Fünftes Kapitel
Charakter der ältesten griechischen Wissenschaft

[146] Hundert Jahre dieser fortschreitenden Entwicklung der griechischen Wissenschaft verflossen, bevor diese Physiker die Natur der ersten Ursachen, aus denen sie den Kosmos ableiteten, einer strengeren allgemeinen Betrachtung unterwarfen. Und dies war doch die Bedingung für die Entstehung einer abgesonderten Wissenschaft der Metaphysik. Finden wir Thales im ersten Drittel des sechsten Jahrhunderts auf der Höhe seiner Tätigkeit, so reichen Leben und Wirksamkeit des Heraklit und Parmenides, welche diesen Fortschritt machten, eine geraume Zeit in das fünfte Jahrhundert hinein.

Diese hundert Jahre hindurch steht die fortschreitende Orientierung im Weltall durch die Hilfsmittel von Mathematik und Astronomie im Vordergrund der Interessen; an sie schließen sich Versuche, einen Anfangszustand und Realgrund desselben festzustellen. Das umblickende Auge des Menschen findet sich, zumal wo die Seeweite Aussicht gewährt, auf einer im Kreis des Horizontes sich abschließenden Ebene, über welcher die Halbkugel des Himmels sich wölbt. Geographische Kunde bestimmt die Ausdehnung dieses Erdkreises und die Verteilung von Wasser und Land auf demselben. Schon gemäß einer Anschauung der auf der See heimischen Griechen homerischer Zeit wurde nun als die Geburtsstätte von allem das Wasser, das Meer angesehen. – Hier knüpfte Thales an. Der die Erdscheibe umfließende Okeanos Homers dehnte sich in seiner Anschauung aus: auf dem Wasser schwimmt diese Erdscheibe, aus ihm ist alles hervorgetreten. Vor allem wurde das Werk der Orientierung in diesem kosmischen Räume von Thales gefördert, und hier lag der wesenhafte Kern dessen, was geschah. Anaximander setzte dieses Werk fort, entwarf eine Erdtafel, führte den Gebrauch des Gnomon ein, welcher zu jener Zeit das wichtigste Hilfsmittel der Astronomie war. Von dem Zustande einer allgemeinen Flut, in dessen Annahme er mit Thales übereinstimmte,[146] ging er auf ein zeitlich diesem Zustande vorausgehendes Unendliches zurück; aus ihm hat sich alles Bestimmte und Begrenzte ausgeschieden, und, unvergänglich, umfaßt es dieses alles räumlich und lenkt es. Und zwar hat er nach gutem Zeugnis dieses Unendliche, Allebendige, Unsterbliche als Prinzip82 bezeichnet, und so diesen dem metaphysischen Denken so wichtigen Ausdruck (zunächst wohl im Sinne von Anfang und Ursache) eingeführt. Dieser Ausdruck bezeichnete, daß nunmehr das Erkennen seiner Aufgabe sich bewußt war und daher sich die Wissenschaft absonderte.

Die Phänomene der bewegten Atmosphäre enthalten auch für die weiteren kosmologischen Versuche der ionischen Physiker die Mittel der Erklärung. Wie in dieser feuchter Niederschlag, Wärme, bewegte Luft miteinander verbunden sind, scheint für diese primitiven Erklärungsversuche bald aus der Luft alles hervorzutreten, bald aus dem Feuer, bald aus dem Wasser.

Auch die Wissenschaft der unteritalischen Kolonien, welche in dem Verbande der Pythagoreer gepflegt wurde, hatte ihren Ausgangspunkt, ihr wesenhaftes Interesse und ihre Bedeutung für die intellektuelle Entwicklung in der fortschreitenden Orientierung innerhalb des Weltraums, mit den Hilfsmitteln der Mathematik und der Astronomie. In dieser Schule entwickelte sich eine von dem Zweck der Benutzung losgelöste Betrachtung der Verhältnisse von Zahlen, von Raumgebilden, sonach reine mathematische Wissenschaft. Ja ihre Untersuchungen hatten bereits die Beziehungen zwischen Zahlen und Raumgrößen zum Gegenstande, so entstand ihnen die Idee des Irrationalen auf dem Gebiete, der Mathematik. Auch ihr Schema des Kosmos war astronomisch: in der Mitte der Welt das Begrenzende, Gestaltende, welches ihnen im schönsten griechischen Geiste das Göttliche ist; indem es das Grenzenlose an sich zieht, entsteht die zahlenmäßige Ordnung des Kosmos.

Alle diese Erklärungen des Weltganzen, ob sie gleich als Erklärungen an der allmählichen Auflösung des mythischen Vorstellens arbeiteten, waren noch mit einem sehr erheblichen Bestandteil von mythischem Glauben vermischt. Das Prinzip, aus welchem diese ersten Forscher ableiteten, hatte noch viele Eigenschaften des mythischen Zusammenhangs. Es enthielt in sich eine den mythischen Kräften verwandte Bildungskraft, Fähigkeit der Umwandlung, Zweckmäßigkeit, gleichsam die Fußspuren der Götter in seinem Wirken. So war es auch mit einem von diesen Physikern festgehaltenen mythischen Götterglauben in für uns kaum sichtbaren Wurzeln verschlungen.[147] Die Überzeugung des Thales, daß das Weltall von Gottheiten erfüllt sei, darf nicht in einen modernen Pantheismus umgedeutet werden. Der mythische Glaube des Anaximander läßt alle Dinge durch ihren Untergang für das Unrecht ihres Sonderdaseins Buße und Strafe leiden, gemäß der Ordnung der Zeit. Keine andere Lehre kann dem Pythagoras so sicher zugeschrieben werden als die von der Seelenwanderung, und der von ihm gestiftete Verband hing am Apollokultus und an religiösen Riten mit konservativer Festigkeit. Vorstellungen des Vollkommenen bestimmen das kosmische Bild der unteritalischen Schulen. Und zwar tritt hier der für den griechischen Geist so bezeichnende Gedanke hervor, daß das Begrenzte das Göttliche sei – wogegen man den Satz Spinozas halte: omnis determinatio est negatio. So ist diese altertümliche Weltansicht keineswegs, wie seit Schleiermacher oft geschieht, einfach auf eine primitive Form des Pantheismus zurückzuführen.

So langsam, allmählich hat, auch nachdem eine erklärende Wissenschaft sich losgerungen hatte, diese die Macht der mythischen Erklärungsgründe, des mythischen Zusammenhangs zersetzt. In so harter Arbeit hat sich aus der ersten Gebundenheit des geistigen Gesamtlebens, in welcher dem Menschen die Wirklichkeit gegeben ist und immer gegeben bleibt, der Zweckzusammenhang des Erkennens in der Wissenschaft zur Selbständigkeit herausgearbeitet. So schwierig war dieser Wissenschaft der Ersatz der ursprünglichen Vorstellungen durch solche von einer größeren Angemessenheit an ihren Gegenstand. Denn der Zusammenhang der Dinge ist ursprünglich von der Totalität der Gemütskräfte hervorgebracht worden; nur schrittweise hat dann das Erkennen das rein Gedankenmäßige aus ihm herausgelöst. Leben ist das erste und immer Gegenwärtige, die Abstraktionen des Erkennens sind das zweite und beziehen sich nur auf das Leben. So entspringen wichtige Grundzüge des altertümlichen Denkens. Es beginnt nicht mit dem Relativen, sondern mit dem Absoluten, und zwar faßt es dasselbe mit den Bestimmungen auf, welche aus dem religiösen Erlebnis stammen; das Wirkliche ist ihm ein Lebendiges; der Zusammenhang der Erscheinungen ist ihm ein Psychisches oder doch ein dem Psychischen Analoges.

Dennoch hat die menschliche Intelligenz zu keiner Zeit einen größeren Fortschritt gemacht, als in dem Jahrhundert, das nunmehr abgelaufen war, als Heraklit und dann Parmenides auftraten. Die Wissenschaft war nun vorhanden. Die Phänomene wurden in ihrer Regelmäßigkeit und ihrem Zusammenhang überwiegend aus natürlichen Ursachen abgeleitet. Das Korrelat der nun eingetretenen Selbständigkeit der griechischen Wissenschaft ist der Ausdruck: Kosmos. Er[148] wird von den Alten auf Pythagoras zurückgeführt: »Pythagoras zuerst nannte das Weltall Kosmos, wegen der in ihm herrschenden Ordnung.«83 Dieses Wort ist gleichsam der Spiegel der in die gedankenmäßige Regelmäßigkeit und den harmonischen Zusammenhang der Verhältnisse und Bewegungen des Weltalls vertieften griechischen Intelligenz. In ihm spricht sich der ästhetische Charakter des griechischen Geistes so ursprünglich und tief aus, als in den Körpern, welche Phidias und Praxiteles bildeten. Nun wird nicht mehr in der Natur die Spur eines willkürlichen, eingreifenden Gottes verfolgt; die Götter walten in dem schönen, regelmäßigen Formenzusammenhang des Kosmos. In demselben Sinne werden von der durch den Gedanken zu regelmäßig wirkenden Formen geordneten Gesellschaft auf die Verhältnisse des Weltalls die Ausdrücke Gesetz und vernünftige Rede übertragen.84

Aber die Art und Weise der Ableitung von Phänomenen, wie sie in der Wissenschaft vom Weltall bestand, konnte den fortschreitenden Anforderungen des Erkennens nicht genügen. Wird irgendeinem Bestandteil des Naturganzen Leben, Fähigkeit, sich in andere Bestandteile umzuwandeln, sich auszudehnen und zusammenzuziehen, zugeschrieben, alsdann ist es gleichgültig, von welchem dieser Bestandteile die Erklärung ausgeht; denn alles kann so aus allem abgeleitet werden. Und hatten nicht diese Physiker wechselnd, aber mit gleicher Leichtigkeit, von Wasser, Feuer, Luft aus die anderen Teile des Naturzusammenhangs durch Umwandlung erklärt? In Heraklit entwickelt die Spekulation diese Anschauung einer inneren Wandlungsfähigkeit als der allgemeinen Eigenschaft jedes Zustandes im Weltall; in Parmenides stellt sie diesem endlosen Wechsel die Anforderungen des Gedankens gegenüber. So entsprang Metaphysik im engeren Verstande.[149]

82

archê. Simplic. in phys. f. 6r 36-54. – Hippolyt. Refut. haer. I, 6. – Auf Theophrast zurückgehend, vgl. Diels Doxographi 133, 476; Zeller I4 203.

83

Ps. Plutarch, de plac. II, 1. Stob. ecl. I, 21 p. 450 Heer. – Diels 327.

84

nomos. logos.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 146-150.
Lizenz:
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Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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