreundet sind, habe ich mit aller Treue die Vorlesungen durchgehalten und wurde dadurch belohnt, daß im zweiten Semester, wo der zweite Ordinarius fehlte, nicht weniger als achtundvierzig mein vierstündiges Privatkolleg belegten und, wie ich es nicht anders gewohnt bin, auch treu besuchten.

Eine bei meinem Arbeitsfleiß harte Aufgabe war es, die pflichtmäßigen Antrittsbesuche zu machen. Man macht Besuch bei allen Ordinarien der Fakultät, bei denjenigen Extraordinarien, welche dem Fache nach nahestehen und bei solchen Privatdozenten, mit denen man zu verkehren wünscht. Unter letzteren sind mir namentlich drei liebe Freunde geworden, der Historiker Koser, der Psychologe Ebbinghaus, mit dem ich mich bei wärmster[211] Freundschaft manch liebes Mal heftig gestritten habe, und der Historiker Delbrück, der trotz seines grimmigen Hasses auf Schopenhauer mir noch heute wie damals sehr nahesteht, auch an meiner Verheiratung, von der später zu berichten sein wird, herzlichen Anteil genommen hat. Durch Ebbinghaus wurde ich auch veranlaßt, mein geringeres Speisehaus zu wechseln und die folgenden fünf Jahre ein treuer Besucher des vorzüglichen und dabei billigen Mittagstisches im Leipziger Garten zu werden. Schwer wurde es mir, die lange Reihe der Ordinarien abzusuchen, während ich für Extraordinarien sehr mit Auswahl verfuhr. Und so stand ich eines Abends um 6 Uhr nach dem mühsamen Herumlaufen des Vormittags und Nachmittags vor dem Hause Hallesche Straße 12 und schwankte, ob ich eintreten oder vorbeigehen sollte. Da oben wohnte ein altes kinderloses Ehepaar, der gute Professor Schott, Extraordinarius des Chinesischen, mit seiner Frau. Nach kurzem Schwanken und Überlegen sagte ich mir, daß China von Indien nur durch den Himalaya getrennt ist, und stieg hinauf. Dieser Entschluß sollte für meine künftige Lebensgestaltung von entscheidender Bedeutung werden, da ich durch Schott mit Dr. Eduard Engel und dessen Gemahlin, durch diese am 11. September 1884 mit Louise und Marie Volkmar bekannt wurde. Natürlich wurde ich auch von vielen andern Professoren zum Diner eingeladen, saß dann zwischen zwei Damen, die ich meistens nie im Leben wiederzusehen bekam, machte meine Verdauungsvisite, und dann pflegte die Sache bis zum nächsten Jahre zu ruhen. Anders war es bei der Familie Schott. Die beiden alten Leute schienen an mir besonderes Wohlgefallen zu finden. Sie luden mich ein und wieder ein, zu Weihnachten, zu Neujahr, und so fort, bald in einem kleinen Kreise, bald unter sich allein; es war das einzige Haus in Berlin, mit dem ich wirklich befreundet war. Im übrigen verlief mein Leben sehr regelmäßig. Des Morgens wanderte ich von Moabit durch den Tiergarten zur Universität, hielt meine Vorlesung, ging dann zu Fuß zurück und an die Arbeit. Um 1 Uhr ging ich wieder durch den Leipziger Garten (Leipziger Straße 120, wenn ich nicht irre), verzehrte dort ein Mittagessen, bestehend aus Suppe, drei Fleischgängen und süßer Speise für 1,25 Mark, meist allein, oft auch zusammen mit[212] Ebbinghaus, zuweilen mit Paulsen, Sonntags oft mit Schott und Gemahlin, fuhr dann nach Hause zurück, trat ein Weilchen bei Frau Henschel ein, bei der ich jetzt wohnte, um mit ihr und ihren drei Töchtern, drei fleißigen Mädchen, welche durch Nähen von Kinderkleidern für ein Geschäft in der Leipziger Straße den Unterhalt für die Familie bestritten, zu plaudern, hielt dann Mittagsruhe und arbeitete bis gegen 9 Uhr, wo Frau Henschel mit dem Tee erschien, zu welchem sie für 30 Pfennig kalten Aufschnitt besorgte, während ich Brot und Butter selbst hielt, so daß mein Abendbrot mir sehr billig zu stehen kam. Dann plauderte ich ein halbes Stündchen mit Frau Henschel, besprach mit ihr das Neueste aus der Zeitung, vertraute ihr alle Herzensgeheimnisse und ging, nachdem ich noch ein Stündchen gearbeitet hatte, oft kurz vor Mitternacht nochmals aus, um in der Nachbarschaft ein Glas Bier zu trinken.

Eine angenehme Erholung nach angestrengter Kopfarbeit bildete das täglich zwei bis drei Stunden, meist morgens, wenn ich aus der Vorlesung kam, betriebene Klavierspiel. Als Kind hatte ich, wie jedes Kind, Klavierunterricht erhalten und, wie die meisten, die Sache bald darauf fallen gelassen. In Elberfeld war keine Möglichkeit, in Pforta nahm ich vorübergehend als Sekundaner eine Zeitlang Stunden, bis dieselben aus Mangel an Zeit abgestellt wurden. Auf der Universität waren meine Zimmer stets ohne Klavier. Während der Oberdreiser Zeit spielte ich nur wenig, schon weil mein Vater es nicht gerne hörte; erst in Minden und Marburg, als Gymnasiallehrer, hatte ich in meiner Wohnung ein gemietetes Klavier und nahm regelrechte Stunden, in Minden bei Musikdirektor Drobisch, dem Neffen des Herbartianers, für 1,50 Mark, in Marburg bei dem alten Musikdirektor Deichert, einem Schüler von Spohr, für 75 Pfennig, weil, wie er sagte, die Studenten nicht höher bezahlen wollten und er mir auch nicht mehr abnehmen dürfe. Hier brachte ich es unter Deichert, der schwerhörig, aber ein echter Musiker war, bis zur Pathétique von Beethoven.

In Genf fühlte ich mich im Klavierspielen durch die Familie geniert, doch erinnere ich mich, mit dem alten Kantschin das erste Präludium von Bach zu Flöte und Klavier und vielleicht noch[213] anderes geübt zu haben. In Aachen hatten wir ein Klavier, doch kam ich über so vielen andern Interessen wenig dazu. In Rußland genierte mich wieder die Nähe der Familie, aber in Berlin, bald nach der Habilitation, mietete ich von einem Kleinhändler, namens Hintze, ein bescheidenes Klavier, welches ich bald darauf für 200 Mark käuflich erwarb. Als mir dasselbe nicht mehr genügte, beschloß ich, es bei Hintze gegen ein besseres Instrument umzutauschen. Das erste Piano, welches er probeweise in mein Zimmer stellte, hatte den schmetternden Ton einer Trompete, welcher mir nicht zusagte. Ein zweites, welches er geduldig herbeischaffte, hätte genügt, wäre nicht der Diskant zu schwach gewesen. Wieder kam ich zu Herrn Hintze, probierte dies und das, aber es wollte sich nichts Passendes finden. Indem ich mit ihm herumzog, denn die Klaviere standen in verschiedenen Wohnungen, sagte er zu mir: Jetzt will ich Ihnen einmal etwas Schönes zeigen, und führte mich zu Herrn Navuhn, der die Firma von Kaps in Dresden vertrat. Hier standen zahlreiche Flügel; ich versuchte sie und fand unter ihnen ein ganz herrliches Instrument. Aber der Preis war 1500 Mark, und ein Versuch, etwas abzuhandeln, stieß auf festen Widerstand. Jetzt sagte ich resolut zu Hintze: »Entweder Sie schaffen mir dies Instrument für 1200 Mark bar oder Sie nehmen Ihren ganzen Kram zurück, und ich will mit Ihnen weiter nichts zu tun haben. Schaffen Sie es dafür, so erhalten Sie 50 Mark Provision.« Herr Hintze setzte sich mit Kaps als »Kollegen« in Verbindung, welcher unter einem Zuschlag von weiteren 50 Mark für den Transport einwilligte, so daß ich für 1300 Mark einen ausgezeichneten, ganz neuen Flügel erwarb und noch heute besitze. Später habe ich einmal die Fabrik von Kaps in Dresden besucht und mit Interesse gesehen, wie hier die Flügel entstehen, die gröbste Arbeit im Keller, worauf sie dann, von Stockwerk zu Stockwerk steigend, Resonanzboden, Klaviatur, Besaitung und Stimmung erhalten, bis sie auf der obersten Etage zum Versande fertig dastehen.

Auf diesem schönen Instrumente übte ich täglich mehrere Stunden und habe nach und nach alle Sonaten Beethovens bis zu Opus 54 durchgespielt, zuweilen bei einem kleinen Meister Stunden nehmend, meist aber ganz auf mich allein angewiesen.[214] Ich spielte jeden Satz immer von Anfang bis zu Ende, zuerst ganz langsam, so daß ich gar kein Bild davon erhielt, dann immer wieder und wieder mit zunehmendem Tempo, wobei die Herrlichkeit der Beethovenschen Sonaten, wie eine Landschaft aus dem Nebel, immer deutlicher hervortrat. War und blieb auch mein Spiel höchst unvollkommen, so genügte es mir doch, um in den Geist der Komposition einzudringen, und ich gestehe, daß ich ein gutes Teil des Glückes jener einsamen Tage meinem dilettantischen Klavierspiel verdanke. Erst mit meiner Verheiratung trat es mehr und mehr zurück; gute Lehrer, wie ich sie später annahm, erklärten das alles für zu schwer und drückten mich auf leichtere Sachen herunter, wodurch aber auch Lust und Eifer stark gedämpft wurden. Einige größere Sonaten wußte ich auswendig und spielte sie täglich, bis das Augenleiden eintrat und ich nach längerem Aufenthalte in der Klinik wahrnehmen mußte, daß das Gelernte zum Teil vergessen war und die Sehkraft fehlte, um es wieder herzustellen. In den letzten Jahren haben die großen Arbeiten für meine »Geschichte der Philosophie«, die Schopenhauer-Ausgabe und die Schopenhauer-Gesellschaft meine Zeit vom Morgen bis zum späten Abend so sehr in Anspruch genommen, daß zu meinem großen Bedauern das einst so sehr geliebte Klavierspiel ganz aufgehört hat, auch fraglich bleibt, ob und in welcher Weise es wieder in Gang gebracht werden kann.

Zurückkehrend zu den Jahren 1881–1883, habe ich zu berichten, daß in dieser Zeit alle Kräfte, die mir das Lehramt übrigließ, auf die Fertigstellung und Drucklegung des »Systems des Vedanta« gerichtet waren. Ich ging nochmals die Sutras mit dem Kommentar des Çankara im Original durch, trug nach, besserte, schrieb das Ganze nochmals für den Druck ab, besorgte aufs genaueste die Korrektur der Druckbogen und hatte die Freude, zu Ostern 1883 das fertige Werk in Händen zu halten. Es fand allgemein, namentlich auch bei Althoff, Zeller und Weber, denen ich Exemplare überreichte, großen Anklang. Weber hielt in einer Abendgesellschaft junger Sanskritisten, wie er sie um sich zu versammeln liebte, eine warme Lobrede auf das Werk, welche ich gebührend erwiderte, und sagte kurz darauf zu mir: »Wir haben hier Stipendien für Privatdozenten, jährlich[215] 1500 Mark, vier Jahre hindurch, und wenn Sie darum einkommen, werden wir die Sache befürworten.« Ich erwiderte: »So erwünscht mir eine solche Beihilfe sein würde, so kann ich doch nicht darum einkommen; denn ich müßte sagen, daß ich bedürftig wäre, und das kann ich nicht, denn ich habe außer meinen Vorlesungshonoraren eine feste Einnahme von monatlich 100 Mark als Zinsen der in meiner Russenzeit ersparten 25000 Mark. Wenn daher nicht ein guter Freund für mich eintritt, so kann daraus nichts werden.« Damit ließen wir die Sache fallen und ich habe weiter kaum noch daran gedacht. Es war zu Anfang August 1883, als der Pedell der Universität, während ich fest bei meiner Arbeit saß, mit wuchtigen Schritten in mein Zimmer trat und erklärte. »Ich bringe Geld.« Ich schrak fast zusammen; woher sollte mir Geld kommen? Aber es war wirklich so: man hatte mir, ohne daß ich darum gebeten hatte, als Anerkennung für meinen Vedanta das Stipendium von jährlich 1500 Mark auf vier Jahre verliehen. Meine Freude kannte keine Grenzen, nicht nur wegen des Geldes, welches mir sehr willkommen war, sondern noch mehr, weil ich daraus ersah, daß man es auch für die Zukunft mit mir gut meinte. Wen konnte ich zum Teilnehmer meiner Freude machen? Ich eilte zu Schott. Er war, da die Ferien eingetreten waren, mit seiner Frau ins Seebad nach Misdroy gereist, und ich beschloß kurzerhand, ihm dorthin zu folgen. Ich kam an und fand in Misdroy eine interessante Gesellschaft: da waren Schott und Frau, Professor Sovel aus Paris und Frau, einer Schwester von Frau Schott, und viele andere. Freilich herrscht in Misdroy vom 1. bis 15. August eine furchtbare Mückenplage; alle Welt läuft mit Schleiern rings um den Hals herum und Fächern umher und nachts kann man nicht behutsam genug sein Zimmer verwahren, da ein einziges Mücklein einem die ganze Nachtruhe verderben kann. Mit Hilfe von Frau Schott versah ich mich mit Schleier und Fächer und mietete nahe am Strand eine kleine Hütte. Am Abend folgte ich einer Einladung der Familie Schott und Sovel zum Abendbrot. Der Tisch war im Freien gedeckt; kaum saßen wir, als Scharen von Mücken auf uns hereinstürmten. Es war nur möglich zu essen, wenn man bei jedem Bissen den Schleier hob und schnell wieder senkte. Aber[216] auch unter diesen Umständen war ich froh, drei Wochen mit lieben Freunden zusammen zu sein, von meiner Arbeit auszuruhen und die Seebäder zu genießen. Erfrischt kehrte ich nach Berlin zurück, blieb aber dort nur eine Nacht und fuhr dann nach Wiesbaden, um meinem alten Vater, der dort wie alljährlich seine Badekur gebrauchte, Gesellschaft zu leisten. Er wohnte im Weißen Kreuz und speiste im Hahn, beides in nächster Nähe des Kochbrunnens und der Bäder, und in diesem engen Kreise bewegte sich das Leben des alten, nur mit Mühe sich fortschleppenden Mannes. Im Theater wurde eines Abends der Faust gegeben, für welchen mein Vater von jeher trotz aller pastoralen Würde eine verschämte Zuneigung hatte. Ich beredete ihn, mit mir die Vorstellung zu besuchen, wahrscheinlich eine der wenigen und jedenfalls die letzte, welcher er in seinem Leben beigewohnt hat.

Um während meines dreiwöchentlichen Aufenthaltes in Wiesbaden etwas Abwechslung zu haben, knüpfte ich mit Ludwig Noiré an, welcher als Gymnasialprofessor in dem benachbarten Mainz lebte. Wir besuchten uns gegenseitig und waren bald gute Freunde. Noiré ging gern auf meine philosophischen Gedanken ein, teilte in weitgehender Weise meine Anschauungen und verlangte wieder von mir, daß ich anerkennen solle, er habe das Problem der Sprachentstehung durch seine Theorie von der gemeinsamen Arbeit gelöst, während ich in dieser Theorie zwar einen Beitrag zur Lösung, nicht aber diese selbst anerkennen konnte. Am Tage der Enthüllung des Niederwalddenkmals trafen wir in Mainz zusammen, sahen den Rhein bedeckt mit Schiffen aller Art in festlichem Schmuck und begaben uns dann, teils aus Scheu vor dem Gedränge, teils um eine bessere Übersicht zu haben, auf den Rochusberg, von wo wir auf der andern Seite des Rheines das Niederwalddenkmal, umgeben von unzähligen Festteilnehmern, bequem im ganzen übersehen und an der Hand des Programms die einzelnen Festakte verfolgen konnten. Jetzt ertönte Gesang über den Rhein herüber, gedämpft wie ferner Orgelton, jetzt wurde es ganz stille, offenbar redete der Kaiser. Seine Rede wurde abgebrochen, weil zufällig eine Kanone losging, dies für das allgemeine Signal gehalten wurde und nun von allen Rheinschiffen eine fürchterliche Kanonade ausbrach, welche so ziemlich[217] den ganzen Tag dauerte und durch den zwischen den Bergen eingepreßten Schall eine starke Zumutung für Gehör und Nerven war. Noch einmal habe ich wohl erst in den nächsten Jahren Noiré in Berlin getroffen, wo er sich in ein Sanatorium begeben hatte. In rascher Folge hatte er eine größere Anzahl von Werken veröffentlicht und dabei seine Gesundheit untergraben. Er machte in Berlin einen völlig gebrochenen Eindruck und ist kurze Zeit darauf gestorben.

Mit frischer Kraft kehrte ich im Herbst 1883 zu meinen Vorlesungen nach Berlin zurück. Die Anerkennung, welche mir durch Verleihung eines nicht erbetenen Stipendiums zuteil geworden war, ließ mich hoffen, daß man mich, sowenig ich auch bei meinem singulären Wege auf Protektion hoffen konnte, doch nicht von der Möglichkeit voranzukommen ausschließen wollte. Eine Bestätigung dieser Hoffnung zeigte sich darin, daß Zeller und Althoff mir eines Tages folgendes eröffneten. »Es wird«, so sagte Zeller im Sprechzimmer zu mir, »ein Extraordinariat für Philosophie in Berlin neu geschaffen. Wir haben lange geschwankt, ob wir es Ihnen oder dem ein Jahr früher habilitierten Ebbinghaus zuwenden sollten. Wir haben uns für Ebbinghaus entschieden, weil ihn eine Zurücksetzung kränken würde, bitten Sie aber, darin keine Präjustiz gegen sich zu sehen, vielmehr hoffen wir in absehbarer Zeit auch Sie zu einer Professur befördern zu können.« Diese absehbare Zeit ließ allerdings noch lange, noch vier Jahre, bis zum August des Jahres 1887, auf sich warten. Inzwischen ereignete sich noch manches in meinem innern und äußern Leben, wovon zu berichten ist. Mein »System des Vedanta« hatte ich wesentlich auf den Kommentar des Çankara zu den Sutras des Vedanta aufgebaut. Als Bestätigung meiner Anschauungen beschloß ich die große Arbeit, den umfangreichen, noch nicht vorher übersetzten Kommentar des Çankara vollständig ins Deutsche zu übertragen. Wie gewöhnlich war ich von diesem Unternehmen ganz erfüllt und redete davon zu jedem, der es hören wollte. So eines Abends, wo ich mit dem aus Indien zu Besuch in Berlin weilenden Thibaut einer Einladung zu Weber gefolgt war und nachher noch mit Thibaut ein Stündchen allein im Wirtshause saß. Ausführlich legte ich ihm meinen Plan dar,[218] aber nicht mit einem Worte ließ der Duckmäuser verlauten, daß auch er eine Übersetzung des Çankara-Kommentars ins Englische vorbereite. Sie ist einige Jahre, nachdem meine Übersetzung vorlag, erschienen. Aus der Tatsache, daß Thibaut zwar alle Zitatennachweise aus meinem »System des Vedanta«, wo sie in einem Anhang auch für einen des Deutschen Unkundigen geschöpft werden konnten, nicht aber die später gefundenen und in der Übersetzung der Sutras benutzten Zitate verwendet hat, muß ich vermuten, daß seine Übersetzung gar nicht von ihm selbst, sondern in seinem Auftrage von einem des Deutschen unkundigen Pandit verfaßt worden ist. In dreizehn Monaten und dreizehn Tagen war meine Übersetzung fertig geworden. Nachdem die Akademie eine Druckunterstützung von 1000 Mark gewährt hatte, erklärte sich Brockhaus bereit, sie in Verlag zu nehmen, und viele Monate lang stand ich abends bis nach Mitternacht an meinem Pulte, um die Druckbogen zu korrigieren. Erst im August 1887 konnte ich das erste fertige Exemplar Althoff überreichen; inzwischen hatte sich viel in meinem äußeren Leben begeben, wovon ich zu erzählen habe.

Eines Abends saß ich in einer Abendgesellschaft bei Schotts und hatte auf der einen Seite den Dr. Eduard Engel, Chef des Stenographenbüros im Reichstag und vielseitigen, gewandten Schriftsteller, und auf der andern Seite seine Gemahlin, eine Spanierin von Geburt, welche alle möglichen Sprachen sprach, aber in keiner einzigen sich ganz korrekt auszudrücken wußte, übrigens eine Dame von Welt und Erfahrung war, deren Hand Dr. Engel – sie war schon einmal in Amerika verheiratet gewesen – nur nach vielen Bemühungen erlangt hatte. Dieses gleichfalls kinderlose Ehepaar lernte ich bei Schott kennen, und sie wurden die Brücke zu Marie Volkmar. Ich machte Besuch bei ihnen, wurde eingeladen und saß dann zwischen zwei Schwestern Louise und Marie Volkmar, welche unter dem Schutz des alten Fräulein Presting, Landgrafenstraße 20, mit den Engels auf derselben Etage wohnten. Vorher aber hatte ich die beiden Dämchen schon einmal außerhalb des Hauses kennengelernt. Frau Dr. Engel pflegte mitunter kleine Landpartien zu arrangieren, wozu auch ich hinzugezogen wurde, und so kam ich eines Tages, mich von[219] meiner Arbeit losreißend, am Potsdamer Bahnhof angestürzt, um mit Frau Dr. Engel und einigen andern nach Potsdam zu fahren. Hier sah ich zum erstenmal das Angesicht meiner Frau, am 11. September des Jahres 1884 vormittags 11 Uhr im Eisenbahnkupee, genau auf die Stunde zehn Jahre, ehe ich am 11. September 1894 vormittags 11 Uhr zum ersten Male das Angesicht meiner Tochter Erika sehen sollte. Wie vieles lag für mich noch in diesen zehn Jahren, von denen ich zu berichten haben werde. Die Beziehungen zu den Volkmarmädchen waren zunächst sehr kühler Natur. Louise war die Ältere, und bei dieser spürte ich nichts von Neigung; daß mir die Jüngere einst als Gattin angetraut werden sollte, diese Möglichkeit kam mir gar nicht in den Sinn, zumal sie damals erst einundzwanzig Jahre und fast neunzehn Jahre jünger als ich war. In den nächsten Jahren ließ ich mich ab und zu bei Volkmars sehen, ging wohl einmal mit ihnen ins Theater oder speiste irgendwo mit ihnen, wurde auch einmal eingeladen, aber die Bekanntschaft blieb nur eine entfernte.

Inzwischen tauchten andere Erscheinungen auf und nahmen mein Interesse in Anspruch. So erschienen eines Tages bei mir, vielleicht im Jahre 1883, Dr. Paul Rée und Luise v. Salomé, geboren als Tochter eines Offiziers in Petersburg, welche sich durch einen scharfen, klaren Verstand auszeichnete. Als sie konfirmiert werden sollte, erklärte sie, dazu außerstande zu sein, da sie keinen Glauben habe. Die Mutter, schon verwitwet, war darüber in großer Not, ging mit der Tochter auf Reisen und fand schließlich im Holländischen einen Pastor, der Luise auch ohne Glauben konfirmierte. Weiter kamen Mutter und Tochter nach Rom, wo sie mit Malvida v. Meysenbug und dem Nietzscheschen Kreise in Berührung traten. Fräulein v. Meysenbug fand, daß Lou geeignet sei, dem einsamen Nietzsche eine Schülerin, wohl gar Jüngerin zu werden, und führte sie ihm zu. Einige Zeit arbeiteten sie zusammen. Dann kamen sie für immer auseinander und Lou v. Salomé kam mit Dr. Rée als Reisebegleiter nach Berlin. Beide hatten sich das Wort gegeben, nie von Liebe oder Heirat zu reden, sondern nur zusammen zu reisen und wissenschaftlich zu arbeiten. Sie pflegten in einer Pension in der Hedemannstraße[220] zu wohnen und kamen, wie gesagt, eines Nachmittags bei mir an. Es wurde ein philosophisches Kränzchen arrangiert, an welchem außer Lou, Rée und mir auch noch Dr. Romundt und später Heinrich v. Stein, Privatdozent der Universität, teilnahmen. Inzwischen schrieb Lou ihren Roman. »Im Kampf um Gott.« Er erschien im Dezember 1884, und ich war einer der ersten, welchen sie das Buch schenkte. Ich nahm es mit nach Stettin, wo ich wie alljährlich bei Freund Textor das Weihnachtsfest verlebte, las das Buch und muß gestehen, daß über dem Lesen meine Liebe zu Lou in hellen Flammen entbrannte. Dieses Werk, in welchem verschiedene Selbstmorde, Ehebrüche usw. vorkommen, wird verschieden beurteilt. Mein Freund Ebbinghaus behauptete, das seien »Nonnenphantasien«, ich fand in dem Buche viel Geist und in den Geist verliebte ich mich. Das Feuer wurde bald stark gedämpft, als ich im philosophischen Kränzchen bemerkte, daß Lou den etwas verschwommenen Anschauungen Heinrich v. Steins vor den meinigen den Vorzug gab. Indessen blieb die Freundschaft, aber nur als eine solche, bestehen.

Es war Februar 1886 geworden und auf der Rousseauinsel eine herrliche Eisbahn, die in diesem Jahre bis kurz vor Kaisers Geburtstag anhielt. Ich knüpfte bei Biermanns an, wo ich Mariechen Biermann und zwei andere junge Damen, Ännchen von Prenzlau und Ännchen von Tharau, wie ich sie zu nennen pflegte, antraf. Es wurde Schlittschuhlaufen verabredet, und bald trafen wir uns allmorgendlich auf der Eisbahn der Rousseauinsel, während sich noch andere Elemente an uns anschlossen. Eines Tages saß ich auf der Bank, meine Schlittschuh anschnallend, und sehe neben mir ein junges Kind in derselben Weise beschäftigt. »Sind Sie es, Fräulein Marie?« fragte ich. Ja wirklich, es war Marie Volkmar. – »Ich war schon alle diese Tage hier,« sagte sie zu mir, »aber Sie haben mich wohl nicht sehen wollen.« – »Wie können Sie so etwas denken,« sprach ich, »kommen Sie, wir wollen zusammen laufen.« Und ich führte sie in meinen Kreis ein, der schon anfing, mir ziemlich langweilig zu werden. Nun begab es sich in dieser Zeit, daß ich in einer Nacht träumte, ich wäre in England und da war eine Höhle und Fledermäuse flogen aus und ein. Es wurde, ich weiß nicht mit wem, darüber gesprochen,[221] und da hieß die Fledermaus Pedigree. Ich erwachte und sagte zu mir: »Ich weiß doch bestimmt, daß ich nie gelernt habe, was Fledermaus auf englisch heißt. Sollte sie nun wirklich Pedigree heißen, so wäre das ein Beweis, daß man im Traume weiser ist als im Wachen, und das wäre psychologisch sehr interessant. Ich sprang aus dem Bett, schlage das Wörterbuch auf – pedigree – Stammbaum, dann suche ich die Fledermaus und treffe ein mir ganz unbekanntes Wort.« Der Vormittag nach der Vorlesung fand mich, wie gewöhnlich, wieder auf der Eisbahn. Umstanden von dem Rudel meiner Dämchen, erzählte ich die Geschichte. »Nun, meine Damen, ich habe schon gestanden, daß ich selbst nicht gewußt habe, was die Fledermaus auf englisch heißt. Wer von Ihnen weiß es?« Alles schwieg, nur ein Stimmchen aus dem Hintergrunde ließ sich vernehmen: bat – die Fledermaus. Es war Marie Volkmar. Nun war es nicht etwa so, daß ich gedacht hätte: Sie hat etwas gelernt, die wird geheiratet. Keineswegs, denn an eine solche Möglichkeit dachte ich nicht von ferne, doch aber wurde ich dadurch auf Marie aufmerksam und beschäftigte mich von Tag zu Tag mehr mit ihr. Auch sie neigte sich mir zu; aber das alles hielt ich für kindliche Anhänglichkeit. So kam der 22. März heran, Kaisers Geburtstag, und für mich ein kritischer Tag erster Ordnung. Am Abend vorher war ich bei der Familie Volkmar eingeladen. Es war Louisens Geburtstag. Auch Dr. Engel und Frau waren zugegen. Ich saß zwischen Louise und Marie. Dr. Engel bemerkte: »Eine Perle im Gold!« Ich erwiderte: »Sagen Sie lieber: ein Schwefelhölzchen zwischen zwei Feuern!« Ich würde diesen Scherz nicht gewagt haben, wenn ich das eine oder andere Feuer für gefährlich gehalten hätte. Beim Abschied lud ich Frau Dr. Engel ein, am andern Morgen mit mir zur Kaisergeburtstagsfeier auf die Universität zu kommen. Ich holte sie ab, und da noch Zeit war, saßen wir auf einer Bank im Tiergarten ganz nahe dem Brandenburger Tor. Ich gehe nie an dieser Bank vorbei, ohne an die Eröffnung zu denken, welche Frau Dr. Engel mir hier machte. Sie ließ deutlich durchblicken, daß dasjenige, was ich für kindliche Anhänglichkeit gehalten hatte, wirkliche Liebe sei. Liebe zu mir! Und dazu von einer Seite, mit welcher ein eheliches Bündnis zu schließen ich[222] nicht, wie so oft in früheren Fällen, durch materielle Bedenken abgehalten wurde. Zum ersten Male bot sich eine Aussicht, zu heiraten, ohne dadurch meine akademische Zukunft zu schädigen oder gar zu vernichten. Die Sache versetzte mich in eine nicht geringe Aufregung. Der Kaisergeburtstagsredner hat keinen unaufmerksameren Zuhörer gehabt als mich.

Ich beschloß, der Sache mit Vorsicht näherzutreten. Ich arrangierte mit Fräulein Presting, den beiden Mädchen und Frau Dr. Engel ein englisches Lesekränzchen für Shakespearedramen. Ich besuchte mit ihnen einige Male das Theater oder einen Biergarten, wurde eingeladen und lud die Damen wieder ein. Auf einer gemeinsamen Tour nach Potsdam forderte ich sie auf, am Himmelfahrtstage, es war der 3. Juni, bei mir den Kaffee zu nehmen.

Ich holte die Damen verabredetermaßen, um Auffallen zu vermeiden, erst am Kanal gegenüber Schloß Bellevue ab und stand lange Zeit, bis ich endlich ein dunkles Gewand und zwei helle Kleider durch das Gebüsch schimmern sah, sie waren es. Ich führte sie in meine Zimmer, es wurde Kaffee und nachher Wein getrunken, die Stimmung war animiert, und ich begleitete die Damen noch ein Stück auf die Pferdebahn.

An jenen Himmelfahrtstag schloß sich eine weitere Verabredung. Zu Pfingsten wollten die drei Damen nach Kopenhagen. Zufällig, wie man zu sagen pflegt, wollte auch ich dorthin. Sie wollten im »Kongen of Danmark« absteigen; der Zufall wollte, daß auch ich dieses Hotel zu wählen beabsichtigte. Die Damen waren schon vorausgereist. Am Tag vor meiner Abreife stellte sich Freund Borinsky ein, mit dem ich schon früher von dergleichen gesprochen haben mochte, und erbot sich, mit mir zu fahren. »Gut,« sagte ich, »aber nur, wenn Sie verschwiegen sein können, denn ich gehe auf Brautschau.« Wir fuhren die Nacht vor Pfingsten durch mit dem bekannten Extrazug über Hamburg, Kiel und Korsör nach Kopenhagen, fuhren in gemeinsamem Wagen beim »Kongen« vor. Borinsky mußte auf der dem Hotel entgegengesetzten Seite aussteigen und versprach für die ganze Zeit unseres Aufenthaltes sich nicht blicken zu lassen; nur einmal sah ich ihn aus der Ferne auf der »Langelinie«. Ich betrat das[223] Hotel, nahm ein Zimmer, fand meine Damen, und was war natürlicher, als daß wir unsere Streifzüge gemeinsam unternahmen. Am Pfingstmontag waren wir abends natürlich im Tivoli; ich durfte neben Marie gehen, aber immer voran, während Louise mit Fräulein Presting hinterherfolgten. Am Pfingstdienstag besuchten wir Klampenborg und gingen im Dyrehave spazieren. Ich hatte mir fest vorgenommen, auf dieser ganzen Reise das Mädchen nur näher kennenzulernen, ohne mich zu binden. Auf der andern Seite schien man diese Zurückhaltung für Unentschlossenheit zu nehmen, und in dem Park von Klampenborg überraschte mich Marie mit der Bemerkung, daß sie zum Heiraten noch zu jung sei und nicht daran denke. Diese Erklärung schlug bei mir ein wie der Blitz. Also dahin hatte es mein Zaudern gebracht, daß dieses Mädchen, von der ich wußte, daß sie mich liebe, anfing, der Sache überdrüssig zu werden. In einer schlaflosen Nacht sagte ich zu mir: Entweder – oder! Entweder ich muß jetzt als Ehrenmann einen entschiedenen Rückzug antreten, oder ich muß mich erklären. Am folgenden Tage fuhren wir zunächst mit dem Dampfer nach Helsingör und hinüber nach Helsingborg. Auf dem Schiff regnete es ein wenig, ich stand mit Marie allein auf dem Verdeck und knüpfte ein gleichgültiges Gespräch über Haushaltungssachen an, nur um herauszufühlen, ob nach der gestrigen Erklärung Marie überhaupt noch für mich zu haben sein möchte, und der Eindruck schien dem nicht zu widersprechen. Wir fuhren über den Sund, um zur Hamletterrasse zu gelangen, wanderten durch das langgestreckte Städtchen, dann zur Kronborg durch die dunkeln Gewölbe, bis wir endlich zur Hamletterrasse mit ihrer herrlichen Aussicht auf den Sund und das jenseits gelegene Helsingborg gelangten. Louise und Fräulein Presting waren etwas zurückgeblieben, auch die Schildwache hatte sich bei drohendem Regen zurückgezogen, ich stand mit Marie allein und sprach: »Fräulein Mariechen, ich frage Sie vor Himmel, Erde und Meer, wollen Sie mein Weib werden?« Sie antwortete: »Ja!« Und ich gab ihr einen Kuß. Die Sage künftiger Zeiten meldet vielleicht, daß es in diesem Augenblicke gewesen wäre, als wenn alle umherstehenden Kanonen freudig Schüsse abgefeuert hätten, als wenn das Meer uns freudig entgegengebraust sei,[224] als wenn sich vom Himmel segnende Gestalten auf die Liebenden herabgelassen hätten. Aber hier sieht man, wie die Mythen sich trotz dem freundlichen Entgegenkommen von so vielen Seiten aus einfachen Naturvorgängen entwickeln; die segnenden Gestalten waren Regentropfen, und meine erste Ritterpflicht war, meiner Braut den Regenmantel anzuziehen. Inzwischen waren auch Louise und die Presting erschienen. Ich sprach: »Meine Damen, ich stelle Ihnen hier meine Braut vor.« – Und was nun? Rührung? Tränen? Gegenseitige Umarmung? – Nichts von alledem, sondern eine derbe Strafpredigt von Fräulein Presting: »Nun, Herr Doktor, wenn ich Marie gewesen wäre, ich hätte Sie noch länger zappeln lassen, denn Ihr Zögern und Zaudern verdiente gar nicht, so schnell erhört zu werden.« Wir waren alle wie von kaltem Wasser übergossen. Übrigens schien doch auch die Ostpreußin ihre Taktlosigkeit zu fühlen und durch Liebenswürdigkeit wieder gutmachen zu wollen. Von nun an durfte ich mit Marie Arm in Arm gehen und hinter den beiden andern folgen. Wir unterbrachen die Fahrt in Hellerup und durchwanderten das Schloß. Ich führte Marie, fühlte mich aber sehr geniert. Es war mir, als wenn alle Leute mich zum Ziel ihrer Blicke machten.

Von Mittwoch bis Sonnabend blieben wir noch im »Kongen« zusammen. Die Stimmung wurde von Tag zu Tag animierter und freudiger. Am Sonnabend er klärte Fräulein Presting: »Jetzt ist es genug, Marie muß Ruhe haben. Wir fahren heute zu Schiff nach Lübeck, und Sie, Herr Doktor, haben ja Ihr Retourbillett über Kiel und Hamburg.« Ich erwiderte rasch: »Dann lasse ich mein Retourbillett verfallen und fahre mit euch über Lübeck.« Die Presting protestierte. Ich sagte zu meiner Braut: »Wir wollen ihr doch zeigen, wer jetzt etwas zu sagen hat.« Aber sie erwiderte: »Laß es gut sein, Geliebter, und gib nach, denn ich würde es sonst hinterher zu büßen haben.« Ich gab nach, begleitete die Damen zum Schiff, nahm herzlich Abschied bis zum Wiedersehen nach sechs Tagen in Berlin, sah, an einen Pfeiler gelehnt, das Schiff abfahren, immer kleiner werden, bis ich zuletzt nur noch ein Rauchwölkchen von ihm sehen konnte. Ich fuhr, da Kopenhagen für mich keinen Reiz mehr hatte, noch in[225] derselben Nacht über Korsör und Kiel nach Hamburg. Hier mußte ich sechs lange Stunden bis zum Mittag warten. Es war Sonntagmorgen. Ich bestieg die Höhe von Blankenese und ließ mir im Garten des Restaurants ein gutes Frühstück auftischen, mußte aber zu meinem Verdruß sehen, wie die Tische links und rechts am schönen Sonntagmorgen von Liebespärchen besetzt waren, während ich alleine saß. Am Mittag war ich am Berliner Bahnhof. Hier traf ich meinen Kollegen Heinrich v. Stein. Ich teilte ihm mein Erlebnis mit, bestieg mit ihm, da er nicht rauchte, gegen meine Gewohnheit ein Nichtraucherkupee, und als gerufen wurde. Hagenow, drei Minuten, stieg ich aus, um eine Zigarette zu rauchen, hatte aber das Streichholz noch nicht angezündet, als etwas mit raschen Sätzen auf mich zusprang. Es war meine Braut, mit einem großen Blumenstrauß in der Hand. Sie waren von Lübeck nach Hagenow gekommen, hatten auf der Wiese Blumen gepflückt und dachten mich vielleicht im Zug zu sehen. Aber schon rief der Schaffner zum Einsteigen, schnell drückte meine Braut mir den Blumenstrauß in die Hand, fort raste der Zug, und ich hätte das Ganze für eine Vision halten können, hätte ich nicht die Blumen in meiner Hand gehalten.

Es ist erstaunlich, wie ein so großes Ding, wie es die Stadt Berlin nun einmal ist, durch ein so kleines Ereignis, wie es meine Verlobung denn doch war, ein so völlig verschiedenes Aussehen gewinnen konnte. Sechs Jahre hatte ich schon in Berlin gelebt und mich trotz meiner Lehrtätigkeit und schriftstellerischen Arbeit immer doch als Fremdling gefühlt, jetzt öffneten sich mir durch die Verwandtschaft meiner Braut ein halbes Dutzend Familien aus den besten Kreisen der Gesellschaft, bei denen wir zwanglos aus- und eingingen und uns gleichsam als Kinder im Hause fühlten, wie ich dies bald innewerden sollte.

Kaum hatte ich den Zug auf dem Lehrter Bahnhof verlassen, als ich mich auf dem so oft begangenen Heimwege ganz anders fühlte. Mir war es, als wenn alle Leute nach mir sähen; und den Verlobungsring vollends wagte ich nicht anzustecken, um, wie ich meinte, auf der Straße nicht aufzufallen.

Frau Henschel war natürlich die erste, welcher ich die große Neuigkeit mitteilte, und die mich warm und herzlich beglückwünschte,[226] während ihre drei Töchter die Nachricht merkwürdig kühl entgegennahmen.

Mit Ungeduld erwartete ich die Rückkehr meiner Braut empfing sie mit einem großen Blumenstrauße am Bahnhofe, und sogleich ging es zu Tante Henriette, deren Tochter Hedwig gerade Geburtstag hatte, und wo ich bei dem festlichen Abendessen schon so ziemlich die ganze Familie kennenlernte. Zahlreiche Einladungen füllten die nächsten Wochen aus, überall kam man mir herzlich entgegen; nur der älteste Bruder Franz zeigte sich anfangs ein wenig verschnupft darüber, daß auch ihm, als dem ältesten Haupte der Familie, durch Mariechens Diskretion ebenso wie allen andern die Sache verheimlicht worden war, aber gerade dieser Bruder Franz ist auf die Dauer mein bester Freund geworden, und in keinem Hause habe ich soviel Liebe und Güte bis auf den heutigen Tag erfahren wie bei ihm, seinem geistig regsamen und dabei unendlich gutmütigen Jettchen und ihren vier Töchtern, Elsa, Käthe, Toni und Alice, welche weiterhin alle vier meine Patenkinder geworden sind und jetzt bis auf eine noch unverheiratete als glückliche Familienmütter in Düsseldorf, Balingen und Bernau leben.

Da ich mit meinen einundvierzig Jahren für die Heirat wohl das nötige Alter hatte, auch meine Braut mündig und ganz selbständig war, so beschlossen wir, nicht lange zu warten und setzten unsere Hochzeit auf den 16. August 1886, zwei Monate nach der Verlobung, fest. Natürlich unternahmen wir jetzt alles gemeinsam, durften allein spazierengehen soviel wir wollten, und nur in Restaurants einzukehren war uns durch Fräulein Presting verboten und geschah, wenn es doch einmal vorkam, von seiten meines Bräutchens nur mit etwas schlechtem Gewissen, während ich durch irgendeinen fadenscheinigen Grund, einen eintretenden oder nur drohenden Regenschauer oder sonst etwas, meine und ihre Gewissensbisse zu beschwichtigen wußte.

Die einundsechzig Tage zwischen Verlobung und Hochzeit vergingen wie im Rausche. Meine Vorlesungen besorgte ich pünktlich, aber im übrigen wurde nicht viel gearbeitet. Jeden Nachmittag besuchte ich meine Braut, saß mit ihr auf dem Balkon, trank bei ihr Kaffee und ging mit ihr spazieren. Der Einkauf der Möbel[227] und anderer Utensilien nahm uns stark in Anspruch. Eine Hauptsorge war die Wahl einer Wohnung. Wir strichen täglich herum, besahen dieses und das, aber nichts wollte recht passen. Mein Wunsch war, eine halbe Stunde von der Universität entfernt zu wohnen, so daß zwischen mir und der Universität der Tiergarten lag. Dies war bei meiner bisherigen Wohnung, Paulstraße 31, der Fall gewesen, und hier in Moabit hätte ich gerne weitergewohnt, aber nichts fand sich, was allen Anforderungen entsprochen hätte. So kamen wir eines Abends am Kurfürstendamm vorbei und bemerkten in dem Eckhaus an der Korneliusbrücke, damals glaube ich 142, eine leerstehende Wohnung. Mehr aus Neugierde als in ernster Absicht stiegen wir die vier schön gewundenen Treppen hinauf und besichtigten die Räume. Ein schmaler Gang, ein großes und zwei kleinere Zimmer nach vorn, Schlafzimmer mit Badestube, Mädchengelaß und Küche nach hinten, nichts darüber als der Boden, ein prachtvoller Balkon, von dem aus man über alles hinweg bis nach Westend hin sah; das alles sollte nur 1050 Mark kosten. Erst auf dem Heimwege wurden wir inne, daß diese Wohnung gerade das war, was wir suchten und wünschten, und so sehr waren wir von diesem Gefühle beherrscht, daß wir noch an demselbigen Abend wieder zurückkamen und den Mietsvertrag abschlossen.

So rückte der ersehnte Tag heran. Täglich sah ich meine Braut auf längere Stunden. Wir fragten uns, ob wir nicht einmal einen Tag überschlagen wollten, um zu sehen, wie uns dann zumute sein würde, fanden aber, daß es doch nur eine unnötige Quälerei sein würde.

Es war alles für den 16. August auf das beste vorbereitet, die Reisekleider besorgt, das Reisegepäck fertig.

Eine kleine Unbequemlichkeit war es, daß auch meine Schwester Elisabeth ihre Hochzeit zwei Tage vor der meinigen zu Hüsten in Westfalen feierte. Die Folge war, daß von meiner ganzen Familie nur der Bruder Reinhard die Einladung zur Hochzeit angenommen hatte und bei der in meiner Braut Wohnung hergerichteten Hochzeitstafel als einziger Vertreter der Familie Deussen einen besonderen Ehrenplatz erhalten sollte. Wahrscheinlich hatte er sich hinterher umstimmen lassen, denn[228] als am 16. August die Sonne herrlich über meinem Hochzeitsmorgen aufging, brachte der Briefträger eine Postkarte von Reinhard, in welcher er mir Glück wünschte und sein Bedauern aussprach, nun doch nicht kommen zu können. Sofort eilte ich zu einem in meiner Nachbarschaft wohnenden Bekannten, dem Rechtsanwalt Ivers, und bat ihn, meinen Bruder bei der Hochzeit zu vertreten. Also, sprach er, ich soll heute ein Substitut sein, nun, dann werde ich mich bemühen, ein recht liebenswürdiger Substitut zu sein. Froh, einen Ausweg aus der Verlegenheit gefunden zu haben, eilte ich nun zu meinem Freund und Kollegen Ebbinghaus, um ihn als meinen Zeugen zum Standesamt abzuholen. Wir kamen zum Hause meiner Braut, wo Fräulein Presting für die dreiunddreißig Gäste die Hochzeitstafel bereits hergerichtet hatte und in eine nicht geringe Aufregung darüber geriet, daß mein Bruder Reinhard durch einen andern vertreten sein werde, wodurch dann eine Änderung der Tischordnung notwendig wurde. Wir fuhren zum Standesamt, und ich kehrte frohen Herzens durch den sonnigen Tiergarten in meine Wohnung zurück, stieg zum letzten Male die drei Treppen herauf, da schallte mir aus meinem Zimmer Gläserklingen, Lachen und fröhliches Geplauder entgegen und mit Erstaunen sah ich, wie statt des nicht mehr erwarteten Bruders ihrer sogar zwei, Johannes und Reinhard, angekommen waren, um mich in einer Weise, welche mehr für Oberdreis als für Berlin paßte, als Gäste zu meiner Hochzeit zu überraschen. Sie hatten nach der Nachtfahrt sich von meiner Wirtin eine Flasche Wein geben lassen und am frühen Morgen angefangen, in meinem Zimmer fröhlich zu zechen. Daß man zu einem solchen Feste nicht ohne Frack, Zylinder und weißen Handschuhen kommen kann, war ihnen gar nicht zum Bewußtsein gekommen. Zum Glück hatte ich das alles doppelt und konnte somit Johannes ausrüsten, während ich Reinhard antrieb, sich alles zu besorgen und beiden einschärfte, pünktlich um 3 Uhr in der Zwölfapostelkirche zu sein, wo Reinhard als Brautführer Louisens figurieren sollte. Durch einen Boten gab ich Fräulein Presting von der neuen Wendung der Dinge Nachricht, und sie mußte nun noch einmal die ganze Tischordnung umändern. Und Rechtsanwalt Ivers, was sollte aus dem werden? – Frau[229] Henschel hatte die unglaubliche Naivität gehabt, ihm sagen zu lassen, er sei nun nicht mehr nötig, worüber ich bei einem späteren Wiedersehen guten Grund hatte, mich vielmal zu entschuldigen.

Die Brüder waren gegangen und ich übertrug Frau Henschel die Aufgabe, während unserer Hochzeitsreise alle meine Sachen in die neue Wohnung zu schaffen und einzurichten. Um auch von der Hochzeit etwas zu sehen und zu genießen, sollte sie Reisekleider und Gepäck zu Dr. Engel, der mit den Volkmar-Schwestern auf derselben Etage wohnte, bringen und das Festkleid von dort abholen. Der Hochzeitswagen ließ sich auf der Straße hören. Frau Henschel, bei der ich sechs Jahre lang gewohnt hatte, weinte vor Rührung, mir selbst waren die Tränen nahe, aber eisig kalt war der Abschied von den drei Töchtern. Sie blieben an ihren Nähmaschinen sitzen, ich ließ mir nichts merken und reichte jeder zum Abschied die Hand. Ich habe sie nie wiedergesehen, während Frau Henschel uns in der Folgezeit noch öfter besucht hat.

Im prächtigen Hochzeitswagen holte ich meine Braut ab, und pünktlich um 3 Uhr fuhren wir bei der Zwölfapostelkirche vor. In der Vorhalle standen schon die sechs Brautführerpaare, aber Louise nicht wie verabredet von Reinhard geführt, sondern am Arm ihres eigenen Bruders. Johannes und Reinhard fehlten, sie hatten die Sache einfach verbummelt. Als wir nach der Trauung zum Hause meiner Braut zurückgefahren waren, füllte sich der Raum mit geputzten Hochzeitsgästen, die ihre Glückwünsche darbrachten. Hier wurden auch Johannes und Reinhard sichtbar. Ich stand gerade zwischen meiner Braut und Louise, als Johannes die letztere wegen ihrer glänzenden Toilette, kurzsichtig wie er war, für die Braut hielt, auf sie zuging und seinen Glückwunsch gerade mit einem Kuß besiegeln wollte, als ich mit den Worten »Um Himmels willen, es ist nicht die Richtige« ihm den Weg vertrat. Übrigens hielt dann im Verlaufe des Festmahls Johannes eine gedankenreiche, gediegene, Reinhard eine sehr nette, humorvolle Rede, welche beide gegen die übrigen Reden ebensosehr abstachen wie das einfache Äußere meiner Brüder gegen die Schar der geputzten Herren und Damen. Der schönste Auftritt beim Festmahle aber war es, als eine Deputation meiner Studenten erschien, eine[230] schöne, künstlerisch ausgeführte Adresse mit den Bildern der Berliner Universität, Kants und Schopenhauers überreichte, in einer Ansprache ihrem Lehrer und seiner Lebensgefährtin Glück wünschte und an dem Schluß des Festmahls, wie auch an dem nachfolgenden Tanzvergnügen regen Anteil nahm. Ich zog mich in die Nebenwohnung zurück, warf mich in Reisekostüm, ließ an der Seite meiner Frau meinen Blick noch einen Augenblick auf der in einer köstlichen Atmosphäre von Wein, Kaffee und Zigarren in fröhlichem Tanz sich bewegenden Gesellschaft ruhen, und dann fiel der Vorhang über dieser anmutigen Szene, wir rollten zum Bahnhof, wo noch einige Freunde erschienen waren, und nachdem wir in einem Kupee allein Platz genommen hatten, führte uns der Zug durch die Nacht in die Ferne hinaus.

Wir fuhren in der Nacht bis nach Elberfeld und Aachen und ohne Aufenthalt weiter bis Verviers, von da am folgenden Tage nach Lüttich und Loewen. Da meine Frau, infolge eines noch nicht ganz überwundenen Keuchhustens, sich leidend fühlte, verzichteten wir auf Brüssel und fuhren direkt durch nach Blankenberghe.

Die Verpflegung im Gasthaus war so reichlich und üppig, daß wir schließlich froh waren, nach drei Wochen Blankenberghe zu verlassen, um noch ein paar Tage in Ostende zu verweilen. Hier mieteten wir ein Zimmer und führten unsere eigene Wirtschaft, indem wir einkauften, was das Herz begehrte, und so die Mahlzeiten in unserm Zimmer zubereiteten, was für beide Teile einen großen Reiz hatte.

Am 9. September fuhren wir von Ostende nach Dover.

Von dort ging es mit Aufenthalt in Tunbridge nach London, wo wir in der Pension Dent, Craven Terrace 34, einem schon von früher meiner Frau bekannten und bewährten Hause, einige Wochen verweilten. Von den Zerstreuungen dieser Zeit will ich nur einer gedenken. In Beenham-House bei Altermasten wohnte ein Großgrundbesitzer und Rennpferdezüchter Mr. Waring, mit einer von dessen Töchtern Marie von Berlin her befreundet war. Dorthin fuhren wir über Oxford am 16. September und verbrachten einen sehr interessanten Tag. Während meine Frau bei den Töchtern weilte, ließ Mr. Waring anspannen[231] und fuhr mit mir über seine Besitzungen. Ein großer Landwirtschaftsbetrieb wurde fast durchweg mit Dampfmaschinen besorgt, da waren Maschinen, welche pflügten, Holz sägten usw. Noch interessanter war die Zucht edler Rennpferde, zuletzt wurde the great horse besucht, ein Hengst, welcher seinen eigenen Stall und Stallknecht hatte, und, nachdem wir uns auf einem Balkon in Sicherheit gebracht hatten, losgelassen wurde und die wunderbarsten Sprünge in seinem Stall ausführte. Er hieß »Robert, the devil«; 11000 Pfund waren Mr. Waring schon dafür geboten worden, aber er erklärte, ihn nicht unter 15000 (300000 Mark) verkaufen zu wollen. Sehr befriedigt von diesem Ausflug kehrten wir in unsere Pension zurück. Wir verließen London am 23. September, um über Newhaven, Dieppe und Rouen direkt nach Paris zu fahren. Es hatte einen eigenen Reiz, an demselben Tage die größte und die zweitgrößte Stadt der Welt nebeneinander zu sehen. Einige Wochen in Paris gingen mit Besichtigung der Sehenswürdigkeiten und Besuch der Freunde im Fluge dahin. Onkel Friedrich Ingelbach kam meiner kleinen Frau mit gewinnender Herzlichkeit, mit Kuß und Du entgegen, lud uns in sein Haus und zu der allsonntäglich mit der Familie unternommenen Landpartie in die Forêt de Lennart. Am 4. Oktober ging es nach Aachen, zu Freund Lob, und dann über Heinsberg und Jüchen nach Hüsten, wo Mariechens Geburtstag gefeiert wurde. Am 20. Oktober trafen wir in Berlin ein, wurden am Bahnhof empfangen und in unsere neue Wohnung geführt, wo alles in schönster Ordnung eingeräumt, die Speisekammer gefüllt war, Abendbrot und Tee auf dem Tische fertig stand. Der Winter brachte naturgemäß neben den Vorlesungen und der Arbeit an den »Sutras des Vedanta« viele Einladungen, zwischen welchen das Weihnachtsfest uns nach Hüsten zu den Eltern führte. Ein ungeheurer Schneefall hatte die Eisenbahnlinie dermaßen verweht, daß wir am 22. Dezember von Berlin abfahrend, von Zeit zu Zeit im Schnee steckenblieben und so am Abend nur bis Holzminden und erst am andern Tage nach Hüsten kamen. Mein Vater war schon sehr altersschwach und bettlägerig. Meine Frau begrüßte er mit den Worten: »Ave Maria«, und ich freue mich, daß sie ihn noch lebend gesehen hat, denn[232] am 9. Januar 1887, fünf Tage nach unserer Rückkehr nach Berlin, ist er gestorben und in Oberdreis unter der großen Linde beigesetzt worden.

Drei Männer haben für mein Leben eine besondere Bedeutung gehabt: mein Vater, weil er mir das Leben und einen gesunden Leib geschenkt hat, dazu auch den Mut hatte, durch alle materiellen Hindernisse hindurch, nie an der Möglichkeit zu verzweifeln, seinen Kindern den Weg zu höheren Lebensstellungen zu ebnen; der alte Kantschin, weil er mich aus dem Alltagsleben des Gymnasiallehrertums herausriß und in seinem Hause die Grundlage für meine materielle Freiheit legte, ohne welche auch die geistige Freiheit nicht gedeihen kann, und Schopenhauer, welcher mir diese geistige Freiheit schenkte, nicht indem er mich lehrte, auf sein System zu schwören, sondern indem er mich anleitete, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.

Die Osterferien des Jahres 1887 wurden zu einer Reise nach dem Süden benutzt, um meine beiden Schwestern in Tübingen und in Münster a. Stein zu besuchen und ihre Familien kennenzulernen. In den Pfingstferien zog es uns nach Kopenhagen, um die Erinnerungen des vergangenen Jahres wieder aufzufrischen, mit Dank für die gnädige Fügung, welche über unserm Geschicke gewaltet hatte. Rasch war das Sommersemester dahingegangen, und wir rüsteten uns zu einer größeren Reise. Inzwischen hatte ich nicht aufgehört, meine wissenschaftliche Lebensaufgabe mit emsigem Fleiße zu fördern. Bald nach dem Erscheinen meines »System des Vedanta«, im Frühjahr 1883, hatte ich volle vier Jahre an die Übersetzung der die Grundlage des Systems bildenden Vedantasutras mit dem Kommentar des Çankara verwendet, die Revision dieser Übersetzung am 4. April 1887 beendet und das Ganze bei Brockhaus in Druck gegeben. Anfang August 1887 gelangten mit Beginn der Ferien die ersten gebundenen Exemplare in meine Hände. Ich begab mich aufs Ministerium, um das Buch Althoff zu überreichen. Er empfing mich mit einem Seufzer und mit den Worten, daß er oft an mich gedacht habe, ohne doch bisher etwas tun zu können. Er griff zum amtlichen Verzeichnis und fuhr nach seiner Gewohnheit auf, als er meinen Namen nicht gleich finden konnte.[233] »Wo stehen Sie denn hier eigentlich?« rief er. – »Hier, Herr Geheimrat, unter den Privatdozenten.« – »So, Sie sind noch Privatdozent, nun, dem läßt sich ja abhelfen.« – Ich schied mit froher Hoffnung, aber zugleich mit dem bänglichen Gefühle, daß man mich, wie es damals noch oft geschah, mit einem Extraordinariate ohne Gehalt für abgefunden halten könnte, und schrieb daher an Althoff, daß eine solche Wendung der Sache mich auf die Dauer nicht befriedigen könne. Das Resultat dieser Begegnung sollte mich drei Wochen später in Meran überraschen.

Wir beschlossen, am 7. August nach Dresden und von dort nach Aussig zu fahren, wo wir auf dem Schreckenstein die uns befreundete Familie v. Lossow antrafen. Sie fragten, wohin die Reise gehen solle, und wir antworteten frischweg, wir fahren nach Griechenland. Versprechen macht Schulden, und wir beschlossen, die herrliche Ferienzeit zu benutzen, um die ganze Alpenkette von Salzburg bis Genf teils zu Fuß, teils fahrend zu durchziehen, dann Italien bis Brindisi und von dort Griechenland und Konstantinopel zu unserm Reiseziel zu wählen. Gesagt, getan. Über Prag und den Böhmer Wald gelangten wir nach Salzburg, besuchten Berchtesgaden, bestiegen bei Zell am See die Schmittenhöhe und fanden am 24. August in Meran einen Brief vor, welcher meine Ernennung zum Professor brachte. Die Wonne, welche mich überkam, wenn ich daran dachte, das so lange und so heiß erstrebte Ziel endlich erreicht zu haben, wurde bedeutend gedämpft durch die sich einmischende Befürchtung, auf die Dauer als Professor ohne Gehalt nur von unserm mäßigen Vermögen und den zwar von Jahr zu Jahr steigenden, aber doch nicht ausreichenden Kollegieneinnahmen leben zu müssen. Über das Stilfser Joch stiegen wir zum Lago di Como herab und von dort in langen Fußtouren, bei denen meine Frau sich sehr tapfer zeigte, zum Malojapaß hinauf und nach Sils-Maria hinunter, wo Nietzsche uns schon lange erwartete und nur in dem Anblick unseres bereits angekommenen Gepäcks über der Befürchtung, wir könnten ganz ausbleiben, Beruhigung fand. Er war überaus rücksichtsvoll, fast zärtlich für uns besorgt, was ihm früher nicht eigen war, führte mich zu seinen Lieblingsplätzen, zu seiner sehr primitiven Wohnung, »seiner Höhle«, wie er sie nannte, geleitete[234] uns bis Silvaplana, und die Tränen standen ihm in den Augen, als er in seine Einsamkeit zurückkehrte, während wir frohen Mutes über St. Moritz und Pontresina, über den Albulapaß und den Züricher See auf der Gotthardstraße nach Andermatt, über den Furkapaß nach dem Rhonegletscher gelangten, von wo uns ein Retourwagen bis nach Brieg führte und in einigen weiteren Tagen mein altes Genf mit seinen Erinnerungen an so viele Freuden und Leiden der vergangenen Zeit erreicht wurde.

In dem Maße, wie wir nach Süden kamen, steigerte sich das Verlangen und befestigte sich der Entschluß, Griechenland, dem ich die frohesten Eindrücke meiner Jugend verdankte, zu besuchen. Aber auch Italien war mir, mit Ausnahme des nördlichsten, bis Mailand reichenden Zipfels, noch unbekannt, und wie in meiner Jugend der Weg vom Lateinischen zum Griechischen gegangen war, so war es für unsere Reise kein Umweg, ganz Italien zu durchfahren und von Brindisi aus über Korfu nach Athen zu gelangen. Ein kleines Bedenken bestand darin, daß in Italien einige Cholerafälle sich ereignet hatten. Ich ging daher, ehe wir unsern Entschluß faßten, an einem der letzten Morgen in Genf zu drei Konsuln, dem deutschen, italienischen und griechischen, und legte allen dreien die Frage vor: Ob, wenn wir über Italien nach Griechenland reisten, nicht eine Quarantäne zu befürchten sei, und erhielt von allen dreien die beruhigende Antwort, daß ihnen von einer Quarantäne nichts bekannt sei, und daß es ihnen doch bekanntgegeben sein würde, wenn eine solche bestünde. Daraufhin fuhren wir fröhlich und getrost am 20. September 1887 von Genf nach Turin, und nachdem wir uns an dieser so regelmäßig und monoton gebauten Stadt bald satt gesehen hatten, weiter nach Genua, der Stadt mit ihren hohen Häusern, schmalen Gäßchen und großen historischen Erinnerungen, unter denen für uns Fiesko obenan stand. Weiter ging es nach Pisa, wo wir in einem kleinen Albergo, nahe am Bahnhof, Unterkunft fanden. Im Hofraum standen ein paar Mägde an einer Waschbütte, in welche sie etwas ausrangen, was ich aus der Ferne für Wäsche hielt, bis ich näher tretend mit Erstaunen bemerkte, daß es Weintrauben waren, welche sie mit den Händen ausdrückten. Das Produkt bleibt, wie sie mir erklärten, einige Wochen stehen, und[235] dann heißt es »Wein«. Hiernach ist es nicht zum Verwundern, daß die italienischen Weine, trotz der südlichen Lage Italiens, hinter den französischen erheblich zurückstehen. Nach einem Besuch in Livorno wandten wir uns nach Florenz und stiegen hier in einem trefflichen Hause ab, in welchem der Wirt mit seinen beiden Kindern, Dante und Beatrice, die Bedienung der Gäste besorgte und wir am andern Morgen beobachten konnten, wie Dante die Stiefel wichste, während Beatrice die Betten machte. Florenz ist das Zentrum für die mittelalterlichen Erinnerungen, wie Rom für die aus dem römischen Altertum, während man in Neapel schon stark an Griechenland erinnert wird. Dorthin zog es uns vor allem, und so verließen wir Florenz nach kurzem Aufenthalt und gelangten nach Rom. Auch hier wurden nur die wichtigsten Punkte, das Forum, der Palatin und der Vatikan besucht, und dann ging es im Fluge nach Neapel. Bei unserer Ankunft herrschte ein solches Regenwetter, daß man nicht einmal des Vesuvs ansichtig werden konnte. »Bei diesem Wetter ist hier nichts zu machen,« sagte ich zu meiner Frau, »wir wollen gleich morgen nach Pompeji, welches bei jedem Wetter genossen werden kann, und dann weiter nach dem Süden fahren.« Am andern Morgen bei unserer Abfahrt erfreuten wir uns des herrlichsten Sonnenscheins und eines wolkenlosen Himmels.

So wurde Pompeji bei gutem Wetter und mit dem allergrößten Interesse besichtigt. Auch der Vesuv lag, von überallher sichtbar, in herrlichster Klarheit da, und ein Führer mit Pferden beredete uns, noch am selben Nachmittage von Pompeji aus hinaufzureiten. Jedes Pferd sollte nur sieben Franken kosten. Nach einigem Bedenken entschlossen wir uns dazu, aber kaum hatte ich das Anerbieten angenommen, als ein Kutscher mit seinem Wagen erschien und mir versicherte, daß la salute della signora unbedingt erfordere, die erste Strecke in der Ebene für 2 Lire 50 in seinem Wagen zurückzulegen. Auch dies nahm ich an, hauptsächlich, um die Reitpferde noch zu schonen und für den Aufstieg frischzuhalten, freilich vergebens, denn kaum saßen wir im Wagen, als der Führer sich auf das eine der Pferde schwang und in vollem Galopp zum Fuß des Berges vorauseilte. Wir bestiegen die Pferde, deren Namen an die höchsten Ideale des Neapolitaners[236] erinnerten, denn das eine hieß »Maccaroni« und das andere »Lacrimae Christi« (nach einem am Vesuv wachsenden Weine). Der Aufstieg begann. Der Führer und sein Junge trieben die Pferde von hinten an, und bei besonders steilen Stellen mußte ich sehen, wie der Bube sich noch an den Schwanz des Pferdes meiner Frau hing, um sich ziehen zu lassen. Immer höher kamen wir, immer einsamer wurde die Gegend. Mitunter ließ sich ein donnerähnliches Poltern vernehmen. Ich fragte nach der Ursache und erhielt zur Antwort: »Es ist der Berg, welcher arbeitet.« Endlich gelangten wir an den Fuß des Aschenkegels, wo eine Anzahl Kerle mit Sänften uns einluden, uns in denselben hinauftragen zu lassen. Jede Portantina sollte 25 Lire kosten. Zwar ermäßigten sie den Preis, nachdem ich die Forderung entrüstet zurückgewiesen hatte, sogleich auf 17 Lire, fanden aber auch damit bei uns keine Zustimmung. Meine Frau war über diese Art, uns auszubeuten, so entrüstet, daß sie erklärte, gar nicht auf die Gipfel steigen zu wollen, sie werde auf ihrem »Lacrimae Christi« mit dem Knaben nach Trecase zurückreiten und mich dort erwarten, während ich beschloß, mit meinem Führer den Aufstieg zum Aschenkegel, welcher eine Stunde in Anspruch nimmt, zu Fuß zurückzulegen. Mein Führer beredete mich, wenigstens einen »ajuto« zu nehmen, einen jungen, kräftigen Burschen, mit einem Strick über der Schulter, an welchem ein Querholz befestigt ist, das man mit beiden Händen faßt und so sich hinaufziehen läßt. Das sollte wiederum 3 Lire 50 kosten. Ich lehnte es ab, der Führer versicherte mir, daß ich ohne ajuto nicht hinaufkommen könne, und als ich den Aufstieg allein unternahm, führte er mich einen Weg, auf dem es freilich für jedermann unmöglich gewesen wäre, hinaufzukommen. Wohl oder übel mußte ich den ajuto bewilligen, und nun, meinte der Führer, könne er ja wohl unten bleiben. Diesen Vorschlag, mich allein einem wildfremden Menschen anzuvertrauen, wies ich mit Entschiedenheit zurück und bestand darauf, daß der Führer mitgehen müsse. Nun ging es den Berg hinauf; ich habe kaum je wieder solche Anstrengung ausgestanden. Der Bursche zog mächtig, ich wollte nicht als Schwächling erscheinen, kam stark hinter Atem und gönnte mir doch keine Ruhepause, zumal der Abend schon herannahte. Endlich waren[237] wir oben, ein unvergeßlicher Eindruck erwartete mich. Der Krater bestand damals aus einem tiefen Tal, in dessen Mitte aus einer kleineren Öffnung unaufhörlich eine mächtige Dampfsäule unter ohrenzerreißendem Lärm emporstieg, alle paar Minuten kam eine Feuersäule, welche zahllose kleine Steinchen hoch über unsere Köpfe schleuderte, vor denen man sich nicht genug in acht zu nehmen hatte. Der ajuto stieg hinab, um einige Kupfermünzen in der glühenden Lava abzudrücken, mir aber war es genug, von dem Rande oben zuzusehen, auf der einen Seite den unaufhörlich dampfenden, stampfenden, knatternden, polternden Berg mit seinem Höllenlärm, auf der andern Seite die weite, blühende, in tiefstem Abendfrieden bei untergehender Sonne liegende kampanische Landschaft. Der Gegensatz ist von unbeschreiblicher Wirkung, aber nur wenige Minuten vermag man sie zu ertragen. Es folgte der Abstieg. Führer und ajuto faßten mich an beiden Armen und nun wurde gesprungen in Sätzen von zehn Fuß Höhe, wobei man jedesmal bis an die Knie in die Asche versank. In wenigen Minuten waren wir unten, ich ritt zurück nach Trecase, fand meine Frau, und so kamen wir wohlbehalten im Albergo del Sol an, einem trefflichen Wirtshause, dessen Wände allenthalben von Malereien der hier absteigenden Maler verziert waren, und dessen wackerer, alter Wirt uns in jeder Beziehung freundlich entgegenkam. Ermüdet suchten wir unser Schlafzimmer auf, und während meine Frau zu Bett ging, saß ich noch lange am geöffneten Fenster, rauchte meine Zigarre und sah zu, wie auch der Vesuv sein Pfeifchen qualmte, von Zeit zu Zeit eine helle Feuergarbe in die Höhe steigen ließ und hier aus der Ferne einen höchst friedlichen Anblick gewährte.

Der nächste Tag führte uns von Pompeji an den Ufern des Busento herunter nach den aus der Geschichte der Pythagoräer bekannten Orten Metapont und Tarent, durch eine ehemals blühende, jetzt stark vernachlässigte Gegend. Man könnte, sagte man mir, hier unter der herrlichen südlichen Sonne zwei Ernten im Jahre haben und ist so faul, daß man alle zwei Jahre nur eine hat. Dabei ist die Gegend so von Fieber heimgesucht, eine bloße Folge mangelnder Bebauung, daß man sogar an der Eisenbahnlinie überall Eukalyptus pflanzt, um das Fieber zu[238] bekämpfen. Am Sonntag, dem 2. Oktober, nachmittags, fuhren wir von Tarent nach Brindisi.

Um 10 Uhr abends stand ich in Brindisi vor dem Schalter, um Billette nach Korfu zu nehmen, und fragte, wie man ja auch wohl eine überflüssige Frage tut, es sei doch keine Quarantäne zu befürchten. Die niederschmetternde Antwort lautete: Si signore, undici giorni. Elf Tage Quarantäne! Lange ging ich mit meinem Frauchen auf und ab und überlegte, ob wir nicht besser täten, unter diesen Umständen auf Griechenland zu verzichten und durch Italien heimzukehren. Aber das wäre eine Niederlage gewesen, auch war die Sehnsucht nach Griechenland übermächtig, und als wir auf der Straße im Halbdunkel mit einem alten Herrn und zwei jungen Personen bekannt wurden, welche ebenfalls in die Quarantäne gehen wollten und versicherten, daß sie es schon öfter durchgemacht hätten, und daß es nicht so schlimm damit sei, war mein Entschluß gefaßt und ich nahm Billette nach Korfu. Stand uns auch eine Gefangenschaft von elf Tagen bevor, so war es doch griechischer Himmel und griechische Luft und griechische Sprache, die uns umgeben sollten, und wir fuhren getrost in die Nacht hin ein, unserm Schicksal entgegen.

Vor uns lag gegen Mittag des andern Tages Korfu mit seinen ragenden Gebäuden und seinem städtischen Leben; uns aber führte der Dampfer weiter, zu einem kleinen Inselchen zwischen Korfu und dem Festlande, Vido genannt, welches nicht wie die Insel Gobino eine bloße Beobachtungsstation, sondern die richtige strenge Quarantänestation ist, ein kleines Inselchen, fünf Minuten lang und ebenso breit, ohne Bäume und Pflanzen, mit einem großen Cholerakirchhof als einzige Sehenswürdigkeit und einem weiten, von hohen Mauern umschlossenen Hofraum mit Kasematten an der Innenseite, in welchen die etwa dreißig internierten Leidensgenossen untergebracht wurden. Unsere Hütte, ein stallartiger Raum mit dürftigster Möblierung, lag neben der des alten Herrn mit den beiden jungen Personen, welche sich auf dem Schiff im Halbdunkel der Nacht mit meiner Frau etwas angefreundet hatten, über deren Zweck und Beruf aber uns kein Zweifel mehr bleiben konnte, nachdem wir sie die halbe Nacht auf ihrer Gitarre hatten[239] klimpern hören; es waren zwei Tingeltangeldamen, an denen nichts schön war als ihre Namen, denn sie hießen »Leontis« und »Penelope«; ihren Begleiter pflegte ich im Gespräch mit meiner Frau noch viele Jahre nach dieser denkwürdigen Begebenheit als den »Tingeltangelvater« zu bezeichnen. Zunächst kostete es einige Mühe, die beiden Dämchen von uns abzuschütteln; wir verlangten und erhielten am andern Tage eine eigene Kasematte, fern von ihnen in der Nähe des stets offenen Eingangstores, wie wir denn überhaupt die einzigen waren, welche unsere Beköstigung für 8 Lire die Person aus dem ersten Hotel in Korfu bezogen. In unserer Hütte krochen zuweilen seltsame Tiere, große Schnecken oder dergleichen an den Wänden, der Wind rasselte in den Schindeln des Daches über uns, und es regnete gelegentlich bis in die Betten hinein. Zur Bedienung war uns ein wüster Kerl, halb griechisch, halb italienisch, namens Domenico, angewiesen; wir ließen den Tisch von ihm immer vor unserer Hütte decken, da Domenico einen Geruch an sich hatte, der die ganze Hütte verpestet hätte. Jeden Morgen ging ein langer, schweigsamer Fischer mit einer Angelrute zum Meer, um einen Fisch für uns beide speziell zu fangen, alles übrige kam aus dem Hotel St. Georges, wo man uns in der Regel schickte, was man dort nicht brauchen konnte. Oftmals führte ich Klage in der Küche, welche außerhalb der Quarantäne lag und durch ein Gitter von uns getrennt war. Man vertröstete uns: »Heute bekommen Sie ein gutes Huhn.« »Es wird wohl wieder Haut und Knochen sein«, sagte ich. »O nein,« hieß es, »wollen Sie es sehen?« Man zeigte mir ein lebendes Huhn. »Was,« sage ich, »zwei Stunden vor der Mahlzeit und noch nicht geschlachtet?« »Nein,« erwiderte der Koch, »dieses ist es auch nicht, ich zeigte es Ihnen nur als Beispiel für das andere.« Die ganze Quarantäne war im Grunde nur eine Komödie, aufgeführt aus Furcht vor den Türken, welche gegen Griechenland Quarantäne gemacht haben würden, hätten die Griechen nicht eine solche gegen Italien eingerichtet. Alle Tage kam Herr Kephalas, il capo della sanita, begleitet von seinen Assistenten, ohne daß er irgend etwas getan hätte, und doch wäre sehr viel zu tun gewesen. Die Toiletten waren in einem Zustand, daß man lieber nach außen unter die Felsvorsprünge ging. Wir[240] wurden elf Tage festgehalten, und doch kam nach sieben Tagen immer ein neues Schiff aus Italien, und die Ankommenden wurden ruhig mit uns zusammengesteckt. Eines Tages mußten wir alle unsere Sachen in die Räucherkammer bringen, überzeugten uns aber, als wir sie wiederholten, daß gar nicht geräuchert worden war; hingegen wurde alles Papiergeld wirklich geräuchert und die klingenden Münzen wurden in einer Flüssigkeit desinfiziert. Das Ganze war ein bloßes Possenspiel, welches nicht nur ziemlich viel kostete, sondern auch unsere für Griechenland bestimmte Zeit um elf Tage verkürzte. Doch konnte ich jeden Morgen ein Seebad nehmen, auf die Gefahr hin, von Haifischen angefallen zu werden, auch ließ ich mir täglich aus Korfu eine griechische Zeitung kommen, die einzige auf dem Inselchen, und da unsere Leidensgenossen, meist armselige Schiffbrüchige und anderes geringes Volk, auf Nachrichten begierig waren, so pflegte ich meine Zeitung vor versammeltem Volke vorzulesen, wodurch ich mir sehr schön die neue griechische Aussprache einüben konnte. Nachmittags hatten wir eine Teestunde und luden dazu Herrn Pignatorre ein, den einzigen Gentleman in der ganzen Gesellschaft. Er war griechischer Konsul in Messina und hatte sich vor der Cholera geflüchtet.

Daß wir Tee bei uns hatten, verdankte ich dem Rate unseres Freundes Dr. Engel in Berlin, welcher uns empfohlen hatte, nach Griechenland Tee und Insektenpulver mitzunehmen. Mit beidem waren wir, von Berlin kommend, nach Schandau gelangt, wo die österreichischen Zollbeamten an Bord kamen. Die Einführung von Zigarren in Österreich ist mit solchen Schikanen verknüpft, daß man genötigt ist, zu schmuggeln. Ich hatte alle Taschen meines Überziehers mit Zigarren vollgestopft und hielt ihn ruhig über dem Arm, als die Zollbeamten unser Gepäck revidierten. Ich deklarierte meinen Tee und mein Insektenpulver. »Ja,« hieß es, »da müssen Sie mit uns ans Land ins Zollhaus kommen.« Ich ließ meine Frau an Bord und ging mit den Beamten in die Zollbude, immer den Überzieher mit allen Zigarren über dem Arm. Der Tee war sogleich taxiert; aber das Insektenpulver konnten sie in ihren Büchern nicht finden. Während sie danach suchten, pfiff der Dampfer einmal ums andere[241] Mal, und ich war in größter Angst, daß er mit meiner Frau ohne mich abfahren könnte. Endlich war auch das Insektenpulver gefunden, ich hatte nur wenige Kreuzer zu bezahlen, wollte dieselben schnell in deutschem Geld, denn anderes hatte ich nicht, hinwerfen, aber die Beamten bestanden darauf, daß ich in österreichischem Gelde zahlte, obgleich Schandau noch in Deutschland liegt und das Geld an der nächsten Tür leicht von den Beamten hätte eingewechselt werden können. In dieser Not blieb mir nichts anderes übrig, als die paar Kreuzer von einem Mitreisenden zu leihen und sie ihm in deutschem Gelde zurückzugeben. Soviel zur Charakteristik der österreichischen Zollbehörden. In keinem Lande ist die Verzollung so pedantisch wie in Österreich. Vielleicht ist es die Herbartische Philosophie, welche ja jahrzehntelang in Österreich herrschte, die ihren Einfluß bis in die Zollverwaltung hinein erstreckte.

Nun zurück zu unserer Quarantäne und noch etwas zur Charakteristik unserer Tingeltangelfreundinnen. Drei Tage vor dem Ende der Quarantäne kamen Waschfrauen von Korfu auf die Insel, und alle Wäsche mußte gewaschen werden, konnte aber nur ungeplättet zurückgeliefert werden, da auf dem Inselchen keine Plätterei war, und nur Leontis und Penelope konnte man öfters vor ihrer Hütte beschäftigt sehen, ihren Plunder zu glätten. Die Wäsche wurde zurückgeliefert, bei der Revision fehlten ein halbes Dutzend Taschentücher, darunter eines, welches meine Frau als Andenken an eine englische Freundin sehr wert hielt und zurückgeliefert haben wollte. Die Waschdamen schwuren bei allen Heiligen, daß sie alles Übergebene zurückerstattet hätten. Ich aber sagte ganz ruhig: »Meine Damen, ehe Sie das Tüchlein bringen, erhalten Sie kein Geld.« Nach einer halben Stunde brachten sie das vermißte Taschentuch herbei, es war auf das sauberste geplättet.

Am 14. Oktober gelangten wir nach Korfu, blieben dort noch einen Tag gut verpflegt im Hotel St. Georges und besuchten die eine Stunde weit entfernte Kanone, einen herrlichen Aussichtspunkt, von welchem aus man rechts noch heute den Waldstrom sieht, an welchem Odysseus ans Land geworfen wurde, und links in der Tiefe zwei kleine Inselchen, Pondikonisi, Mauseinseln genannt, angeblich die von Poseidon aus Zorn[242] darüber, daß sie den Odysseus nach Ithaka gebracht hatten, versteinerten beiden Schiffe der Phäaken, jetzt, wie man mir sagte, zwei Klöster beherbergend, eines für Mönche und das andere für Nonnen, welche sich somit aus der Ferne sehen können, ohne doch je zueinander zu gelangen.

Am Nachmittag des 15. Oktober bestiegen wir das Schiff, um südwärts zu fahren. Die Nachtfahrt war sehr unruhig. Meine Frau war nicht zu bewegen, die Kajüte aufzusuchen. So saßen wir, eng aneinandergeschmiegt, die ganze Nacht auf dem Verdeck, den Rücken gegen einen Mastbaum, die Füße gegen einen Vorsprung gestemmt, um nicht umgeworfen zu werden, so stark schaukelte das Schiff. Um 1 Uhr nachts zeigte man mir in der Ferne ein Licht, angeblich auf Ithaka. Am Morgen liefen wir in den Golf von Korinth ein, sahen links Messolunghi liegen, konnten beobachten, wie rechts der Erymanthos, links nach und nach Parnaß, Helikon und Kithairon sich den Blicken zeigten und mir die herrlichsten Erinnerungen meiner Jugendzeit belebten, während meine Frau nach der stürmischen Nachtfahrt sich sehr elend fühlte. Am Abend des 16. kamen wir in Korinth an, stiegen in einer elenden Spelunke ab, wo man nur durch das Zimmer des Kellners in unser Schlafzimmer gelangen konnte, und wurden am Morgen des 17., dem Geburtstag meiner Frau, früh um 5 Uhr durch ein kleines Erdbeben geweckt. Nur zwei Erdbeben habe ich bis jetzt erlebt und gerade genug an ihnen; denn nichts ist grauenhafter, als wenn der Boden, der alles trägt, und auf den wir zu vertrauen gewohnt sind, unter den Füßen schwankt. Das erste genoß ich in Aachen am 26. August 1878, gleichfalls am frühen Morgen, als wir noch in den Betten lagen, es war ein Gefühl, als wenn ein Pferd unter uns galoppierte. Ich sprang aus dem Bett, und schon kam mir George, der im Zimmer nebenan schlief, entgegen und fragte: »Que faites vous là?« Er glaubte, daß ich meine allmorgendlichen Waschungen diesmal mit ungewöhnlicher Heftigkeit betriebe. Wir sahen zum Fenster hinaus, welches auf einen Hof führte, da kamen schon aus allen Hintertüren der Nebenhäuser die Leute herausgestürzt. Das Ärgste ist die Angst, daß der schlimmste Stoß noch nachkommen könnte, und ich gestehe, daß ich den ganzen Tag in großer Angst verbrachte,[243] denn damals, wo ich noch so wenig hinter mir und so vieles vor mir hatte, hing ich sehr am Leben. Glimpflicher war das zweite Erdbeben in Korinth, welches diese Abschweifung veranlaßte. Um 10 Uhr morgens nahm ich mit einem Hochgefühl ohnegleichen zwei Billette Korinth-Athen. Ein Gesellschaftswagen mit Bänken in blauem Samt an den Langseiten nahm uns als einzige Insassen auf, und ich fuhr mit einer Freude, wie ich sie selten genossen habe, über die Eisenbahnbrücke des Isthmos, den Saronischen Meerbusen zur Rechten. Durch Pinienhaine klettert der Zug an den Skironischen Klippen, wie sie jetzt wieder heißen, entlang und fährt an Megara vorbei in weitem Bogen um das letzte Vorgebirge herum, und vor mir lag Athen mit der nach allen Seiten weit sichtbaren Akropolis. In einem der beiden Hotels d'Athenes fanden wir billige und gute Unterkunft und freuten uns, leider nur fünf Tage lang, der Akropolis, des Areopag mit seiner durch die Oresteserinnerungen geheiligten und jetzt schmählich verschmutzten Höhle und all des Herrlichen, was Athen an geweihten Stätten bietet.

Die Rückkehr in die Heimat von dieser ersten größeren Reise beschlossen wir trotz der Beschränktheit unserer Zeit über Konstantinopel zu nehmen. Dorthin konnte man entweder direkt oder für denselben Preis auf dem Umwege über Smyrna gelangen. Wir wählten das letztere, schifften uns am 22. Oktober auf einem ägyptischen Khedivedampfer ein, bewunderten vom Piräus aus fahrend in der Abendbeleuchtung das purpurne Meer, wie es Homer nennt, in seiner dunkelroten, ins Blau schimmernden Färbung und mußten am andern Morgen, als wir an Chios vorbeifahrend den ganzen Himmel von roten Wölkchen wie übersät sahen, abermals an Homer und seine rosenfingrige Eos denken, und hielten am Nachmittag vor Smyrna. Den vierstündigen Aufenthalt benutzten wir, um die Stadt und die nächste Umgebung zu besichtigen. Vor weiterer Entfernung von der Stadt warnte uns der Führer, da wir leicht von Räubern aufgegriffen werden könnten. Wir sahen das Türkenviertel mit seinen vergitterten Fenstern und tief verschleierten Frauen und gelangten nur um die Ecke biegend ins Judenviertel, wo alles offen war und die Weiber Angesicht, Nacken und Busen neidlos den Blicken[244] darboten. Dann ging es zum Ladeplatz der Kamele. Eine Reihe dieser geduldigen Tiere waren eines immer hinter dem andern durch längere Stricke aneinandergebunden. Der Reihe nach mußten sie niederknien, wurden mit schweren, hochaufgetürmten Lasten bepackt, dann durch einen kräftigen Fußtritt zum Aufstehen veranlaßt und mußten weiter geduldig stehenbleiben, bis die ganze Reihe beladen war. Dann zogen sie auf der weithin sichtbaren Kamelbrücke über den Melks, von dem Homer den Beinamen Melesigenes trägt, fernhin in das Innere Kleinasiens. Eine weitere, ziemlich unruhige Nachtfahrt führte uns durch die Meerenge zwischen Tenedos und der trojanischen Küste hindurch, wo wir einen unerwarteten Aufenthalt von fünf Stunden hatten. Ein türkischer, mit Passagieren wohlbesetzter Dampfer war in der Nacht auf die Klippen von Tenedos aufgefahren und lag dort fest. Zur Hilfeleistung waren wir nicht eigentlich verpflichtet, da Gefahr nicht bestand; die Passagiere waren ausgestiegen, und man sah, wie sie auf den Klippen von Tenedos sich um ein Feuer geschart hatten. Um jedoch die hohe Prämie zu verdienen, beschloß unser Kapitän, den Dampfer loszuziehen. In stundenlanger Arbeit wurde bei unruhigem Seegang das dickste Tau unseres Schiffes an dem türkischen Dampfer befestigt und ein zweites, starkes Tau von diesem auf unser Schiff herübergezogen. Nach vollendeter Arbeit setzte sich die Maschine unseres Dampfers langsam in Bewegung, die bis dahin schlaff hängenden Taue spannten sich an, ein kräftiger Ruck, ein Krach und noch ein Krach, beide Taue waren zerrissen und die fünfstündige Arbeit war vergebens. Inzwischen hatten wir den Vorteil, die berühmte Insel Tenedos und die noch berühmtere trojanische Ebene, letztere allerdings nur aus der Ferne, in Ruhe betrachten zu können. Da, wie bemerkt, keine Lebensgefahr bestand, so überließen wir den türkischen Dampfer seinem Schicksal und der von Konstantinopel zu erwartenden Hilfe, fuhren den Nachmittag durch die Dardanellen hindurch, an Leander gedenkend, der hier vergebens seine Hero zu erreichen suchte, und an Lord Byron, der wirklich hinübergeschwommen ist, durchquerten in der Nacht das sehr unruhige und nicht ungefährliche Marmarameer und gelangten am Montag wohlbehalten nach Konstantinopel. Fünf Tage konnten[245] wir hier noch weilen, nahmen Quartier in einem ungarischen Hotel zu Pera, besuchten das südlich vom Goldenen Horn sich weit ausdehnende Stambul, Skutari mit den heulenden Derwischen, den Hippodrom und das eine Stunde weiter nördlich am Bosporus gelegene Ortakoi. Auf dem Rückwege standen wir ein Weilchen in respektvoller Entfernung vor dem Palast, in welchem der Sultan Murat gefangengehalten wurde, bis ein Wachtposten auf uns zueilte und uns in gröbster Weise aufforderte weiterzugehen. Da wir keine Empfehlungen hatten, so trafen wir somit überall verschlossene Türen und eine grobe Behandlung an.

Da die Eisenbahn Konstantinopel-Wien, die wir drei Jahre später benutzt haben, damals noch nicht fertig war, so mußte ich meinem Frauchen noch eine letzte nächtliche Seefahrt, den Bosporus herunter und über das gefürchtete Schwarze Meer, bis nach Varna, zumuten. Wir überstanden sie bei leidlichem Wetter in der Nacht auf den 30. Oktober, und meine kleine Frau atmete auf, als wir glücklich die Eisenbahn bestiegen hatten, um durch Bulgarien bis Rustschuk, dann mit dem Dampfer über die hier sehr breite Donau nach dem rumänischen Giurgewo und über Bukarest durch das Eiserne Tor nach Wien und weiter nach Berlin zum Anfang der Vorlesungen zurückzukehren.

Auf die Abwechselungen dieser großen und schönen Reise folgten im Winter 1887–1888 ruhige Tage, soweit von Ruhe die Rede sein konnte, in Berlin, wo einerseits der Kreis der Verwandten, andererseits der Universitätskreis viele Unterbrechungen durch das gesellschaftliche Leben mit sich brachten. Die Beförderung zur Professur hatte eine merkliche Erhöhung des Vorlesungsbesuches zur Folge, aber es war eine Professur ohne Gehalt, und so blieben wir in bänglicher Ungewißheit darüber, wie diese wichtige Angelegenheit sich weitergestalten würde. Allmorgendlich ging ich vom Kurfürstendamm durch den Tiergarten und Unter den Linden entlang zur Universität; dort pflegte mich meine Frau nach der Vorlesung abzuholen, und wir gingen zusammen durch den Tiergarten nach Hause denselben Weg, auf welchem um diese Zeit der allmächtige Althoff sich ins Ministerium zu begeben pflegte. Wir begegneten ihm daher häufig, fast regelmäßig,[246] wagten aber natürlich nicht, ihn anzusprechen; da war es denn ein großes Ereignis, daß am 13. Januar Althoff bei unserer Begegnung im Tiergarten stehenblieb und zu mir sagte: »Bald komme ich auch zu Ihrer Sache.« Diese Worte erfüllten mich mit frohen Hoffnungen. Ich ersah aus ihnen, daß es doch bei einer Professur ohne Gehalt nicht sein Bewenden haben sollte. Freilich dauerte es noch sieben Monate, bis diese Hoffnungen sich erfüllen sollten. Größere Reisen wurden in dieser Zwischenzeit nicht unternommen; teils war an den Eindrücken der griechischen Reise unsere Reiselust einigermaßen gesättigt, teils hatten wir auch Grund, bei der Ungewißheit unserer Lage unsere Mittel zu schonen.

Tiefen Eindruck machte auf mich, wie auf alle, der am 9. März erfolgte Tod des alten Kaisers Wilhelm. Täglich hatte ich ihn, wenn ich morgens zur Vorlesung kam, an dem historischen Eckfenster sitzen sehen, und machte dann wohl den Scherz, daß er aufpasse, ob seine Privatdozenten auch regelmäßig zur Vorlesung kämen. Auch auf einem Subskriptionsball, dem einzigen, den ich meiner Frau zuliebe mitgemacht habe, wo man stundenlang in großer Toilette dichtgedrängt unter geputzten Herren und Damen stehen mußte, hatte ich wenigstens die Genugtuung gehabt, den lieben alten Kaiser in seiner Loge in aller Ruhe beobachten zu können. – Jetzt war er dahingeschieden, und sein Leichenbegängnis am 16. März war ein ergreifendes Schauspiel. Am Morgen früh brachte ich meine Frau zu Croners, welche damals am Brandenburger Tor wohnten und bei denen sich eine Menge von Bekannten für diesen Tag angesagt hatte. Ich selbst kämpfte mich dann durch die trotz bitterer Kälte angesammelten Menschenmassen bis zur Universität hindurch, wo mir ein Platz auf dem Balkon angewiesen war, ausgezeichnet, um alles aus der Nähe zu sehen, aber bei 10 Grad Kälte, so daß alles um mich her zitterte und bebte, während ich in meinem aus Rußland mitgebrachten Pelze mich ganz behaglich fühlte. Einen großartigen Anblick gewährte die ganz mit schwarz drapierte Straße Unter den Linden von der Universität bis zum Brandenburger Tor, und einen tiefen Eindruck machte es, als die Trompeter in weitschallenden, langgezogenen Tönen, mit Pause zwischen[247] jedem Ton, durch den Choral »Jesus, meine Zuversicht« das Nahen des Trauerzuges verkündigten. Es folgte der prachtvoll dekorierte Sarg, hinter welchem das Leibpferd des Kaisers geführt wurde. Dann schritt, da der Sohn schon schwer krank lag, der Enkel ganz allein einher, gleich hinter ihm folgten in einer Reihe drei Könige und sodann ein endloser Zug höchster und hoher Würdenträger und Vertreter der Zivilbehörden und der Armee. Nachdem der Zug durch das Brandenburger Tor verschwunden war, arbeitete ich mich durch die Menschenmassen hindurch, stieg am Brandenburger Tor zur Cronerschen Wohnung hinauf, welche ganz von Gästen gefüllt war, und hier schlug mir eine köstliche Atmosphäre von Braten und Kuchen, Wein, Kaffee und den besten Zigarren entgegen, wo denn auch ich, wiewohl spät kommend, mich an Speisen und Getränken von den ausgestandenen Anstrengungen weidlich erholen konnte, ehe ich mit meiner Frau nach Hause ging.

Zu Beginn der Sommerferien waren wir in Trier, wohin die Nachricht kam, daß der Minister mir, wenn auch kein etatsmäßiges Gehalt, so doch eine jährliche Remuneration von 2000 Mark bewilligt habe. Da kam uns mit den reichlicheren Mitteln der Gedanke, Spanien zu besuchen. Wir waren zwar weder sprachlich noch finanziell für ein solches Abenteuer vorbereitet, aber beidem ließ sich abhelfen. Sofort kaufte ich zwei Exemplare der Grammatik von Avalos, und während wir uns die Elemente der Sprache spielend aneigneten, fuhren wir über Genf nach Lyon, wohin ich das nötige Reisegeld beordert hatte.

Es gab damals in Paris und so auch in Lyon Rundreisebillette, welche mit großer Reduktion wohl gar zum halben Preise durch ganz Südfrankreich und Spanien führten. Auf dem ersten Blatt war das Itinerar angegeben, die andern Blätter enthielten leere Fächer, auf denen nur jedesmal am Schalter der Stempel der Station, welche man verließ, aufgedrückt zu werden brauchte.

Wir erwarben zwei dieser Billette, jedes kostete 300 bis 400 Franken, führte dafür aber auch durch alle Teile von Südfrankreich, Spanien und Portugal so vollständig, daß wir manche Partien überspringen mußten, weil unsere Zeit nicht ausreichte,[248] sie abzufahren. Von Lyon führte unser Weg die Rhone hinab über Avignon nach Nîmes, wo das römische Amphitheater besucht wurde, und von dort nach Lourdes, einem Städtchen, welches dem Aberglauben ein unerhört schnelles Aufblühen verdankte. Wir langten gegen Abend an, bestellten Abendessen und durchwanderten, während es bereitet wurde, zwanzig Minuten lang eine ganze Stadt von Logierhäusern, Restaurants und Kaufbuden, welche sich von dem eigentlichen Städtchen bis zu der wunderbaren Grotte und der noch wunderbareren Piszine hinzieht. Dort trafen wir noch am vorgerückten Abend ganze Scharen, um nicht zu sagen Herden von Pilgern, welche, von ihrem Geistlichen angeführt (das Wort ist doppelsinnig), ihren Gebetsübungen oblagen. Noch lebhafter war das Treiben schon in aller Frühe am nächsten Morgen. In der durch ein Gitter abgetrennten Grotte waren Geistliche beschäftigt, die hineingereichten Gegenstände zu weihen, vor der Grotte lagen ganze Scharen auf den Knien, an ihrer Spitze, das Angesicht ihnen zugewendet, kniend mit zum Himmel erhobenen Armen und Blicken, als wenn sie ihn offen sähen, Geistliche; zwischen diesen Gruppen und der Grotte wurden auf Krankenwagen liegend Leidende, Schwerkranke, ja wohl solche vorbeigefahren, bei denen man zweifeln konnte, ob sie noch lebten. Weiter stiegen wir zur Piszine hinab, wo ein frisches Gebirgswasser sprudelte. Wir haben beide davon getrunken, und es hat uns nichts geschadet. Bei der Abfahrt am Mittag war das Kupee von Leuten gefüllt, welche sich über die großen Heilerfolge unterhielten, mit einer solchen Begeisterung, daß wir zu bange waren, ein spöttisches, oder auch nur Unglauben verratendes Gesicht zu machen. Am Abend saßen wir am Ufer der Garonne zu Toulouse, einem Ort, welcher, windig und staubig, keinen angenehmen Eindruck hinterließ.

Biarritz ist das schönste Seebad, welches ich kenne. Schroffe, steile Felsmassen bilden die Umgebung, gegen welche das Meer hoch aufschäumend anbraust; an manchen Stellen muß man sich hüten, auf einem Spaziergange durch die steigende Flut abgeschnitten zu werden. Biarritz hat drei Badeorte: le nouveau port, wo sich das allgemeine Badeleben am Ufer und im Wasser mit französischer Ungeniertheit abspielt, le vieux port, ein geschlossenes[249] Bassin, mit ganz ruhigem Wasser, wo ich allmorgendlich mein Schwimmbad nahm, und la côte des basques mit solchem Wellenschlag, daß ein gewöhnlicher Mensch dort gar nicht baden kann, während die baskische Landbevölkerung sich Sonntags mit Lust in den wild erregten Wassern umhertummelt.

Die Hauptstrecke unseres Billetts lautete auf San Sebastian – Madrid; aber zweimal führte von dort eine Nebenstrecke nordwärts bis zum Atlantischen Ozean und wieder zurück, die erste von Miranda nach Bilbao, die zweite von Baños nach Santander. Folgsam stiegen wir in Miranda aus und dampften in schlechten, engen, vollbesetzten Wagen einer Sekundärbahn sechs Stunden lang nordwärts nach Bilbao.

Unsere nächste Station war Burgos, eine hochgelegene, kühle Stadt mit einigen Sehenswürdigkeiten, die uns nicht lange aufhielten. Mein wichtigstes Geschäft war, mir einen ganz neuen Fahrplan der spanischen Eisenbahn zu kaufen, aus welchem ich meiner Frau klarmachte, daß, wenn wir heute abend Baños erreichten, uns der Nachtschnellzug die weite Strecke bis nach Santander an der Nordküste Spaniens bringen könne, wohin unser Billett führte. Gesagt, getan. Rechtzeitig kamen wir in Baños, einem ganz kleinen Neste, an, mußten aber erfahren, daß kein Nachtzug fuhr, wiewohl er im Fahrplan verzeichnet stand. »El treno es sospeso!« lautete die einfache Erklärung. Also, wenn in Spanien einmal zu wenig Passagiere sind, so wird der Zug suspendiert, mag er im Fahrplan stehen oder nicht. Es blieb nichts anderes übrig, als bis zum andern Morgen um 6 Uhr zu warten. In einer elenden Bretterbude hinter dem Bahnhof verbrachten wir eine durch Lärm und die Furcht uns zu verschlafen verdorbene Nacht, waren aber pünktlich, wenn auch ohne Frühstück, um 6 Uhr auf dem Perron. Eine fröstelnde, von der aufgehenden Sonne beschienene Gesellschaft von zwanzig bis dreißig Personen wartete mit uns auf den Zug, der von hier als Anfangsstation abfahren sollte. Aber kein Zug zeigte sich; vermutlich hatte sich der Zugführer verschlafen. Endlich, nach einer langweiligen Stunde des Wartens, die bei nüchternem Magen stehend auf dem Perron ausgehalten werden mußte, erschien der Zug. Wir fuhren los, waren aber kaum eine Stunde gefahren,[250] als der Zug mitten im freien Felde hielt. »Was ist geschehen?« fragten alle: »La machina es rotta.« Zwei Stunden lagen wir fern von allen Wohnungen fest und mußten es noch als ein Glück ansehen, daß ein menschenfreundlicher Bahnwärter für Geld und gute Worte einige Eier für uns kochte. Endlich ging es weiter auf einer romantischen Strecke über das asturische Gebirge, und am späten Nachmittage waren wir in einem guten Hotel zu Santander untergebracht, einem besuchten Badeorte, wo wir einige Tage verweilten. Jeden Morgen wanderten wir auf der Höhe am Meere entlang zu den Seebädern, und auch am Abend fehlte es nicht an Zerstreuungen. Eine weite Fahrt führte uns von Santander direkt nach Valladolid. Noch nicht vertraut mit den desperaten Eisenbahnverhältnissen Spaniens, hatten wir versäumt, uns mit Proviant zu versehen, und wären unterwegs beinahe verschmachtet, hätte uns nicht ein freundlicher Mitreisender einige Bissen von seinem Mundvorrat und einige Schluck von seinem Wein abgegeben, den man in Spanien nicht in Flaschen, sondern in Schläuchen mit sich führt. Um 2 Uhr nachts langten wir in Valladolid an und mußten einige Tage darauf zur selben Stunde auch abfahren, denn auf vielen Strecken Spaniens gibt es alle vierundzwanzig Stunden nur einen brauchbaren Zug. Die natürliche Folge ist, daß man entweder gar nicht, oder mindestens vierundzwanzig Stunden an einem Orte weilt, und eine weitere Folge besteht darin, daß man, wie im Orient, so auch in Spanien in den Hotels immer die Pension für einen ganzen Tag nimmt, gestehend aus Zimmer mit Bett, frühmorgens Schokolade mit einer großen plumpen Semmel, dem Gabelfrühstück (almuerzo) mit der unfehlbaren tortilla (Omelette) zu Mittag und einem Diner gegen Abend, bei welchem man nie den garbanzos (sehr dicken grünen Erbsen) entgehen kann. Das Fleisch ist oft von sehr zweifelhafter Beschaffenheit; aber noch viel zweifelhafter ist der à discretion zur Verfügung stehende Tischwein. Ich selbst sah mich durch seine Qualität genötigt, ihn mit Wasser zu mischen, was bei mir damals etwas heißen wollte. Für diese ganze Pension nebst Zimmer pflegten zehn Pesetas, damals soviel wie zehn Franken à Person gezahlt zu werden. Viel war für uns auch in Valladolid nicht zu sehen. Nach einem Spaziergang außerhalb[251] der Stadt zu einem vielbesuchten Vergnügungsort mit schöner Aussicht auf das Gebirge bestiegen wir den Nachtzug nach Madrid.

Es war gerade Sonntag, und alles in der Stadt war in Bewegung, da am Nachmittag um 3 Uhr ein großes Galastiergefecht stattfinden sollte. Überall wurden Zeitungen angeboten mit Beschreibungen und Abbildungen der acht Stiere, welche heute getötet werden sollten, und der wichtigsten Matadore, welche hierbei aufzutreten bestimmt waren. Obgleich der Zirkus, die amphitheatralisch aufsteigende und nach oben offene Corrida de Toras 12000 Menschen faßt, waren Billette doch nur noch mit Aufgeld zu haben, wobei die Billette al sol erheblich, vielleicht um die Hälfte billiger sind als die al ombra, freilich für einen Nordländer, bei der glühenden Sonne des Südens, gar nicht in Betracht kommen. Am Nachmittag ergoß sich eine wahre Völkerwanderung zu Fuß, zu Wagen, zu Pferde zum Zirkus hin. In der Mitte befand sich die Arena, wohlweislich von einer doppelten Barriere umgeben, denn es kommt öfter vor, daß der Stier die erste Barriere überspringt, dann aber sofort dadurch, daß eine Tür sich schließt und eine andere nach der Arena zu sich öffnet, in diese zurückgetrieben wird. Die auf dem Programm stehenden Stierkämpfe sind acht aufeinanderfolgende Dramen, jedes von zwanzig Minuten, deren Held der Stier ist. Jedes dieser Dramen besteht aus drei Akten, welche durch die Namen Picadores, Banderilleros und Espada bezeichnet werden. Ein Tor öffnet sich und herein galoppiert der Stier, ein Sinnbild unbändiger Lebenslust, aufgeregt durch die mit roten Tüchern ihn umschwärmenden Matadores und die glänzende und lärmende Versammlung auf den Tribünen. Ihm treten zuerst die Picadores entgegen; sie sind zu Pferde, mit langen Lanzen, die Beine durch Schienen geschützt. Die Pferde sind meist alte Klepper, das dem Stier zugewandte Auge ist verbunden. Der Stier erblickt die zwei oder drei glänzenden Reiter zu Pferde und stürzt auf einen derselben los. Dieser hält ihm seine Lanze entgegen, durch deren Stich der Stier eine Wunde im Nacken davonträgt. Wütend stürzt er sich auf das Pferd und bohrt seine Hörner in dessen Bauch ein. Ist die Wunde nicht schlimm, so wird sie mit Stroh[252] verstopft und das Pferd abgeführt, um am nächsten Sonntag nochmals zu dienen. Häufig aber reißt der Stier dem Pferde den ganzen Bauch auf, die Eingeweide schlottern herunter, ein breiter Blutstrom färbt den Sand der Arena, das Pferd macht noch zwei strauchelnde Schritte und bricht zusammen. Eilig sucht der Picador mit Hilfe der herumschwärmenden Gesellen aus dem Sattel zu kommen, ehe der Stier ihn erreicht. Wiederholt habe ich auch gesehen, wie der Stier mit mächtigem Anlauf Roß und Reiter umstürzt, mit großer Gefahr für den letzteren, so sehr man auch bemüht ist, das Tier von ihm abzulenken. Mancher Picador hat dabei sein Leben lassen müssen und konnte dann kein ehrliches Begräbnis haben; neuerdings aber pflegt man einen Geistlichen bei der Hand zu haben, der dem Sterbenden schnell die letzte Ölung erteilt, worauf dann alles in Ordnung ist. Einen Unfall von Menschen habe ich nicht erlebt, aber ein paar Pferde werden in der Regel von jedem Stier getötet und bleiben zunächst in der Arena liegen. Alle alten Pferde in Spanien sterben den Tod im Stiergefecht; es ist nicht gerade ein Heldentod, aber doch noch ein erträglicheres Schicksal, als es bei uns alten Pferden zuteil wird, wenn sie von Stufe zu Stufe heruntergekommen sind und ihnen, die früher glorreiche Zeiten gesehen hatten, bei der Arbeit, die Erde aus einer Baugrube zu schleppen, das letzte Mark aus ihren armen, alten Knochen herausgepeitscht wird.

Im zweiten Akte treten die Banderilleros auf, kräftige, gewandte Burschen, so genannt nach den Banderillos, zwei meterlangen Stäben, die sie in Händen halten, mit Bändern und Blumen umwunden und an der Spitze mit scharfen Widerhaken versehen. Ihre Aufgabe ist, dem Stier die Banderillos, womöglich beide gleichzeitig in den Nacken zu stoßen und schnell durch einen Seitensprung sich in Sicherheit zu bringen, während der Stier vergeblich bemüht ist, die durch ihre Widerhaken sich nur noch tiefer einbohrenden Banderillos abzuschütteln. Einige Male sah ich, wie ein Banderillero, indem er die Banderillos dem Stier in den Nacken stieß, nicht zur Seite sprang, sondern, sich auf die eingebohrten Banderillos stützend, zwischen ihnen durch über den Stier in seiner ganzen Länge hinwegsetzte, eine Heldentat, welche von den Tribünen mit frenetischem Jubel begrüßt wird. Inzwischen[253] fängt der Stier an, schon etwas müde zu werden; auf beiden Seiten des Nackens hängen drei bis vier Banderillos herunter. Ein starker Blutstrom rinnt von ihnen herab, und das alles glänzt in der reinen Madrider Luft, als wäre es mit Firnis überzogen.

Es folgt der dritte Akt. Ein einzelner Mann, nur mit einem Degen bewaffnet, tritt dem schon ruhiger werdenden Tiere entgegen; alle seine Bewegungen werden von der Tribüne mit höchster Spannung verfolgt. Einige Zeit spielt er mit dem Stier, wirft mit dem Degen einen der herabhängenden Banderillos von der einen Seite auf die andere herüber und dergleichen, immer mit größter Vorsicht den gelegentlichen Wutanfällen des Tieres ausweichend. Endlich nimmt er einen günstigen Augenblick wahr und bohrt mit einem wohlgezielten Stich den Degen durch den Nacken des Stieres bis ins Herz hinein. Mißlingt der Stich einmal, so wird der Kämpfer von allen Seiten beschimpft und verspottet, gelingt er aber, dann quellen die Augen des Stieres heraus, die Zunge tritt hervor, er klappt seine Beine zusammen und liegt tot im Sande. Jetzt kennt die Begeisterung keine Grenzen mehr. Unter dröhnendem Applaus werfen die Herren ihre Hüte, die Damen ihre Fächer in die Arena, welche der glückliche Sieger dankend zurückwirft. Zu seinen Füßen liegt der tote Stier und in der Nähe die vorher von ihm getöteten Pferde. Ein Tor öffnet sich; unter Schellengeklingel jagt ein Viergespann von Rossen in die Arena mit einer Schleife hinter sich. An dieser wird ein Pferd nach dem andern befestigt und weggeschleift. Zuletzt auch der Stier, während Diener geschäftig sind, den Sandboden der Arena zu glätten und die Blutspuren zu tilgen; und in demselben Augenblicke, wo der Körper des Stieres von vier Rossen geschleift durch das Tor verschwindet, öffnet sich an der entgegengesetzten Seite ein anderes Tor, ein neuer Stier stürmt herein und dasselbe Drama wiederholt sich. Wegen hereinbrechender Dunkelheit wurden bei unserer Vorstellung von den acht Stieren nur sieben abgetan, meine Frau konnte schon lange nicht mehr hinsehen; ich hielt vier Tötungen aus; dann hatte auch ich genug und wir verließen den Zirkus. Anders die Spanier. Sie verfolgen mit technischem Verständnisse jede Wendung des[254] Kampfes, und am nächsten Tage werden in spaltenlangen Zeitungsartikeln alle Finten des Stieres und seiner Bekämpfer beschrieben und eifrig diskutiert.

Die berühmten Matadore stehen etwa auf derselben Stufe wie bei uns die Jockeis und Zirkushelden; man wird keine Neigung spüren, ihnen näherzutreten, vom Volke werden sie vergöttert. –

Madrid hat bei seiner hohen Lage in der Mitte eines größeren Kontinentes eine ganz eigentümliche, sehr reine und sehr trockene Luft; man sieht viel besser in die Ferne als an andern Orten, aber beim Atmen hat man mitunter das Gefühl eines Fisches, der aufs Trockene gebracht ist; man muß zweimal tief aufatmen, um den Ansprüchen der Lungen zu genügen. Im Winter soll das Klima, namentlich für den Nordländer, geradezu gefährlich sein, und ein spanisches Sprichwort sagt: El aire de Madrid es tan sútil que mata a un hombre y no apaga un candil, Die Luft von Madrid ist so fein, daß sie einen Menschen tötet und ein Licht nicht auslöscht.

Ich konnte mich von der Wahrheit des Spruches überzeugen, indem ich eine brennende Kerze auf unsern Balkon setzte, welche von dem Luftzug nicht ausgeweht wurde.

Nur aus der Ferne haben wir vom Königsschlosse aus in der Tiefe den Manzanares gesehen, häufiger besuchten wir das Museo Real mit seinen herrlichen Bildern von Murillo und Velasquez. Ein besonders interessanter Ausflug führt mit der Bahn über das Lustschloß zu Aranjuez nach Toledo, einer merkwürdige Altertümer einschließenden Stadt, welche auf der Höhe liegt und auf drei Seiten vom Tajo umflossen wird. An den Bauten dieser Stadt hat man oft nebeneinandergebaut, es gibt Häuser und Paläste von altrömischer, westgotischer, arabischer und modern-spanischer Architektur.

Eine lange, ermüdende Fahrt führte uns von Madrid direkt nach Lissabon. Ein deutscher Schnellzug würde die Strecke leicht in zwölf Stunden zurückgelegt haben; unser Zug gebrauchte dazu von 9 Uhr morgens, durch zufällige Verzögerungen aufgehalten, den ganzen Tag und die Nacht, so daß wir erst um 6 Uhr früh in Lissabon einliefen. Die durchfahrene Strecke war nur teilweise[255] interessant. Wo die Bewässerung nicht ausreicht, da hat man in Spanien wie auch in andern Ländern des Südens nur felsigen Boden oder dürres Heideland. Gelegentlich hingegen durchfuhren wir unabsehbar sich ausdehnende Waldungen von Ölbäumen. Das spanische Olivenöl steht freilich hinter dem italienischen erheblich zurück, da man in Spanien mehr Wert auf die Quantität als auf die Qualität des Olivenöls legt.

In Lissabon fanden wir Unterkunft in dem kleinen, aber behaglichen Hotel Marius. Nachdem wir abgelegt hatten, zog es uns in der herrlichen Morgenfrühe ins Freie, und wir bestiegen eine Pferdebahn, um auf ihr zu einer benachbarten Anhöhe zu gelangen. Ich wollte statt in den portugiesischen Milreis in spanischen Pesetas und Centesimos bezahlen. Dieses wurde vom Schaffner mit Entschiedenheit abgelehnt; und es blieb uns nichts anderes übrig, als wieder abzusteigen. Das portugiesische Geld läßt die spanischen Sovereigns und Half-Sovereigns als vollgültiges, zum festen Kurse angenommenes Zahlungsmittel zu, nicht aber die Münzen des nächsten Bruderlandes, wie denn überhaupt zwischen Spaniern und Portugiesen keine sonderlich freundschaftlichen Beziehungen zu bestehen schienen. Die Sprachen sind so nahe verwandt, daß ich eine portugiesische Zeitung ohne weiteres lesen konnte; aber die Aussprache des Portugiesischen ist nicht so rein und klar wie die spanische, sondern durch Zischlaute und Nasenlaute dermaßen entstellt, daß ich nur wenig davon verstehen konnte. Bei der langen Nachtfahrt war ein alter Herr zu uns eingetreten, mit welchem ich ein Gespräch anknüpfte. Er wollte über Bismarck und ähnliche Themata das Nähere erfahren, da er aber nur portugiesisch sprach und ich nur spanisch, so mußten wir es aufgeben, uns zu verständigen. Ähnlich erging es mir zu Lissabon auf dem Markte, wo ich mich über Früchte von einer nie gesehenen Größe, es werden Kürbisse gewesen sein, unterrichten wollte, aber nur einen Heiterkeitserfolg erreichte, da die bäurischen Verkäuferinnen, denen noch nie ein Mensch vorgekommen sein mochte, der kein Portugiesisch verstand, bei meinen vergeblichen Versuchen, mich verständlich zu machen, jubelnd einander zuriefen: »No entiende!« und sich vor Lachen ausschütten wollten.[256]

Unsern kurzen Besuch in Lissabon benutzten wir, um zu der Wasserleitung hinaufzusteigen, von wo man eine herrliche Fernsicht genießt, so ähnlich der Wasserleitung auf der Höhe vor Christiania, daß die Erinnerungen an beide sich bei mir untrennbar verflochten und gegenseitig vermischt haben. Bei der Rückkehr durch die Stadt bemerkte ich eine ehemalige Kirche, welche von dem Erdbeben des Jahres 1755 her noch heute in Trümmern liegt, sei es, um das Andenken an jene Katastrophe zu erhalten, sei es aus Armut oder Nachlässigkeit, an welchen in Portugal trotz seines natürlichen Reichtums kein Mangel ist. Im allgemeinen ist allerdings alles, die Hotels, die Eisenbahnen, das Essen und der Wein und vieles andere, in Portugal merklich besser als in Spanien, dadurch aber um ein gutes Teil weniger charakteristisch und interessant. Der Gegensatz beider Länder scheint ein ähnlicher zu sein, wie der zwischen Japan und China, von denen ich mir allerdings nur eine Vorstellung machen kann nach den Personen aus beiden Ländern, die mir gelegentlich im Leben begegnet sind.

Der Zug von Lissabon führte uns über die Universitätsstadt Coimbra, deren Studenten nicht wie bei uns durch Mützen, sondern dadurch kenntlich sind, daß sie ohne Kopfbedeckung gehen, nach der großen und reichen Stadt Porto, welche sich auf beiden Ufern, namentlich dem nördlichen, des tief unten fließenden Duero erstreckt. Eine Eisenbahnbrücke führt im kühnen Bogen über das Flußtal, von welcher aus man unten in der Tiefe Straßen, Wagen und Fußgänger wie ein Ameisengewimmel erblickt.

Besonders interessant war es, unter Führung des jungen Otto Burmester, eines dort ansässigen Verwandten meiner Frau, die der Familie gehörigen Lager von Portwein zu besuchen, welcher nicht in Kellern, sondern in Schuppen auf der der Sonne weniger ausgesetzten Südseite von Porto aufgestapelt liegt. Wir stiegen das steile Ufer zum Duro hinab, setzten in einem Kahn über und gelangten auf der andern Seite zu den Portweinschuppen. Unterwegs erfuhren wir, daß der Portwein, um haltbarer zu sein, mit Alkohol versetzt werden muß, daß aber dieser Alkohol durch Destillation von Wein gewonnen wird, da Weintrauben in ungeheurem Überflusse in der Gegend oberhalb Porto wachsen.[257] Unser junger Freund ermahnte uns, beim Probieren der verschiedenen Weinsorten vorsichtig zu sein. »Manch einer,« sagte er, »wenn er nachher wieder ins Freie tritt, ist nicht mehr imstande, den Weg nach Hause zu finden. Nehmen Sie den Wein in den Mund, um seinen Geschmack zu haben, aber schlucken Sie ihn nicht herunter, sondern spucken Sie ihn aus!« Und so führte er uns von Faß zu Faß, zu immer edleren Sorten, solchen mit einem Stern, zwei Sternen, drei Sternen, von denen eine Flasche in Porto selbst schon fünf Franken kostet. »Von diesem«, meinte Otto Burmester, »können Sie schon einmal etwas reichlicher trinken.« In sehr animierter Stimmung kehrten wir in die Stadt zurück.

Dieser Otto Burmester, das jüngste Mitglied einer zahlreichen Familie, liebte eine junge Portugiesin, schön, reich und aus einer angesehenen Hidalgofamilie, konnte auch ihre Hand erlangen, aber nur unter der Bedingung, daß er vom Protestantismus, dem die übrige Familie angehörte, zum Katholizismus übertrat. Dieser Fall wurde gerade damals in der Familie lebhaft diskutiert, und Fräulein Elisabeth, Tochter eines Malers in Kassel, die gerade in Porto auf Besuch weilte, fand es empörend, daß ihr Cousin um äußerer Vorteile willen seinen Glauben wechseln wollte. Ich war anderer Meinung. Diese Mitglieder einer kleinen deutschen Kolonie in einem fremden fernen Lande können es nicht vermeiden, mit der portugiesischen Bevölkerung nach und nach zu verwachsen, und wenn sie bei der Wahl einer Gattin auf den eigenen engen Kreis oder auf unzulänglich bekannte Personen aus der deutschen Heimat beschränkt bleiben sollen, so entstehen daraus größere Mißverhältnisse, als durch den Übertritt von einer christlichen Konfession zur andern. Man begegnet häufig der Meinung, daß ein Wechsel der Konfession aus äußeren materiellen Gründen verwerflich, geschieht er aber aus Überzeugung, zu billigen sei. Ich bin gerade der entgegengesetzten Ansicht. Wer aus vermeintlicher Überzeugung seine Religion wechselt, der kann mir leid tun, denn er klebt an der Außenfläche, da nur auf dieser die konfessionellen Unterschiede beruhen. Wenn aber jemand, um wertvolle Erfolge zu erlangen, genötigt ist, die Schale, in welcher der für alle Menschen identische Kern der Religion eingebettet ist, mit einer andern Schale,[258] mag sie nun etwas mehr oder weniger unvollkommen sein – unvollkommen sind sie alle –, vertauscht, dem kann ich dies, wie es zum Beispiel der Fall bei Winckelmann war, durchaus nicht verdenken. Ähnlich stand es auch mit Otto Burmester. Er ist übergetreten, hat seine Hidalgotochter geheiratet und ist, soviel ich weiß, mit ihr sehr glücklich geworden.

Wir fuhren dann durch Portugal und einen großen Teil Spaniens bis nach Cordoba, dem Geburtsorte des Philosophen Seneca, an welchem noch heute eine der berühmtesten mohammedanischen Moscheen die größte Sehenswürdigkeit bildet. Ein Wald von mehr als hundert Säulen trägt die nicht sehr hohe Decke dieses in schönster islamischer Architektur ausgeführten Gebäudes, das vollständig erhalten ist bis auf den innersten, allerheiligsten Raum, in dem Karl V. gestattet hatte, eine christliche Kirche einzubauen. Als er später sah, was man hier angerichtet hatte, soll er gesagt haben: »Ihr habt hier gebaut, was ihr oder jeder andere hier oder überall hätte bauen können, und ihr habt zerstört, was nie wieder hergestellt werden kann.« In Cordoba versäumten wir auch nicht, die Brücke über den schon hier ansehnlichen Guadalquivir zu besuchen und freuten uns darauf, diesem Hauptflusse des südlichen Spaniens später noch einmal in mächtiger Entfaltung in Sevilla begegnen zu dürfen. Vorher aber führte uns unser Billett nach Granada, das nach Reichtum und Schönheit der Natur den Glanzpunkt der ganzen Reise bildete. Die Stadt selbst ist groß und allem Anschein nach sehr wohlhabend, aber nirgendwo in Spanien ist die Bettelei so entwickelt wie hier; ich erinnere mich, wie wir beim Überschreiten eines größeren Platzes, der zu unserm Hotel führte, nicht weniger als fünfmal unterwegs angebettelt wurden. In diesem Hotel verbrachten wir eine sehr unruhige Nacht, nicht nur, daß man von der Straße her bis tief in die Nacht hinein das Klappern der Kastagnetten anhören mußte, als dieses endlich verstummte, hatte sich eine Gesellschaft von Katzen auf dem Boden über uns zusammengefunden. Ihr greuliches Gemaue hatte den Hausknecht geweckt, der nun über unsern Köpfen polternd und fluchend eine Jagd nach den Katzen unternahm, so daß wir bis gegen Morgen keine Ruhe fanden; und noch oft habe ich an dieses »Nachtlager[259] von Granada« mit Katzenmusik zurückdenken müssen. Um so herrlicher war der Spaziergang, den wir am nächsten Morgen zu der eine halbe Stunde von der Stadt entfernten Alhambra hinauf unternahmen. Hier, wo von den Schneebergen im Süden unaufhörlich Wasser herabrieselt, hat sich eine in üppigster Fülle prangende Vegetation entwickelt. Ich weiß nicht, was ich mehr rühmen soll: die wohlerhaltenen, glänzend weißen, bunt verzierten Bauten mit ihren Türmen und Toren, Bädern, Hallen und Gängen, oder die herrliche Umgebung, auf der einen Seite in der Tiefe die reiche blühende Stadt, auf der andern die Sierra Nevada, die »beschneite Säge«, die mit ihren schneebedeckten Berggipfeln und Hörnern in den dunkelblauen Himmel hinaufragt. Unter den vier schönsten Ansichten, die ich in meinem Leben genossen habe, nimmt neben Akrokorinth, Taormina und Neapel die Aussicht von der Alhambra aus eine ebenbürtige Stelle ein.

Am 17. Oktober führte uns der Zug von Granada nach Sevilla. Nach Granada machte es trotz der großen Kathedrale, die übrigens wegen Reparaturen nur wenig zugänglich war, keinen so großen Eindruck, wie ich ihn von der Berühmtheit des Namens erwartet hatte; doch gab es hier manch merkwürdige Dinge zu sehen. Wir versäumten nicht, der großen, durch Carmen weltberühmt gewordenen Zigarettenfabrik unsern Besuch abzustatten. In einem unabsehbar großen Saale, zu dem man durch ein kleines Geschenk leicht Zutritt erhält, saßen Hunderte von jungen Weibern in lustigstem Gespräche mit Zigarettendrehen beschäftigt, während zu ihren Füßen im Tabakstaub die zugehörigen Babys spielten. Von allen Seiten wurden wir beobachtet und angeulkt. So streckte mir ein junges Weib die Hand entgegen, ich aber, statt ein paar Centesimos hineinzulegen, schüttelte ihr die Hand wie zum Gruße, was dann als ein guter Witz aufgenommen und mit schallendem Gelächter belohnt wurde. Die Kehrseite und das notwendige Ergänzungsstück zu dieser großen Zigarettenfabrik bildet la Cuna, das große Findelhaus in der etwas entlegenen Calle de la Cuna. In einer hohen Mauer, welche das Findelhaus von der Straße abschließt, befindet sich eine kleine Nische, in dieser ein drehbares Polsterbettchen, nach der[260] einen Seite offen, nach der andern geschlossen. Ein Weib, welches sein Kindchen loswerden will, braucht nur die offene Seite nach außen zu drehen, den Säugling auf das Polster zu legen und das Ganze so umzudrehen, daß es nach der Straße geschlossen, nach innen offen ist; durch das Gewicht des Kindes wird eine elektrische Klingel in Tätigkeit gesetzt, das Kind wird abgeholt, ohne daß die Mutter befragt oder auch nur gesehen werden kann.

Um auch die inneren Einrichtungen zu sehen, begaben wir uns am nächsten Morgen früh in das Findelhaus, wo in einem großen Saale in hängenden Wiegen wohl fünfzig Babys sich befanden. Einige waren eben erwacht, weckten durch ihr Geschrei die übrigen und es gab ein ohrenzerreißendes Konzert. Man führte uns in einen andern Raum, wo man mit Selbstgefühl die schönen Kleider zeigte, die für die heranwachsenden Kinder bestimmt sind; auch von diesen sahen wir eine Anzahl, aber sie sahen nicht sehr glücklich aus.

Die Straßen von Sevilla machen trotz der zahlreichen Bevölkerung oft einen öden Eindruck, da die Häuser ähnlich wie im Altertum nach außen, um die Hitze abzuwehren, keine Fenster, sondern nur eine Tür haben, während die Fenster sich nach dem vom Gebäude umschlossenen Hofraume öffnen.

Da unsere Zeit gemessen war, so mußten wir die ungeheure Strecke von Sevilla im Südwesten bis Barcelona im Nordwesten Spaniens ohne Unterbrechung zurücklegen. Ein Nachtzug führte uns von dort über die Grenze und weiter nach Norden bis Paris, wo wir am späten Abend ankamen und am andern Morgen sogleich weiter über Aachen und Hüsten nach Berlin fuhren, um rechtzeitig zum Anfange der Vorlesungen des Wintersemesters einzutreffen.

Am Morgen nach meiner Ankunft war mein erster Gang nach der Universität, um alles vorzubereiten. Am Brandenburger Tor begegnete mir Freund Althoff. »Nun,« sprach er, »was machen die Vorlesungen?« – »Sie werden morgen beginnen, Herr Geheimrat.« – »Donnerwetter, sie sollten am 15. beginnen, und wir haben schon den 30.« – »Aber alle fangen doch jetzt erst an.« – »Ja, ja, ich weiß wohl, sie machen es alle so, und ich werde[261] wohl wieder einmal ein Nötchen ergehen lassen müssen.« – Damit verließ er mich, ich aber dachte bei mir und denke noch heute, daß ein solches Nötchen sich richtiger an die Adresse der Studenten wenden sollte. Solange diesen nicht auferlegt wird, bis zu einem bestimmten Tage zu belegen, kann man nicht erwarten, daß sie lange vor diesem Termin eintreffen. Es ist aber nicht nur für den Dozenten peinlich, sondern auch für die Zuhörer sehr nachteilig, wenn die ersten, oft grundlegenden Vorlesungsstunden vor halb leeren Bänken abgehalten werden müssen. Ebenso bedauerlich und nur aus einer unglaublichen Kopflosigkeit des Ministeriums wie der Dozenten ist es mir erklärlich, daß neuerdings das Abtestieren am Schlusse der Vorlesungen abgeschafft worden ist. Der Geist ist ja willig, aber das Fleisch ist schwach, und vielen Studenten genügt der geringste Anlaß, mag es sich um den Geburtstag der Großmutter oder um die Verlobung einer Kusine handeln, vor dem Schlusse der Vorlesung, in der man noch so manches ans Herz zu legen hätte, zu verschwinden.

Das Wintersemester verlief wie sonst. Am 2. März aber erhielt ich aus Kiel einen Brief von Glogau, welcher mir mitteilte, daß ich für die durch Krohns Tod erledigte ordentliche Professur an erster Stelle vorgeschlagen sei. Die Sache freute mich als Zeichen der Anerkennung, aber ich dachte nicht entfernt daran, mein geliebtes Berlin zu verlassen und einem Rufe in die Provinz Folge zu leisten. Ich besprach die Sache mit Zeller und setzte ihm auseinander, wie für meine Sanskritstudien und literarischen Pläne Berlin der weitaus geeignetste Ort sei. Er erklärte, meine Bedenken gegen eine Versetzung vollkommen zu würdigen, fügte aber hinzu, daß die Annahme einer derartigen Proposition, wenn sie sich biete, der beste Weg sei, um in der Karriere weiterzukommen. Bald beschied mich auch Althoff ins Ministerium und machte mir den verlockenden Vorschlag, mit einem Anfangsgehalt von 4200 Mark nach Kiel zu gehen. Nachdem ich ihm meine Gründe, den Ruf abzulehnen, dargelegt hatte, fragte er mich, welchen von den beiden andern Vorgeschlagenen, Rehmke in Greifswald oder Natorp in Marburg, ich für den Geeigneteren halte. Ich erklärte, darüber nicht ausreichend informiert zu sein, versprach aber, die Frage zu studieren und ihm[262] ein schriftliches Gutachten darüber einzureichen. Ich verschaffte mir sogleich Rehmkes Buch mit dem von Schopenhauer erborgten Titel: »Die Welt als Wahrnehmung und Begriff«, sowie Natorps Schrift über Descartes, und verfaßte ein ausführliches Gutachten, in welchem ich erklärte, daß beide für die Stelle geeignet seien.

Wir traten unsere Osterreise an, die uns nach Naumburg führte, wo im Hause der Mutter Nietzsche große Trauer herrschte, da zu Anfang des Jahres Nietzsche infolge der unnatürlichen Lebensweise, ver bunden mit übermäßigen geistigen Anstrengungen, in Turin plötzlich geistiger Umnachtung verfallen war.

Sein Freund Overbeck hatte ihn dort abgeholt und zunächst nach Naumburg in das Haus der Mutter gebracht. Täglich führte diese ihn an ihrem Arm spazieren; und da meine Ankunft gemeldet war, kam sie mit dem Sohn zum Bahnhof, um mich abzuholen. Während meine Frau mit Frau Pastor Nietzsche ging, faßte ich den Arm des Freundes, und er ließ es sich gefallen. Unterwegs brachte ich das Gespräch auf allerlei Themata, so auf Schopenhauer. Mit heiserer, stockender Stimme sagte er in einem Tone, als wenn er die größte Wahrheit verkündigte: »Arthur Schopenhauer ist in Danzig geboren.« Ich erzählte von unserer spanischen Reise. »Spanien,« rief er, »da war ja auch der Deussen.« – »Ich bin ja der Deussen«, erwiderte ich. Er sah mich verständnislos an. Er fühlte, daß ein Freund an seinem Arme ging, er hatte auch in abstracto die Erinnerung an seinen Freund Deussen behalten, aber er konnte beides nicht mehr zusammenbringen. Bei einem späteren Besuch war Nietzsche schon der Anstalt von Binswanger in Jena übergeben worden. Auf Wunsch der Mutter reiste ich dorthin, wurde aber nicht zu ihm gelassen, sondern nur von dem behandelnden Arzt empfangen und über seinen Zustand unterrichtet. Noch einmal habe ich ihn am 15. Oktober 1894, an seinem 50. Geburtstag, in Naumburg, wohin er als unheilbar zurückgebracht worden war, besucht. Er saß dort still und teilnahmslos ohne jemanden zu beachten, nur die mitgebrachten Blumen erregten für kurze Zeit sein Interesse, und der ihm vorgelegte Kuchen wurde gierig verzehrt.

Der Anfang des Jahres 1889 hatte für die Familie Nietzsche neben der Erkrankung des Sohnes fast gleichzeitig ein zweites[263] Unglück herbeigeführt, indem die Schwester Elisabeth, welche ich schon von Pforta aus als interessantes, lebhaftes, höchst anmutiges Mädchen von siebzehn Jahren kennengelernt hatte, von einem plötzlichen Ruin ihrer Existenz betroffen wurde. Als siebenunddreißigjähriges Mädchen hatte sie den durch seinen exzentrischen Antisemitismus bekannten Dr. Bernhard Förster geheiratet, um als seine Gattin, gefolgt von einer Schar deutscher Kolonisten, der von Förster in Paraguay gegründeten deutschen Kolonie Nueva Germania vorzustehen. Beide kamen bei ihrer Abreise nach Amerika, Ostern 1886 nach Berlin, Förster im strengen Inkognito, da er allerlei Beleidigungen gegen Minister und andere staatliche Würdenträger auf dem Kerbholz hatte. Die Kolonie nahm einen glänzenden Anfang; Eli Förster-Nietzsches Briefe, welche, wenn ich die Mutter in Naumburg besuchte, vorgelesen wurden, wußten nicht genug zu erzählen von der arbeitsreichen, aber hoffnungsvollen Kolonie, von deren Mitgliedern sie und ihr Gatte wie König und Königin verehrt wurden. Ich freute mich dann dieser Nachrichten, mußte aber im stillen diese Kolonie mit einem Pflänzchen vergleichen, welches in einen fremden Boden versetzt wird, und von dem man mit teilnehmender Spannung abwartet, ob es emporblühen oder hinwelken und zugrunde gehen wird. Leider war nach kaum drei Jahren das letztere eingetreten. Dr. Förster, überaus rührig und energisch wie er war, hatte, von einem anstrengenden Ritte erhitzt, ein Bad im Flusse genommen, wobei ein Herzschlag seinem Leben ein Ende machte. Mit getäuschten Hoffnungen, wie eine Schiffbrüchige, kehrte Eli in die Heimat zurück, gerade um die Zeit, wo der Bruder einer unheilbaren Geisteskrankheit verfallen war.

Aber ungebrochen durch diese beiden Schicksalsschläge, wußte sie sich eine neue und schöne Lebensaufgabe zu gestalten, indem sie mit der ihr eigenen Energie sich der Herausgabe der Werke und des Nachlasses ihres Bruders widmete, wie auch dessen Leben beschrieb, wovon später noch zu reden sein wird.

Von Naumburg hatte Ostern 1889 unsere Reise über Marburg und Frankfurt nach Wiesbaden geführt, wo mein Schwager Franz zur Erholung in einem Sanatorium weilte; dann waren wir zum Besuche von Verwandten und Freunden über Kreuznach[264] und Trier nach Aachen, Heinsberg, Sonnborn und Hüsten gefahren und von dort zu den Vorlesungen wohlbehalten wieder in Berlin eingetroffen.

Am Montag, dem 16. Juni, kehrten wir von einer Pfingstreise zur Pariser Weltausstellung nach Berlin zurück, und ich erfuhr mit einem gelinden Schreck, daß Althoff mich schon auf den Tag nach dem Pfingstfeste ins Ministerium beschieden habe. Sofort nach der Vorlesung am folgenden Tage stürzte ich dorthin und entschuldigte mich bei dem Gewaltigen damit, daß ich verreist gewesen sei. Er war, wie gewöhnlich, sehr aufgeregt und geradeheraus, ohne daß es darum eben bösgemeint gewesen wäre. »Sie waren verreist?« sprach er, »hatten Sie denn Urlaub?« – »Ja, muß man denn Urlaub haben, um zu Pfingsten zu verreisen?« – »Nun, Sie werden es noch erleben, daß ignorantia legis nocet! Also, warum wollen Sie nicht nach Kiel gehen?« – Ich setzte ihm meine Gründe nochmals auseinander, aber er polterte heraus: »Alle wollen sie in Berlin bleiben, Paulsen will nicht weg, nun wollen auch Sie nicht weg! Wenn Sie nicht nach Kiel gehen, so werden wir Sie schlecht behandeln, Ihnen Ihre Remuneration entziehen und dergleichen!« – »Ja, Herr Geheimrat, wenn Sie mich zwingen, so werde ich freilich hingehen müssen.« – »Wer zwingt Sie!« rief er zornig aus. – »Nun, Sie sagen ja, Sie wollten mir meine Remuneration entziehen.« – »Ach was«, sagte er, und machte eine Handbewegung, welche besagen sollte, daß dies nicht ernst gemeint gewesen sei. – »Wenn Sie denn nicht nach Kiel gehen wollen, welchen von den beiden außer Ihnen Vorgeschlagenen bringen wir dorthin, Rehmke oder Natorp, welcher ist der Geeignetere?« – »Herr Geheimrat,« versetzte ich, »ich hatte Ihnen ja über beide ein ausführliches schriftliches Gutachten eingereicht.« – »Ach, was weiß ich noch, was Sie geschrieben haben, also wie beurteilen Sie die Sache?« – Ich wiederholte kurz mein Urteil, und er entließ mich mit den Worten, daß er zunächst noch einmal Glogau aus Kiel kommen lassen wolle, um diesen zu hören.

Einige Tage darauf kam Glogau nach Berlin. Ich empfing ihn am Bahnhof, lud ihn in mein Haus ein und freundete mich mit ihm in jeder Weise an. Die rauhen Seiten seiner[265] ostpreußischen, treuen, aber kratzbürstigen Natur traten damals nicht im Verkehr mit mir, sondern nur gegenüber Althoff hervor, der sich denn auch später einmal bei mir ebensosehr über Glogau beklagte, wie Glogau über ihn. In eingehender Weise schilderte mir Glogau die Verhältnisse der Kieler Universität und stellte sie in so rosigem Lichte dar, daß ich anfing, Lust zu bekommen. Meine Wissenschaft, sagte ich mir, kann ich, da meine Aufgabe nicht in dem Frondienste des Herausgebens unedierter Manuskripte besteht, ebensogut wie in Berlin auch in Kiel betreiben, ja noch besser, da dort alle Ablenkungen der Großstadt wegfallen, die provinzialen Freuden der Geselligkeit und öffentlicher Vergnügungen meinen durch so viele Erlebnisse verwöhnten Geschmack nicht sonderlich reizen werden, und man viel wird arbeiten können, schon, weil man nicht viel mehr als arbeiten kann. Dann muß ich gestehen, daß auch der Eindruck, den der Besuch der Sommervorlesung auf mich machte, mir den schweren Entschluß wesentlich erleichterte. Es ist doch elend, sagte ich mir, all sein bestes Können einzusetzen und dann erleben zu müssen, daß der Vorlesungsbesuch eines einfachen Extraordinarius, der ich war, ohne Berechtigung zum Mitwirken im Staatsexamen und Doktorexamen, merklich zurückgeht, sobald ein neuer Ordinarius von dem Namen eines Harnack in die Universität eintritt. Es ist doch nicht übel, dachte ich, aus der Klasse der Beherrschten in die der Herrschenden überzutreten, sowenig auch das bißchen Herrschaft, welches Fakultäten und Konsistorien sich zu erhalten gewußt haben, in dem Bereiche meiner Prätensionen liegt, welche ihre Befriedigung auf einem ganz andern Gebiete suchen.

Der August des Jahres 1889 war gekommen; wir verzichteten auf eine größere Reise, schon weil ich im September den Orientalistenkongreß in Stockholm und Christiania zu besuchen gedachte, und fuhren nach Kiel. Hier stiegen wir für drei Wochen im Hotel Bellevue ab, genossen den angenehmen Umgang mit Professor Glogau sowie mit dem gleichfalls zu Bellevue in der Sommerfrische weilenden Onkel meiner Frau, Kammergerichtsrat Volkmar nebst Familie, und sahen uns nach einer passenden Wohnung um. Wir mieteten den ersten Stock im Hause Hohenbergstraße 11, nachdem der Besitzer mir versprochen hatte, für ruhige[266] Verhältnisse zu sorgen, ein Versprechen, welches so schlecht gehalten wurde, daß ich halb aus Verzweiflung ein Jahr später mich entschloß, ein eigenes Haus zu kaufen.

Nachdem wir in Kiel alles für unsere Übersiedelung vorbereitet hatten, kehrten wir auf dem Umwege über Hüsten nach Berlin zurück, und ich rüstete mich zum Besuch des Orientalistenkongresses.

Die Orientalistenkongresse, wie sie abwechselnd in Zwischenräumen von zwei und drei Jahren stattzufinden pflegen, habe ich seit jener Zeit in Stockholm und Christiania 1889, in London 1892, Genf 1894, Paris 1897, Rom 1899, Hamburg 1902, Algier 1905, Kopenhagen 1908 und Athen 1912 regelmäßig besucht und habe meine Gründe, sie zu schätzen. Dort werden wichtige wissenschaftliche Unternehmungen angeregt und in die Wege geleitet, dort hat man Gelegenheit, seine neuesten Arbeiten sogleich dem Kreise, für den sie bestimmt sind, bekanntzugeben, und wenn auch die gehaltenen Vorträge nicht alle auf gleicher Höhe stehen, so ist noch wertvoller als sie die persönliche und freundschaftliche Berührung mit den Fachgenossen, welche der in den Schriften unvermeidlichen Polemik ihre Schärfe benimmt, so daß im Lager der Orientalisten, wenigstens in dem der Sanskritisten, ein Ton herrscht, an dem sich andere wissenschaftliche Kreise wohl ein Beispiel nehmen können. So war es auch in Skandinavien. Schon in Kopenhagen traf ich mit Weber und andern alten Freunden zusammen, wir fuhren nach Malmö hinüber und waren, was den Transport und teilweise auch die Verpflegung betrifft, von da an Gäste des schwedisch-norwegischen Staates. Ein bereitstehender Extrazug führte uns in der Nacht und am folgenden Tage von Malmö direkt nach Stockholm, wo wir am Nachmittage eintrafen und Wohnung fanden. Am nächsten Tage eröffnete König Oskar in eigener Person, mit einer vortrefflichen französischen Ansprache, die Sitzungen, wie er denn auch weiterhin nicht selten denselben beiwohnte und bei der Schlußsitzung in Stockholm der Wissenschaft die Huldigung zollte, daß er eine lateinische Ansprache hielt, welche mit einem kräftigen »Dixi!« schloß und mit lauten Beifallsbezeigungen aufgenommen wurde. Am Eröffnungstage folgten wir einer Einladung des Königs nach[267] Drottningholm. Drei Schiffe standen bereit, die Kongreßteilnehmer aufzunehmen und zu dem herrlichen Palaste des Königs zu führen, wo im oberen Stock ein reiches Büfett für Speise und Trank sorgte, während in dem unteren Saale der König, begleitet von dem Grafen Landberg, sich zwanglos unter seinen Orientalistengästen bewegte und für jeden, der sich vorstellen ließ, ein freundliches Wort hatte.

An einem Nachmittage nach der Sitzung wurde die ganze Gesellschaft nach Upsala transportiert, wo auf dem Hügel des Odin die ganze Studentenschaft mit ihren weißen Mützen, aus der Ferne aussehend wie ein Feld von weißen Blumen, uns erwartete. Die Studenten gingen mit großen Trinkhörnern umher, aus denen sie den Gästen den Met zum Trunk darboten. Mehrfach konnte ich beobachten, wie die gelehrten Herren, wenn sie den Trunk genommen hatten und das Horn rasch absetzten, im Gesichte von dem zurückspritzenden Met besprengt wurden. Am übelsten erging es dem berühmten, grundgelehrten, aber sehr kurzsichtigen und ungeschickten Assyriologen Jules Oppert aus Paris. Er stand hügelabwärts, als ihm von oben her das Horn geboten wurde, und er benahm sich beim Trinken so unbeholfen, daß Frack und Beinkleider bis auf die Füße begossen wurden und er von seinen Nachbarn dazu beglückwünscht wurde, als Jude nun endlich doch die Taufe empfangen zu haben. Dieser Oppert hatte 1844 sein Doktorexamen in Kiel bestanden, und da ich 1894 gerade das Dekanat verwaltete, so lud ich ihn nach Kiel ein, um sich zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum ein wenig feiern zu lassen. An einem Tage hatten wir ein Diner bei Schöne, zwei Tage darauf hatte ich die Herren zum Diner bei mir geladen, unglücklicherweise aber war an dem zwischenliegenden Tage von Geheimrat Heller eine Dampferfahrt mit nachfolgendem Abendessen und Tanz im Hotel Düsternbrook arrangiert worden. Aber was sollte ich mit meinem Professor Oppert anfangen? Ich wußte mir damit zu helfen, daß ich den berühmten Gelehrten am Tage vorher zu Heller brachte und diesen zu meinem Diner einlud, wodurch es sich denn ganz von selbst machte, daß er auch Oppert zu seiner Dampferfahrt einladen mußte. Schon auf dem Schiffe erregte der von mir mitgebrachte alte Gelehrte mit seinem vollen[268] roten Gesichte und seinen langen weißen Haaren die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Als es dann aber nach dem Essen zur Polonaise ging und ich mit Fräulein Niebuhr, einer interessanten jungen Lehrerin, in der Reihe herumschritt, bemerke ich meinen Oppert, wie er müßig an der Seite steht. »Warum tanzen Sie nicht?« rief ich ihm zu. – »Weil ich keine Dame habe!« versetzte er. – »Hier, nehmen Sie meine«, sagte ich und trat ihm meine Stelle ab. Aber alsbald reute es mich, so großmütig gewesen zu sein, und um wieder zu meiner Dame zu gelangen, erfaßte ich einen jungen Privatdozenten, es war der noch jetzt unter uns wirkende Professor Wolff, und mich verlassend auf Opperts weltbekannte Kurzsichtigkeit, substituierte ich ihm Wolff als Dame, so daß er mir vorkam wie der Dr. Cajus in den »Lustigen Weibern von Windsor«. Ob er bemerkt hat, daß er nun statt der Dame einen Herrn am Arm hatte, weiß ich nicht zu sagen.

Die Stockholmer Tage schlossen mit einem großen Diner, von welchem aufstehend wir uns sofort zum Bahnhofe begaben, um in einem sehr bequemen Extrazuge vom Abend spät bis zum folgenden Nachmittag die weite Strecke nach Christiania zurückzulegen, wo der zweite Teil des Kongresses folgen sollte. Am Abend war Begrüßung mit Konzert in den Freimaurerlogen. Alles war in fröhlicher Stimmung und unterhielt sich um so lebhafter, als man sich von Stockholm her schon kannte. Da sehe ich Max Müller, sonst so sehr umschwärmt, etwas trübselig dasitzen. Ich erkundige mich nach seinem Befinden. »Ach,« sagte er, »mir geht's recht übel. Von den Tagen in Stockholm und der langen Eisenbahnfahrt fühle ich mich ermüdet, soll nun morgen vor 600 Personen die Eröffnungsrede halten und weiß nicht, worüber ich reden soll.« – »Sprechen Sie doch über Sprachwissenschaft.« – »Dazu habe ich keine Materialien bei mir.« – »Sprechen Sie über Ihre Rigvedaausgabe.« – »Darüber habe ich schon in Stockholm gesprochen, was soll ich nur machen?« – »Da ist doch der wundervolle Schöpfungshymnus, Rigveda 10, 129, über den Sie sich in ihrer Literaturgeschichte so begeistert äußern, wollen Sie nicht über den sprechen?« – »Das wäre ein Gedanke, aber ich habe keinen Veda mit, haben Sie einen bei sich?« – »Das nicht, aber den Hymnus kann ich Ihnen aus dem[269] Gedächtnis aufschreiben; kommen Sie mit, wir machen die Sache sogleich!« Wir setzen uns an einen isolierten Tisch, ich nahm zwei Konzertprogramme zur Hand und schrieb auf die leere Rückseite unter dem dröhnenden Schall der Musik den Hymnus in Sanskrit nieder. Inzwischen hatte sich die Gesellschaft verlaufen, und ich begab mich mit Max Müller auf den Heimweg zum Hotel Viktoria, wo wir beide wohnten. Unterwegs teilte ich ihm alles mit, was ich über Form und philosophische Bedeutung dieses Hymnus in Kopf und Herzen trug und so oft vor meinen Zuhörern entwickelt hatte. Ich bereitete meinen alten Freund auf seine morgige Rede vor und ahnte nicht, daß ich mich selbst vorbereitet hatte. »Ach,« sagte Max Müller, »wenn ich diese Nacht schlecht schlafe, wie das bei der aufregenden Aussicht auf morgen möglich, ja sogar wahrscheinlich ist, so hilft mir das alles doch nicht.« Mutwillig versehe ich: »Seien Sie ganz ruhig, wenn Sie morgen nicht aufgelegt sind, so mache ich die Sache für Sie.« – Das war nicht sehr ernst gemeint, denn, sagte ich mir, wie würde sich ein Max Müller die Gelegenheit entgehen lassen, in einer feierlichen Sitzung vor allem, was Norwegen an Zelebritäten besaß, zu reden. Wir nahmen Abschied, ich schlief sehr ruhig, wie ich mir denn überhaupt vorgenommen hatte, auf diesem Kongreß gar nicht hervorzutreten, sondern nur meinem Vergnügen zu leben. Aber es kam anders; als ich am andern Morgen an meinem Waschtische stehe, klopft es an und herein tritt Max Müller. »Ich habe mir überlegt,« sagte er, »ich könnte ein paar einleitende Worte reden, einer der Inder könnte den Hymnus in seiner Weise absingen, und dann könnten Sie über die Bedeutung des Hymnus sprechen.« Gesagt, getan, der große Saal war von einer glänzenden Versammlung, über 600 Personen, gefüllt. Max Müller leitete die Sitzung ein, es erfolgte der Singsang des Inders, dann rief mich Max Müller auf, und frisch und freudig, nicht ermüdet durch die aufregenden Stunden der Vorerwartung, im Bewußtsein, wohl nie wieder vor einer so großen und illustren Versammlung reden zu können, entwickelte ich in begeisterten Worten die herrliche Form, den tiefen philosophischen Gehalt des Hymnus, welcher von Vers zu Vers tiefer und tiefer in das Geheimnis der Schöpfung einzudringen sucht,[270] bis er von kaltem Zweifel ergriffen sich fragt, ob er nicht zu weit gegangen, ob überhaupt ein Mensch imstande sei, das Rätsel der Schöpfung zu lösen, und mit den Worden schließt.


Er, der die Schöpfung hat hervorgebracht,

Der auf sie schaut vom höchsten Himmelslicht,

Der sie gemacht hat oder nicht gemacht,

Der weiß es, – oder weiß auch er es nicht?


Im Anschluß an diese letzten Worte verstieg ich mich bis zu der Behauptung, daß das höchste Wesen über alle Persönlichkeit erhaben sei, und schloß mit der Hoffnung, daß die Zeit kommen werde, wo wir uns alle in dem Bekenntnisse vereinigen würden: Ich glaube an einen lebendigen, nicht aber an einen persönlichen Gott!

Diesen Worten folgte ein donnernder Applaus, aber auch ein merkliches Kopfschütteln der zahlreich anwesenden norwegischen und deutschen Theologen.

Mit einem Schlage war ich aus meinem Inkognito hervorgetreten, allen ein bekannter Mann geworden, dem man während der übrigen Tage des Kongresses überall mit Aufmerksamkeit begegnete, wie denn noch an demselben Abend auf Oskarshal der Graf Landberg mich aufsuchte, um mich dem seinen Vater als Präsident des Kongresses in Christiania vertretenden Prinzen Eugen vorzustellen, dem ich dann meine Befriedigung über die Art, wie in Skandinavien die Wissenschaft von oben her Schutz und Teilnahme findet, auszusprechen nicht unterließ. Nach vielen andern Festlichkeiten, an welchen das ganze Volk uns umdrängte und mit uns feierte, nach einem von der Kanalgesellschaft zu Trollhättan (Schweden) gebotenen glänzenden Frühstück, einer Illumination der Festung Frederikshald beim Vorbeifahren um 2 Uhr nachts, einer Abendbewirtung in Gotenburg und einer schönen Nachfeier in Helsingborg, Helsingör und Kopenhagen zerstreuten sich die Teilnehmer, und ich kehrte höchst befriedigt nach Berlin zu meinem Frauchen zurück, welches während meiner Abwesenheit leidend gewesen und für dieses Mal um eine länger gehegte Hoffnung ärmer geworden war, sich aber unter der liebevollen Pflege ihrer Schwester schon wieder erholt hatte.[271]

Die letzten Tage des September brachten mir noch einen angenehmen Besuch. Auf dem Orientalistenkongreß hatte ich mich mit zwei dort anwesenden Indern, Dhruva aus Baroda und Mansuklal Nasar, angefreundet und beide eingeladen, auf der Durchreise durch Berlin mich zu besuchen. Sie waren gekommen, ich hatte sie in meinem Hause bewirtet und ihnen von Berlin gezeigt, was sie zu sehen begehrten. Diese Freundschaft sollte noch sehr wichtige Folgen haben. Wiederholt, während der nächsten Jahre, erfreuten mich beide durch Briefe und Sendungen, welche im Drange der Geschäfte unbeantwortet blieben, bis ich ihnen im Herbst 1892 durch eine einfache Postkarte die Mitteilung machte, daß ich am 7. November in Bombay mit meiner Frau eintreffen werde. Sie waren dort die ersten, uns zu begrüßen, und haben durch Empfehlungen an ihre Kastengenossen in ganz Indien wesentlich dazu beigetragen, unsern Aufenthalt in Indien zu verschönern, wie dies in meinen Erinnerungen an Indien des näheren nachgelesen werden kann.

Die letzten Tage in Berlin vergingen mit Abschiedsbesuchen und Einpacken, und der 15. Oktober 1889 war der große Tag, wo wir nicht ohne Schmerzen von dem geliebten Berlin Abschied nahmen und in Kiel als unserer künftigen Heimat anlangten.

Es ist eine Eigenheit meines Charakters, daß, wo ich längere oder kürzere Zeit geweilt habe, ich ungern Abschied nehme, und mag wohl als Beweis dafür gelten, daß ich mich überall in der Welt leidlich wohlgefühlt habe. Dies gilt mehr als von irgendeinem andern Orte von meinem zehnjährigen Aufenthalte in Berlin, und könnte ich frei wählen, so wüßte ich keinen Ort innerhalb oder außerhalb Deutschlands zu nennen, dem ich vor Berlin den Vorzug geben könnte.

Quelle:
Deussen, Paul: Mein Leben. Leipzig 1922, S. 202-272.
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Mein Leben: Herausgegeben von Dr. Erika Rosenthal-Deussen [Reprint der Originalausgabe von 1922]

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