VI. Drei Klassen von Aussagen in ihnen

[26] Die Geisteswissenschaften, wie sie sind und wirken, kraft der Vernunft der Sache, die in ihrer Geschichte tätig war (nicht wie die kühnen Architekten, die sie neu bauen wollen, wünschen), verknüpfen in sich drei unterschiedene Klassen von Aussagen. Die einen von ihnen sprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahrnehmung gegeben ist; sie enthalten den historischen Bestandteil der Erkenntnis. Die anderen entwickeln das gleichförmige Verhalten von Teilinhalten dieser Wirklichkeit, welche durch Abstraktion ausgesondert sind: sie bilden den theoretischen Bestandteil derselben. Die letzten drücken Werturteile aus und schreiben Regeln vor: in ihnen ist der praktische Bestandteil der Geisteswissenschaften befaßt. Tatsachen, Theoreme, Werturteile und Regeln: aus diesen drei Klassen von Sätzen bestehen die Geisteswissenschaften. Und die Beziehung zwischen der historischen Richtung in der Auffassung, der abstrakt-theoretischen und der praktischen geht als ein gemeinsames Grundverhältnis durch die Geisteswissenschaften. Die Auffassung des Singularen, Individualen bildet in ihnen (da sie die beständige Widerlegung des Satzes von Spinoza: ›omnis determinatio est negatio‹ sind) so gut einen letzten Zweck als die Entwicklung abstrakter Gleichförmigkeiten. Von der ersten Wurzel im Bewußtsein bis zur höchsten Spitze ist der Zusammenhang der Werturteile und Imperative unabhängig von dem der zwei ersten Klassen. Die Beziehung dieser drei Aufgaben zueinander im denkenden Bewußtsein kann erst im Verlauf der erkenntnistheoretischen Analysis (umfassender; der Selbstbesinnung) entwickelt werden. Jedenfalls bleiben Aussagen über Wirklichkeit von Werturteilen und[26] Imperativen auch in der Wurzel gesondert: so entstehen zwei Arten von Sätzen, die primär verschieden sind. Und zugleich muß anerkannt werden, daß diese Verschiedenheit innerhalb der Geisteswissenschaften einen doppelten Zusammenhang in denselben zur Folge hat. Wie sie gewachsen sind, enthalten die Geisteswissenschaften neben der Erkenntnis dessen, was ist, das Bewußtsein des Zusammenhangs der Werturteile und Imperative, als in welchem Werte, Ideale, Regeln, die Richtung auf Gestaltung der Zukunft verbunden sind. Ein politisches Urteil, das eine Institution verwirft, ist nicht wahr oder falsch, sondern richtig oder unrichtig, insofern seine Richtung, sein Ziel abgeschätzt wird; wahr oder falsch kann dagegen ein politisches Urteil sein, welches die Beziehungen dieser Institution zu anderen Institutionen erörtert. Erst indem diese Einsicht für die Theorie von Satz, Aussage, Urteil leitend wird, entsteht eine erkenntnis-theoretische Grundlage, die den Tatbestand der Geisteswissenschaften nicht in die Enge einer Erkenntnis von Gleichförmigkeiten nach Analogie der Naturwissenschaft zusammendrängt und solchergestalt verstümmelt, sondern wie sie gewachsen sind, begreift und begründet.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 26-27.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
Einleitung in Die Geisteswissenschaften: Versuch Einer Grundlegung Für Das Studium Der Gesellschaft Und Der Geschichte (German Edition)
Einleitung in Die Geisteswissenschaften: Versuch Einer Grundlegung Für Das Studien Der Gesellschaft Und Der Geschichte ; Erster Band, Volume 1 (German Edition)