Die wissenschaftlichen Bedingungen

[193] Aristoteles denkt unter der Voraussetzung, daß der geistige Vorgang sich des Seienden außer uns bemächtige139; dieser Standpunkt kann als Dogmatismus oder als Objektivismus bezeichnet werden. Und zwar wird von Aristoteles die Vorstellung von der Erkenntnis des Gleichartigen durch Gleichartiges, welche die Form dieser Voraussetzung für den unter dem Einfluß seiner Naturreligion und Mythologie stehenden griechischen Geist ist, in einem abschließenden Theorem entwickelt; dasselbe hat auch eine einflußreiche Schule der neueren Metaphysik geleitet.

Von welcher Bedeutung der Satz, daß Gleichartiges nur durch Gleichartiges erkannt werde, für das Nachdenken der älteren griechischen Philosophen war, hat Aristoteles selber hervorgehoben.140 Nach Heraklit wird das Bewegte durch das Bewegte erkannt. Von Empedokles erwähnt Aristoteles bei die ser Gelegenheit folgende Verse:


Erde erblicken wir stets durch Erde, durch Wasser das Wasser,

Göttlichen Äther durch Äther, verzehrendes Feuer durch Feuer,

Liebe durch Liebe und Streit vermittels des traurigen Streites.


Ebenso ging Parmenides davon aus, daß Verwandtes das Verwandte empfinde141; Philolaus entwickelt, die Zahl füge die Dinge harmonisch der Seele. Und denselben Satz, daß Gleiches durch Gleiches erkannt werde, findet schließlich Aristoteles bei seinem Lehrer Plato wieder.142[193]

Diese Entwicklung schließt Aristoteles durch das folgende Theorem ab. Der Nus, die göttliche Vernunft, ist das Prinzip, der Zweck, durch welchen das Vernunftmäßige an den Dingen wenigstens mittelbar in jedem Punkte bedingt ist, und so kann durch die der göttlichen verwandte menschliche Vernunft der Kosmos, sofern er vernünftig ist, erkannt werden.143 Metaphysik, Vernunftwissenschaft ist vermöge dieses Entsprechens möglich.

Führte nun Plato den Vorgang, in welchem wir den ideellen Gehalt des Kosmos gleichsam von ihm ablesen, vorzugsweise auf den angeborenen Besitz dieses Gehaltes zurück und ließ gegen diesen ursprünglichen Besitz den anderen Faktor des Vorgangs, die Erfahrung, zurücktreten, ja grenzte ihren Anteil nirgend klar ab: so erhalten hingegen bei Aristoteles äußere Wahrnehmung und Erfahrung eine hervorragende und äußerlich feste Stellung. Das Theorem des Entsprechens erstreckt sich bei ihm auch auf das Verhältnis der Wahrnehmung zu dem Wahrnehmbaren. Sonach mußte er die nun entstehende Schwierigkeit aufzulösen suchen, daß die menschliche Vernunft den Grund des Wissens von der Vernunftmäßigkeit des Kosmos in sich trägt, jedoch dies Wissen selber erst durch die Erfahrung erwirbt. Er besteht darauf, daß wir nicht ein Wissen von den Ideen besitzen können, ohne ein Bewußtsein dieses Wissens zu haben144, und versucht die so auftretende Frage im Zusammenhang seiner Metaphysik durch den Begriff der Entwicklung zu lösen. In dem menschlichen Denken ist vor dem Erkenntnisvorgang die Möglichkeit (Dynamis) des unmittelbaren Wissens von den höchsten Prinzipien, und sie gelangt in dem Erkenntnisvorgang selber zur Wirklichkeit.145 Die Ausführung dieser erkenntnistheoretischen Grundanschauung, so tiefe Blicke sie enthält, vermag den von Plato im Dunkel gelassenen Punkt, die Stellung der in der menschlichen Vernunft (dem Nus) gegebenen Bedingung der Erkenntnis zu der anderen in der Erfahrung liegenden nicht zu erhellen. Der einzelne Sinn entspricht den Gegenständen einer einzelnen Gattung; das Wahrnehmungsfähige ist (gemäß dem obigen allgemeinen Lösungsverfahren) der Möglichkeit nach so beschaffen, wie es der Wahrnehmungsgegenstand der Wirklichkeit nach ist146; innerhalb[194] seiner Objektssphäre gewahrt daher das gesunde Sinnesorgan das Wahre. Ja Aristoteles legt dar, daß wir alle überhaupt möglichen Sinne besitzen147, sonach die gesamte Realität auch durch unsere Sinne aufgefaßt wird, und diese Überzeugung kann als der Schlußstein seines objektiven Realismus betrachtet werden. Wie das Sinnesorgan zum Wahrnehmbaren, so verhält sich alsdann die Vernunft, der Nus, zum Denkbaren. Dementsprechend erfaßt auch die Vernunft die Prinzipien durch eine unmittelbare Anschauung, welche jeden Irrtum ausschließt148; ein solches Prinzip ist das Denkgesetz vom Widerspruch. Aber weder der Umfang der im Nus angelegten Prinzipien der Erkenntnis, noch die Stellung des von den Wahrnehmungen zurückschreitenden, induktiven Vorgangs zu den ursprünglichen im Nus angelegten Begriffen und Axiomen gelangt schließlich zur Klarheit.

Dieser objektive Standpunkt des Aristoteles repräsentiert die natürliche Stellung der Intelligenz des Menschen zum Kosmos. Und zwar war es nun zweitens durch das Stadium, in welchem zu der Zeit des Aristoteles die Wissenschaft sich befand, bedingt, was die Intelligenz an dem Kosmos damals erkannte.

Zwar hatte die Wissenschaft des Kosmos von den Objekten die Betrachtung der allgemeinen Beziehungen losgelöst, welche zwischen Zahlen, Raumgebilden herrschen149; dagegen bestand noch kein von den Objekten abstrahierendes, abgesondertes und in sich zusammenhängendes Studium anderer Eigenschaften derselben, wie etwa der Bewegung, der Schwere oder des Lichtes. Die Schulen des Anaxagoras, Leukipp und Demokrit neigten sich einer teilweise oder ganz mechanischen Betrachtungsweise zu, doch haben auch sie nur höchst unbestimmte, unzusammenhängende und teilweise irrige Vorstellungen von Bewegung, Druck, Schwere usw. für ihre Erklärung des Kosmos angewandt, und wir erkannten hierin den Grund, aus dem die mechanische Betrachtungsweise im Kampf mit derjenigen unterlag, welche die Formen mit psychischen Wesenheiten in Beziehung setzte.150 Begegnen wir doch zuerst bei Archimedes einigen angemessenen und bestimmten Vorstellungen über Mechanik. Unter solchen Umständen überwog immer noch in der griechischen Naturwissenschaft die Betrachtung der Bewegungen der Gestirne, welche sich infolge der großen Entfernung derselben dem menschlichen Geiste von selber losgelöst von den anderen Eigenschaften dieser Körper darboten, alsdann[195] die vergleichende Betrachtung der interessanteren Objekte auf der Erde, und unter diesen zogen naturgemäß die organischen Körper besonders die Aufmerksamkeit auf sich.

Diesem Stadium der positiven Wissenschaften entsprach am besten eine Metaphysik, welche die Formen der Wirklichkeit, wie sie sich in Allgemeinvorstellungen ausdrücken, und die Beziehungen zwischen diesen Formen in Begriffen darstellte sowie als metaphysische Wesenheiten der Erklärung der Wirklichkeit zugrunde legte. Dagegen war die Atomistik diesem Stadium weniger angemessen. War sie doch in jener Zeit ebenfalls nur ein metaphysisches Theorem, nicht eine Handhabe für Experiment und Rechnung. Ihre Massenteilchen waren begrifflich festgestellte Subjekte des Naturzusammenhangs, und zwar erwiesen sich dieselben als unfruchtbar für die Erklärung des Kosmos. Denn die Zwischenglieder zwischen ihnen und den Naturformen fehlten: angemessene und bestimmte Vorstellungen über Bewegung, Schwere, Druck usw. sowie zusammenhängende Entwicklung solcher Vorstellungen in abstrakten Wissenschaften.

Der Herrschergeist des Aristoteles, durch welchen er sich zwei Jahrtausende unterwarf, lag nun darin, wie er diese dargelegten wissenschaftlichen Bedingungen verknüpfte, wie er demnach die natürliche Stellung der Intelligenz zum Kosmos in ein System brachte, das jeder Anforderung genügte, die innerhalb dieses Stadiums der Wissenschaften gemacht werden konnte. Er war aller positiven Wissenschaften seiner Zeit mächtig (von der Mathematik wissen wir es am wenigsten); in den meisten derselben war er bahnbrechend. Infolge hiervon verkürzte er ihre Voraussetzungen an keinem Punkte, so daß es erforderlich gewesen wäre, über seine metaphysische Grundlegung hinauszugehen; der Wahrnehmung wahrte er ihr Recht; er erkannte im Werden, der Bewegung, der Veränderung und dem Vielen Wirklichkeit, die nicht durch unfruchtbares Räsonnement geleugnet, sondern erklärt werden muß; ihm hatte das Einzelding, das Einzelwesen die vollste Realität, die uns gegeben ist. So kommt es, daß seine einzelnen Gedankenwendungen der Diskussion in den folgenden Jahrhunderten unterlagen, daß aber die Grundlagen seines Systems feststanden, solange das bezeichnete Stadium der Wissenschaften fortdauerte. Während dieser ganzen Zeit hat man seine Metaphysik zwar erweitert, aber ihre vorhandenen Voraussetzungen aufrechterhalten.

139

Vgl. S. 188 ff.

140

Arist. de anima I, 2 p. 403 b f.

141

Vgl. Theophrast de sensibus 3 bei Diels p. 499.

142

Arist, de anima I, 2 p. 404 b 17 ginôskesthai gar tô homoiô to homoion. Er beruft sich hierfür auf den Timäus und auf eine Schrift peri philosophias, in welcher über Platos Lehre auf Grund der mündlichen Vorträge desselben berichtet wurde. Vgl. zur ganzen Stelle Trendelenburg zu Arist. de anima 1877 Ausg. 2, S. 181 ff.

143

Die Fassung ist vorsichtig gewählt worden wegen der bekannten Schwierigkeiten in bezug auf die Stellung des göttlichen nous zu den substantialen Formen und zu den Gestirngeistern.

144

So in der Polemik gegen die Ideenlehre Metaph. I, 9 p. 993 a 1.

145

Vgl. die Stellen sowie die nähere Darlegung bei Zeller II, 23, 188 ff.

146

to d' aisêtikon dynamei estin oion to aisthton êdê entelecheia de anima II, 5 p. 418 a 3.

147

de anima III, 1 p. 424 b 22.

148

Vgl. den Schluß der in den beiden Analytiken uns vorliegenden logischen Hauptschrift Analyt. post. II, 19 p. 100 b.

149

Vgl. S. 181 f.

150

Vgl. die beachtenswerten Bemerkungen des Simplicius zu de caelo Schol. p. 491 b 3.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 193-196.
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