Siebentes Kapitel
Die Metaphysik der Griechen und die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit

[215] Das Verhältnis der Intelligenz zu der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit hat sich uns ganz verschieden von dem gezeigt, welches zwischen ihr und der Natur besteht. Nicht nur beeinflussen die Interessen, die Kämpfe der Parteien, die sozialen Gefühle und Leidenschaften hier die Theorie in einem viel höheren Grade. Nicht nur ist die aktuelle Wirkung der Theorie hier von ihrem Verhältnis zu diesen Interessen und Gemütsbewegungen innerhalb der Gesellschaft bestimmt. Auch wenn man den Zusammenhang, welchen die Entwicklung der Geisteswissenschaften bildet, betrachtet, sofern er nicht durch das Mittel der Interessen und Leidenschaften der Gesellschaft, in welchem er stattfindet, bedingt ist, zeigt derselbe ein anderes Verhältnis zu seinem Gegenstande, als es innerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur obwaltet.

Dies ist in dem ersten Buche erörtert worden. Die Geschichte der Geisteswissenschaften bildet infolge dieses Grundverhältnisses ein relativ selbständiges Ganzes, das in Koordination mit dem Fortschritt der Naturwissenschaften sich entwickelt hat; diese Entwicklung steht unter eigenen Bedingungen, in betreff deren auf das erste Buch zurückverwiesen wird. Und dieselben bestimmen nun zunächst das Verhältnis,[215] in welchem die griechische Metaphysik zu dem Studium der geistigen Tatsachen steht.

Der Erfahrungskreis der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit hat sich in den Generationen selber erst aufgebaut, welche über ihn reflektierten. Die Natur stand der Schule von Milet so gut als ein abgeschlossenes Ganzes gegenüber, wie einem heutigen Forscher: es galt nur, die vorhandene zu erkennen. Dagegen entstand erst zu der Zeit, in welcher die griechische Wissenschaft auftrat, allmählich der umfassendere geschichtlich-gesellschaftliche Erfahrungskreis, welcher der Gegenstand der Geisteswissenschaften ist. Die Zustände der umliegenden, uralten Kulturstaaten waren den griechischen Stämmen zu wenig bekannt und zu fremdartig, als daß sie Gegenstand einer wirklich fruchtbaren Forschung hätten werden können. Und zwar stoßen wir hier wieder an eine Grenze des griechischen Geistes, welche in dem tiefsten Lebensgefühl des griechischen Menschen begründet ist. Ein energisches Interesse der Auffassung zeigt der Grieche nur für den Griechen und in zweiter Linie für den verwandten Italiker. Wohl beweist der Sagenkreis, der das Haupt des Solon als des großen Repräsentanten maßvoller griechischer Lebens- und Staatskunst umgibt, den lebendigen Anteil an den großen Katastrophen jener Kulturländer. Die Geschichtschreibung des Herodot macht die regsame Neubegier griechischer Forscher sichtbar in bezug auf fremde Länder und Völker. Die Kyropädie erweist, wie die Leistungsfähigkeit monarchischer Einrichtungen die Bürger dieser freien, aber politisch und militärisch unzureichend geschützten Stadtstaaten beschäftigte. Aber der griechische Forscher zeigt kein Bedürfnis, vermittels der Sprachen fremder Völker in ihre Literatur einzudringen, um sich den Quellpunkten ihres geistigen Lebens zu nähern. Er empfindet die zentralen Äußerungen des Lebens dieser Völker als ein Fremdes. Ihm liegt ihre wirkliche Kultur an den Grenzen dessen, was seine geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit ausmacht. Andererseits bauten sich die Kultur seines eigenen Volkes und dessen politisches Leben, soweit sie Gegenstand geschichtlichen Wissens sind, in der Zeit, in welcher die griechische Wissenschaft anhebt, erst allmählich auf. Sonach war die geschichtlich-gesellschaftliche Welt, wie sie das Menschengeschlecht und dessen Gliederung umfaßt, für den griechischen Geist noch unter dem Horizonte.

Mit dieser engen Begrenzung finden wir einen positiven Irrtum verbunden, der aus derselben entsprang. Die griechischen Theorien empfingen ihre vollendete Gestalt zu einer Zeit, in welcher gerade die höchststehenden Politien rein griechischer Abkunft schon ihren Höhepunkt überschritten hatten. Welche Achtung auch noch Plato für das[216] Staatsleben der Spartaner hatte und wie große Hoffnungen er an eine Konstitution noch knüpfen mochte, welche die gespannte einheitliche Kraft dieser Staatsordnung in edlerer Richtung nachbildete: für Aristoteles gab es kein Beispiel eines echt griechischen Staates mehr, der dem Schicksal des Sinkens entnommen gewesen wäre. So entsteht an der Erfahrung selber die Vorstellung von einem Kreislauf der menschlichen Dinge, der gesellschaftlichen wie der politischen Zustände, oder die noch mehr düstere von ihrem allmählichem Sinken. Und diese völlige Abwesenheit jeder Vorstellung von Fortschreiten und Entwicklung verbindet sich mit der dargelegten Einschränkung des untersuchenden Geistes auf den griechischen Menschen. Der griechische Erforscher der gesellschaftlichen und historischen Wirklichkeit hatte so noch kein geschichtliches Bewußtsein von einer inneren fortschreitenden Entwicklung, und er näherte sich der Empfindung seines realen Zusammenhangs mit dem ganzen Menschengeschlecht nur spät und allmählich durch die Vermittelung des makedonischen Reiches und des römischen Imperiums sowie durch die Einwirkung des Orients.

Dieser Schranke des griechischen Geistes, welche sich auf den Umfang seines geschichtlichen Gesichtskreises bezieht, entspricht eine andere, welche die Stellung der Person zu der Gesellschaft betrifft. Und auch diese Grenze ist im innersten Seelenleben des griechischen Menschen angelegt. Die Hingabe an das Gedankenmäßige der Welt ist mit einem Mangel an Vertiefung in die Geheimnisse des Seelenlebens, an Erfassung der freien Person im Gegensatz zu allem, was Natur ist, verbunden. Erst in einer späteren Zeit wird der Wille, welcher sich als Selbstzweck von unendlichem Werte findet, wenn er zur metaphysischen Besinnung kommt, die Stellung des Menschen zu der Natur und zu der Gesellschaft abändern. Aber für den damaligen griechischen Menschen hat der Einzelwille noch nicht um seiner selbst willen den Anspruch auf eine Sphäre seiner Herrschaft, welche ihm der Staat zu schützen bestimmt ist und nicht rauben darf. Das Recht hat noch nicht die Aufgabe, dem Individuum diese Sphäre seiner Freiheit zu sichern, innerhalb deren es schalte. Die Freiheit hat noch nicht die Bedeutung ungehemmter Entfaltung und Bewegung des Willens innerhalb dieser Sphäre. Vielmehr ist der Staat ein Herrschaftsverhältnis, und die Freiheit besteht in dem Anteil an dieser Herrschaft. Die griechische Seele bedarf noch nicht einer Sphäre ihres Lebens, welche jenseit aller gesellschaftlichen Ordnung liegt. Sklaverei, Tötung verkrüppelter oder schwächlicher Neugeborener, Ostrazismus bezeichnen diese unvollkommene Wertschätzung des Menschen. Der unablässige Kampf um den Anteil an der politischen Herrschaft bezeichnet die Wirkung derselben auf die Gesellschaft.[217]

Innerhalb dieser Grenzen durchlief die Anschauung der Völker des Mittelmeeres über die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit dieselben Stadien, welche in größerem Maßstab, modifiziert durch die veränderten Umstände, auch die Anschauung der neueren Völker durchmessen hat.


In dem ersten dieser Stadien, während der Herrschaft des mythischen Vorstellens, wird die Ordnung der Gesellschaft auf göttliche Stiftung zurückgeführt. Diese Vorstellung des Ursprungs der gesellschaftlichen Ordnung teilen die Griechen mit den umliegenden großen asiatischen Staaten, wie verschieden auch die näheren Bestimmungen der Vorstellung bei den Griechen von der bei den Orientalen sind. Sie bleibt so lange herrschend, als die heroische Zeit dauert. Alle Macht war in dieser Zeit persönlich. Der heroische König hatte keine physischen Machtmittel, den Gehorsam eines ewig widersprechenden Adels zu erzwingen; es gab keine geschriebene Verfassung, die einen Rechtsanspruch begründet hätte. So sind alle Vorstellungen und Gefühle jener Tage in das Element des Persönlichen getaucht. Die Poesie war Heldengesang; das Heroische der Gegenwart an ein Höheres der Vergangenheit zu knüpfen und dieses bis zu den persönlichen Gewalten der Götter zurückzuleiten, in den Bildern des Götterstaates die Motive des eigenen Lebens in mächtigerem Pulsschlag zu empfinden und zu genießen: war ein Grundzug der sozialen Gefühle und Vorstellungen jener Tage.

Die Vorstellung von dem Zusammenhang der gesellschaftlichen Ordnung mit den persönlichen Kräften einer höheren Welt ist dann ein lebendiger Bestandteil griechischer Überzeugungen geblieben.186 Zentralgriechenland, nördlich wie durch breite Querriegel des Gebirges vom Kontinent isoliert, gliedert sich durch die Verästelung der Gebirge zu einer Anzahl von Kantonen, die von Bergen mit hohen und engen Zugängen in ihrer Selbständigkeit geschützt sind: zugleich öffnet es sich dem Meere, das schützt und verbindet. Über die müde See leiten Inseln, den Pfeilern einer Brücke gleich. In vielen dieser Kantone erhielt sich lange mit zäher Gewalt die Macht der mythischen Vorstellungen. Denn die Wurzeln des mythischen Glaubens lagen für diese abgeschlossenen Gemeinschaften in den lokalen Kulten, wie aus dem späten Bericht des Pausanias noch ersehen werden kann.

Dieselben geographischen Bedingungen haben zugleich auf die Entwicklung kleiner Politien hingewirkt, in denen mit regsamer intellektueller[218] Entwicklung verbunden politische Freiheit sich entfaltete. Daher fand die politische Freiheit in den Schriften der Griechen zuerst einen dauernden, künstlerisch mächtigen, wissenschaftlich begründeten Ausdruck. Hierdurch wurde sie erst für die europäische politische Entwicklung ein unvergänglicher Erwerb. Diese Bedeutung der politischen Literatur der Griechen ist unzerstörbar. Sie wird nur sehr vermindert durch eine Einseitigkeit ihrer politischen Auffassung, welche wir bald erörtern werden und die sich ebenfalls auf das neuere politische Leben übertragen hat.

Die ersten Anfänge dieser Literatur gewahren wir in den großen Seestädten, deren politische, soziale und intellektuelle Entwicklung sehr rasch verlief. Hier entstand das Bedürfnis, den mythischen Glauben an die gesellschaftliche Ordnung durch eine metaphysische Begründung zu ersetzen. Und zwar begann eine solche erste theoretische Betrachtung der Gesellschaft, indem die soziale Ordnung als solche mit dem metaphysischen Zusammenhang des Weltganzen in Beziehung gesetzt wurde. Heraklit ist der mächtigste Repräsentant dieser metaphysischen Begründung der gesellschaftlichen Ordnung; aber auch die Reste der pythagoreischen Ideen deuten auf eine solche, obwohl dieselbe augenscheinlich mit mythischen Bestandteilen sehr versetzt war.


Die griechische Auffassung der gesellschaftlichen Ordnung trat in ein neues Stadium in dem Zeitalter der Sophisten. Das Auftreten von Protagoras und Gorgias bildet den Anfangspunkt dieser großen intellektuellen Umwälzung. Indessen wäre es irrig, den Stand der Sophisten (mit welchem Namen zunächst ein verändertes Unterrichtssystem in Griechenland, nicht eine Veränderung der Philosophie bezeichnet wurde) für den Wechsel in den politischen Vorstellungen, welcher nun eintrat, verantwortlich zu machen. Die Theorien der Sophisten folgen nur einer gänzlichen Veränderung der sozialen Gefühle und sind ihr Ausdruck. Diese wurde hervorgerufen durch die allmähliche Zerstörung der alten Geschlechterverfassung, in welcher das Individuum noch als Bestandteil einer Gliederung der Gesellschaft sich gefühlt hatte und von der es nach seinen wesentlichen Lebensbeziehungen umfaßt worden war. Noch die Tragödie des Äschylus gestaltete darum so tief die Mythen einer vergangenen Zeit, weil sie noch die diesen zugrunde liegenden Verhältnisse und Gefühle nachempfand. Nun wurde eine individualistische Richtung in den Interessen, den Gefühlen wie den Vorstellungen herrschend. Athen ward der Mittelpunkt dieser Veränderung der sozialen Gefühle. Die so eintretende Umwälzung wurde allerdings mächtig befördert durch die Zentralisation[219] der intellektuellen Bewegung in dieser Stadt und den in ihr um sich greifenden skeptischen Geist. Anaxagoras schuf in Athen eine herrschende Macht intellektueller Aufklärung im fünften Jahrhundert; es darf angenommen werden, daß dann Zeno dort erschien und durch seine skeptische Geistesrichtung Einfluß gewann; das Auftreten des Protagoras sowie des Gorgias beförderte weiter denselben Geist skeptischer Aufklärung in der Stadt. Waren die Sophisten auch nicht die Urheber der Umwälzung, welche sich im Leben und Denken der griechischen Gesellschaft jener Tage vollzog: dieselbe ward doch außerordentlich unterstützt, als, dem Bedürfnis einer Zeit entsprechend, in welcher die Rede zum mächtigsten Mittel geworden war, Einfluß und Reichtum zu erringen, dieser neue Stand von Vertretern eines höheren Unterrichts die athenische Jugend an sich zog. Ein Ideal von persönlicher Ausbildung entstand, in dessen Sinne später ein Cicero im Redner das Lebensideal eines römischen Mannes sah: der Humanismus hat in der Folgezeit nicht nur die Kultur der Alten, sondern auch dies ihr Bildungsideal erneuert und dadurch die unselige Vorherrschaft einer formalen Bildung unter uns herbeigeführt. In der Lehrtätigkeit der Sophisten ist von diesem allen die Wurzel; von ihr ging der Geist der Rhetorenschulen aus, die sich über die alte Welt verbreiteten. Vergeblich haben Plato und Aristoteles im Kampfe gegen die Sophisten im Gegensatz zu dem armseligen Rhetor Isokrates diese Krankheit des griechischen Lebens bekämpft; vergeblich, weil die Sophisten nur in dem Privatunterrichtssystem der griechischen Politien, in welchem die Schule der freien Konkurrenz anheimfiel, gerade das geboten haben, was den herrschenden Neigungen entsprach. Ein Privatunterrichtssystem kann eben nie besser sein als der Durchschnittsgeist einer Zeit. So floß denn in unzähligen Kanälen der individualistische und skeptische Geist, wie er sich seit der Mitte des fünften Jahrhunderts entwickelt hatte, abwärts dem Niveau der Massen entgegen, um sich dort zu verteilen, vermittels der Volksversammlungen, der Theater, des neuen sophistischen Unterrichts, zunächst in Athen und dann von diesem Zentrum aus über ganz Griechenland.

Jedoch zeigt die erste Generation der Sophisten noch keine entschiedene und klare negative Stellung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung gegenüber. In dem Relativismus des Protagoras lagen die Prämissen einer solchen negativen Haltung. Auch war Protagoras nicht der Kopf, ihre Tragweite zu übersehen.187 Aber hätte er die Konsequenzen dieses Relativismus bereits wirklich entwickelt, so wäre der Mythus, welchen Plato in seinem Namen in dem nach[220] ihm bezeichneten Dialog vortrug, unerklärlich. Gorgias, ein Genie der Sprache, von einem weisen Verhältnis zum Leben, eine neutrale und in bezug auf die sittlichen und gesellschaftlichen Probleme von keinem starken Affekt bewegte Virtuosennatur, ließ die sittlichen Ideale des Lebens in ihrer mannigfachen Tatsächlichkeit bestehen188; sie bildeten ihm die Voraussetzung seiner Technik, welche nur die Kraft und Kunst, Glauben hervorzurufen, zum Gegenstand hatte.

Dennoch lag in der Bewegung, welche die Sophisten der ersten Generation hervorriefen, der Ausgangspunkt einer negativen Philosophie der Gesellschaft. Die ungeheure Wandlung der geistigen Interessen, wie sie in diesem Zeitalter stattfand und das große Werk der Sophisten ist, an die in dieser Rücksicht Sokrates sich anschloß, läßt nunmehr geistige Tatsachen, Sprache, Denken, Beredsamkeit, Staatsleben, Sittlichkeit als Gegenstand von wissenschaftlicher Forschung in den Vordergrund treten. An diesen geistigen Tatsachen und ihrer Betrachtung ging erst im Gegensatz zu den materiellen Vorstellungen von Seele ein Bild dessen auf, was im Geiste vollbracht wird. Dieselbe Wandlung der intellektuellen Entwicklung stellte andererseits jedes Phänomen unter den Gesichtspunkt der Relativität. Und so mußte die kluge Mäßigung der ersten Generation der Sophisten gegenüber der gesellschaftlichen Ordnung Griechenlands und den religiösen Grundlagen derselben schrittweise einer radikaleren Haltung Platz machen.

Zwischen der ersten und zweiten Generation der Sophisten steht Hippias. Auch in seiner Person spürt man, in einer anderen Modifikation als in der des Protagoras oder Gorgias, die Luft einer ganz veränderten Zeit. Virtuose Vielseitigkeit, deren intellektueller Ehrgeiz über die kleinen Politien hinausgewachsen ist, sonnt sich im Glanze einer Zeit, in welcher die Kunst weltlich und ein Ausdruck schönen Lebensbedürfnisses, jedes wissenschaftliche Problem Gegenstand radikaler Debatten geworden ist und in welcher Reichtum und Ruhm auf dem weiten Theater der griechisch redenden Völker in ganz neuem Maßstab zu erwerben waren. Ich habe dargelegt, daß der Gegensatz zwischen dem göttlichen, ungeschriebenen Gesetz und der menschlichen Satzung, welcher von Sophokles mit der eindringlichen Gewalt des Dichters ausgesprochen worden ist, durch Archelaus und Hippias eine wissenschaftliche Formulierung erhalten hat.189 Das göttliche Weltgesetz, welches für die Metaphysik eines Heraklit der hervorbringende Grund aller gesellschaftlichen Ordnung der einzelnen Staaten gewesen war, wird von Hippias zu diesen Einzelordnungen in Gegensatz gestellt.[221] Gesetz der Natur und Satzung des einzelnen Staates sind die Schlagworte der Zeit, und dieser Gegensatz wird von nun an in den ganz verschiedenen Erscheinungen des geistigen Lebens aufgesucht.

Doch war ein weit radikaleres Verhältnis zu der gesellschaftlichen Ordnung in dem Relativismus eines Protagoras angelegt, und es wurde in der zweiten Generation der Sophisten entwickelt. Nun wird die gesellschaftliche Ordnung aus dem Spiele des Egoismus von Individuen abgeleitet, wie in der Schule Leukipps die Ordnung des Kosmos aus dem Spiele der Atome. Es entsteht eine metaphysische Kosmogonie der sittlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Die ganze metaphysische Maschinerie dieses radikalen Naturrechts, wie sie uns in Hobbes und Spinoza wieder begegnet, findet sich in dieser Kosmogonie der Gesellschaft schon angewandt: der Kampf starker, den Tieren vergleichbarer Individuen untereinander in einem gesetzlosen Leben um Dasein und Macht; der Vertrag, in welchem eine gesetzliche Ordnung entsteht und Ordnung nunmehr zwar vor dem Schlimmsten der Vergewaltigung schützt, jedoch zugleich den Weg zu dem höchsten Glück schrankenloser Herrschaft versperrt; die Entstehung von Sittlichkeit und Religion als einer Ergänzung der Staatsgesetze im Interesse der Vielen oder der Starken; endlich die Fortdauer des egoistischen Interesses in den Individuen als des wahren Hebels der gesellschaftlichen Bewegungen.190 Euripides ist der dichterische Vertreter dieser neuen individualistischen Zeiten, und er hat in seinen Schauspielen solche radikale Theoreme als Grundlage der Handlungen bestimmter Personen mit einer Energie hingestellt, welche sein persönliches Interesse durchblicken läßt. Aristophanes hat in einer berühmten Wechselrede den Satz, daß es kein der Gewalt gegenüber selbständig begründetes Recht gebe, als einen Streitsatz seiner Tage verspottet. Und wie auf dem Theater, so ließ sich dies radikale Naturrecht auch in den politischen Versammlungen vernehmen; soviel wenigstens kann aus den Reden des Thukydides geschlossen werden, welches auch der Grad ihrer Authentizität in jedem einzelnen Falle sein mag.191[222]

Die Grenzen dieses Naturrechts sind bedingt durch die dargelegten Schranken des griechischen Menschen und der griechischen Gesellschaft. Nirgend handelt es sich im griechischen Naturrecht um die subjektiven Rechtssphären der in der Gesellschaft zusammenwirkenden Individuen; nirgend ist das Ziel dieses Naturrechts die Freiheit in solchem Verstande. Das Streben des Individuums ist nach diesen radikalen Schriften nur auf den Anteil der gesellschaftlichen Atome an der Macht und dem Nutzen der so entstehenden Ordnung gerichtet. So stützten sie hier die Tyrannis, dort den Gedanken einer demokratischen Gleichwertigkeit dieser gesellschaftlichen Atome in der Staatsordnung, und hier wie dort ist ihr letztes Wort die Sklaverei jedes höheren und idealen Willens. Andererseits ist diese naturrechtliche Metaphysik in der gemäßigten Schule, die Hippias repräsentiert, nur auf die Sonderling einer objektiven Ordnung der Natur von der Satzung des einzelnen Staates gerichtet. An diese Schranken stößt die zynische und stoische Staatslehre, aber durchbricht sie nicht. Sie verhält sich auf diesem Gebiet zu unserer modernen Rechtsanschauung ganz so, wie sich der sophistische und skeptische Relativismus zu der modernen Erkenntnistheorie verhält.

So lagen in dieser Bewegung die Keime zu den verschiedenen Richtungen derjenigen Theorie der Gesellschaft, welche als Naturrecht bezeichnet wird. Das Naturrecht ist, nachdem es nunmehr ausgebildet war, in verhältnismäßig stetiger Sukzession von den alten Völkern auf die neueren übergegangen. Es ist auch im Mittelalter in einer breiten Literatur gepflegt worden. Aber seine Herrschaft und seine praktische Wirksamkeit war auch bei den neueren Völkern durch das Eintreten desjenigen Stadiums der gesellschaftlichen Entwicklung bedingt, in welchem es bei den alten Völkern entstanden war. Erst mit dem Niedergang der feudalen Ordnungen bei dieser zweiten Generation europäischer Völker erhebt sich das Naturrecht derselben zu einer leitenden Stellung in der Geschichte der Gesellschaft. Es vollbrachte nun sein negatives Werk, als dessen Beschluß die Wirkung eines Rousseau auf die Revolution, eines Pufendorf, Kant und Fichte auf die deutsche Reformarbeit angesehen werden muß. Denn seinen Ausgangspunkt bildet eben das Einzelindividuum, der abstrakte Mensch, durch Merkmale bestimmt, welche zu allen Zeiten gleichmäßig ihm zukommen, in abstrakten Beziehungen, welche aus diesen Merkmalen auf einem gleichsam abstrakten Boden folgen. Aus solchen Prämissen folgert das Naturrecht allgemeine Bestimmungen einer jeden gesellschaftlichen Ordnung. Diese werden ihm der Maßstab für die Kritik der alten europäischen Gesellschaft und für die Neuordnung einer künftigen. So erhielt diese Begriffsdichtung in der Revolution[223] und ihrem Versuch eines Aufbaus der Gesellschaft auf die abstrakten Menschenatome eine furchtbare Realität.

Das Naturrecht kann als eine Metaphysik der Gesellschaft bezeichnet werden, wenn der Ausdruck Metaphysik in diesem engeren Sinne gestattet wird, in welchem er eine Wissenschaft ausdrücken würde, die den ganzen objektiven, inneren Zusammenhang der gesellschaftlichen Tatsachen in einer Theorie darstellt. Von Metaphysik in vollem Verstande unterscheidet sich das Naturrecht eben dadurch, daß seine Absicht nur auf die Konstruktion des inneren Zusammenhangs der Gesellschaft gerichtet ist; daher es gerade in seiner vollkommensten Gestalt nicht einen objektiven inneren Zusammenhang aller Erscheinungen dem Studium der Gesellschaft zugrunde legt, sondern diesen Gegen stand selbständig behandelt. In diesen Grenzen hat es die Eigenschaften einer Metaphysik. Es analysiert nicht die Wirklichkeit, sondern setzt sie aus abstrakten Teilinhalten von Individuen als aus veris causis zusammen und betrachtet dem so entstehenden Zusammenhang als die reale Ursache der gesellschaftlichen Ordnung.192

Hat sich nun dieser soziale Atomismus in der damaligen Lage der Wissenschaft fruchtbarer für die Spezialerklärung der gesellschaftlichen Phänomene erwiesen, als der naturwissenschaftliche für die Erscheinungen des Kosmos ? Die erhaltenen Trümmer des damaligen Naturrechts erlauben kein ganz ausreichendes Urteil. Doch können wir auch hier ein Verhältnis noch feststellen, welches dem an der Naturwissenschaft derselben Zeit beobachteten analog ist.193 Das Naturrecht ging von den psychischen Einheiten aus und beabsichtigte eine Erklärung der bürgerlichen Gesellschaft, wie eine einzelne polis sie umschließt; denn dieser konkrete politische Körper bildet den Gegenstand der griechischen politischen Wissenschaft. Nun sind die psychologischen Grundvorstellungen von Interesse, Befriedigung, Nutzen, deren sich das sophistische Naturrecht bedient, höchst unvollkommen. Zwischen den psychologischen Grundvorstellungen und der komplexen Tatsache dieses politischen Ganzen liegen alsdann Zwischenglieder, wie Arbeitsteilung, Nationalreichtum, Stufen des wissenschaftlichen Lebens, Formen des Familienrechts und der Eigentumsordnung, religiöser Glaube und seine selbständige Kraft usw., deren wissenschaftliche Bearbeitung erst das exakt wissenschaftliche Studium des komplexen politischen Ganzen bedingt. Diese Tatsachen können aber nur durch abstrakte Wissenschaften bearbeitet werden, welche verwandte Teilinhalte des psychischen Lebens, wie sie die Gesellschaft enthält, zusammenordnen; dies ist im ersten Buche gezeigt[224] worden. Während nun die entsprechenden abstrakten Wissenschaften innerhalb der Naturforschung erst in der alexandrinischen Zeit in sehr vereinzelten Ansätzen sich zu bilden begannen, bestanden die technischen Theorien der Grammatik, Logik, Rhetorik, Poetik, Nationalökonomie, juristischen Technik schon früh; das Bedürfnis der Gesellschaft hatte sie hervorgebracht, wie auch dies das erste Buch gezeigt hat. Trotzdem haben die Vorstellungen der Griechen über Arbeitsteilung über die Faktoren des Nationalreichtums, über das Geld niemals eine erheblich höhere Stufe erreicht als die über Druck, Bewegung und Schwere, und die Griechen haben innerhalb dieser Spekulationen, soweit wir sehen, niemals von exakten juristischen Begriffen Gebrauch gemacht. Daher war ihre naturrechtliche Konstruktion der Gesellschaft ganz ebenso zu einer verhältnismäßigen Unfruchtbarkeit verurteilt wie ihre atomistische Konstruktion des Kosmos. Auch auf diesem Gebiet fiel der sokratischen Schule, der Metaphysik der substantialen Formen der Sieg für lange Jahrhunderte zu gegenüber der Metaphysik gesellschaftlicher Atome.


Die sokratische Schule war aus dem Bedürfnis entsprungen, inmitten der relativen Wahrheiten, welche die Sophistik übrigließ, einen festen Punkt zu entdecken. Ein solcher kann innerhalb des griechischen Vorstellungsschemas entweder in der Richtung der Abbildung des objektiven Seins im Denken oder in der Richtung der Bestimmung des Seins durch das Handeln gesucht werden. Er ist gegeben als Substanz in der Wirklichkeit oder als höchstes Gut in der Welt des Willens und Handelns, sei es der einzelnen oder der Gemeinschaften. Sokrates ließ die Möglichkeit eines festen Punktes für die Welterkenntnis fallen; er fand dagegen einen solchen für das Handeln, nämlich in den sittlichen Begriffen. Diese Sonderung der theoretischen und praktischen Philosophie bezeichnet eine Grenze, welche aus der des griechischen Geistes überhaupt folgt. Daß im Inneren, im Innewerden der feste Punkt für alle Erkenntnis, auch der objektiven Welt, liege: dieser Gedanke liegt selbst außerhalb des Gesichtskreises des Sokrates. Erst wann diese klare Einsicht vorhanden ist, tritt die sittliche Welt, der feste Punkt alles Handelns in ihr, in den umfassenden Zusammenhang der menschlichen Wissenschaft. Mit ihr ist erst die falsche Sonderung der theoretischen und praktischen Wissenschaften überwunden, und die wahre Sonderung der Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften kann begründet werden.

Indem Sokrates in den sittlichen Begriffen ein Unveränderliches entdeckt, empfängt auch die politische Wissenschaft ein klares Ziel. Das Ziel des Staates entsteht nun nicht aus dem Spiele der[225] denselben bildenden Atome. Vielmehr ist für Sokrates im Wissen unverrückbar fest ein Punkt gegeben, um welchen die Individuen gravitieren: das Gute. Das Gute ist nicht relativ, sondern unbedingt gewiß. Dies Ziel ordnet sich also als der die Gliederung des Staates beherrschende Gedanke die einzelnen unter. Diese politische Auffassung des Sokrates tritt in Gegensatz zu der herrschenden Demokratie und zu der Gleichberechtigung jedes gesellschaftlichen Atoms in bezug auf die Leitung des Staates, welche diese Demokratie am schroffsten in der Zuteilung von Staatsämtern durch das Los ausdrückte. Das Wissen macht zum Herrscher; es ist die Vorbedingung des Anteiles an der Staatsleitung.

Platos großer organisatorischer Geist konstruiert von diesem Gedanken aus den idealen Staat als ein Gegenbild des äußeren Kosmos, den Staat als Kunstwerk. Er fand die athenische Gesellschaft in soziale Atome aufgelöst; so faßte er den Gedanken, die Beziehung zwischen politischem Wissen und Können und den Anteil an der Staatsleitung nicht in das vorhandene politische Gefüge einzuordnen, sondern von diesem abstrakten Verhältnis aus den Staat zu konstruieren; bei den neueren Völkern hat dann dieser Gedanke auf die vorhandene Realität der Staatsordnungen fortbildend eingewirkt, und so erscheint Plato als weissagender Genius in bezug auf wesentliche Züge des modernen Beamtenstaates. Er fand alsdann, umgeben vom Ringen der Politien um die Herrschaft und vom Kampf der Interessen, die höchste Konzentration aller Einzelinteressen und Einzelkräfte in dem von ihm entworfenen einsichtigen, einheitlichen Staatswillen notwendig; daher stattete er seinen idealen Staat mit den äußersten Mitteln aus, welche in dem Bereich des ohnehin mit dem Eigentum wie mit der Freiheit in künstlerischer Machtvollkommenheit schaltenden griechischen Staates lagen, um diese Unterordnung der Einzelwillen, der Einzelinteressen unter die leitende Vernunft herzustellen. So entsteht eine Gliederung, in welcher die Einsichtigen regieren, die Starken sie unterstützen, die im Erwerb versunkene Masse gehorcht: ein Abbild der Psyche. Die Tugenden der Teile der Seele sind die der Stände des Staates. Wie das Streben nach dem Guten in der Beziehung der Psyche zu der Ideenwelt gegründet ist, so gestaltet dasselbe auch im Zusammenhang mit der Ideenwelt das Ideal eines gesellschaftlichen Kosmos, den Staat, als eine zwar entstandene, aber durch die Abmessung der Kräfte in den Seelen unzerreißbar gefügte Einheit. Die politische Kunst gestaltet nach den Ideen der Gerechtigkeit sowie der anderen Tugenden aus dem Stoffe der Seelen den gesellschaftlichen Kosmos, wie der gute Gott den äußeren Kosmos gebildet hat. So entsteht der Mensch im großen: eine reale Einheit wie der Einzelmensch.[226]

Die innere Unhaltbarkeit dieser Art von Metaphysik der Gesellschaft ist augenscheinlich. Die Analogie des Menschen im großen verschiebt nur das Problem, wie aus Einzelwillen Gesamtwille, d.h. ein Gefüge der Willen, welches einheitlich wirkt, entstehe. Plato hat seine Aufgabe weder für die Einzelseele noch für den Staat gelöst. Vielmehr bilden seine Seelenteile sowenig eine wirkliche psychische Einheit als seine drei Stände eine einheitliche Gesellschaft ausmachen können.

Da Plato nicht von den Interessen der Individuen ausging, von der Realität der menschlichen Natur, wie sie einmal ist194, entstand ihm nicht das Gefüge der Interessengemeinschaft, welches die Unterlage des wirklichen Staates bildet; vielmehr hat er dieses als das Niedrige mißachtet und Arbeit, Gewerbe, Handel keiner Untersuchung unterzogen. Die hier zugrunde liegende falsch vornehme Richtung ist derjenigen verwandt, welche die Griechen auf dem Gebiet der Naturerkenntnis überall zeigen. So bleiben Gedanke und physische Gewalt, den Staat zusammenzuhalten, dagegen gehen die Interessen der Stände in ihm auseinander und müssen ihn zerreißen. Mit einer Art von Absolutismus des Gedankens werden die realen Interessen der Individuen als bloßes widerstrebendes Material für den politischen Künstler behandelt, anstatt daß das Gefüge von Abhängigkeit und Gemeinschaft, welches als ein Staatswille sich darstellt, als die Wirkung der Interessenvereinigung erkannt worden wäre. So wird hier ein Staat in die Luft gebaut. Es entsteht eine konzentrierteste, aber zugleich dem Spiele der Interessen gegenüber ohnmächtige Einheit. Dieser Mensch im großen ist ein Tropus; die in diesem Tropus behauptete reale Einheit des Staates ist nicht nur unfaßbar – das bleibt sie immer und überall, da sie eben Metaphysik ist –, es wird auch nicht versucht, den Tropus durch Begriffe aufzuklären. So folgenschwere inhaltliche Mängel verknüpfen sich mit einem allgemeineren Fehler methodischer Art. Der Staat soll verstanden werden, bevor die Interessen und Zweckzusammenhänge analysiert sind, welche seine Realität im Menschen, bilden, vermöge deren er lebt und Kraft hat. Dieser Fehler hat zur Folge, daß an die Stelle des Zusammenhangs von Tatsachen (Zweckzusammenhängen, Interessen) das metaphysische Fabelwesen des Menschen im großen tritt.195


Aristoteles hat versucht, eine Formel an die Stelle dieses Tropus zu setzen. Er will den Begriff der realen Einheit, welche Staat[227] ist, entwerfen. Seine Staatslehre ist gerade dadurch auch hier so belehrend, daß sie zeigt, wie dieser fundamentale Begriff der sozialen Metaphysik mit den anderen metaphysischen Hauptbegriffen die Eigenschaft teilt, der vollständigen Auflösung in einfach klare Gedankenelemente zu widerstehen.

Es ist dargelegt, daß die Subjekte für Aussagen über die gesellschaftliche Wirklichkeit in den Individuen gegeben sind. Die Subjekte der Aussagen über die Natur sind uns unzugänglich, dagegen die des gesellschaftlichen Lebens, des Tuns und Leidens wie der Zustände in demselben sind in der inneren Erfahrung enthalten.196 Aristoteles hat nun die vernünftigen Einzelwesen als Substanzen bestimmt. Er hat andererseits im Zusammenhang seiner Metaphysik den Staat, welcher aus solchen Einzelwesen besteht, als eine Einheit angesehen, die nicht eine nachträgliche Zusammenfügung derselben ist. Zwar hat er den Begriff des Staates seiner Metaphysik nicht eingeordnet, da diese vor der praktischen Welt, sonach gerade vor dem großen Problem des Willens endigt und in seinem System das Gebiet der praktischen Vernunft von dem der theoretischen Wissenschaft gesondert ist. Aber die Prämissen seiner Auffassung von der Einheit des Staates sind die folgenden. Der teleologische Zusammenhang zeigt in dem Reiche der organischen Wesen eine Steigerung der Funktionen; sie entspricht der Steigerung des Psychischen. Die Gattung des Menschen ist so die höchste der substantialen Formen in der Stufenreihe der organischen Wesen. Die Einzelwesen in dieser menschlichen Gattung sind aber noch auf andere Weise verbunden als dadurch, daß sie eine substantiale Form verwirklichen. Die einzelnen Menschen befinden sich in gesellschaftlichen Ganzen, innerhalb deren die Individuen sich wie Teile verhalten. Solche Ganze bilden schon Bienen und andere herdenweise lebende Tiere, in einem viel engeren Verbande aber der mit Sprache und Verstand zu diesem Zwecke von der Natur begabte Mensch, welcher das Vermögen der Unterscheidung von Recht und Unrecht besitzt. Diese Gemeinschaft (Koinonie) ist als Familie untrennbar mit Menschendasein überhaupt gegeben, und indem diese zur Dorfgemeinde, weiter zur Polis sich ausdehnt, erreicht in der letzteren das in der Natur angelegte Gemeinschaftsstreben das Endziel der Autarkie, d.h. des völligen Selbstgenügens; die Polis ist der Zweck der mehr elementaren Formen von Gemeinschaft, der in den weniger zusammengesetzten schon wirksam ist. In diesem Zusammenhang tritt die Formel des Aristoteles auf, daß der Staat ein Ganzes bilde, welches vor den Familien und Individuen als seinen[228] Teilen sei.197 Diese Formel drückt aus, daß der Staat nicht ein Werk menschlicher Willkür sei, sondern ein in der Physis begründetes System. In der Physis, in welcher der Zweck wirkt, ist ein Zusammenhang von Bestimmungen angelegt, welche nur durch die einzelnen Individuen und in ihnen sich verwirklichen, welche aber diese Individuen der Zusammenordnung (taxis) in einer Politie zuführen, da erst in dieser das Ziel der Eudämonie auf selbstgenugsame Weise erreicht wird. Solche Bestimmungen sind z.B. die Ungleichheit der Individuen, der Gegensatz der Herrschenden und Beherrschten, die Proportion von Leistung und politischer Macht. Sie besitzen die Notwendigkeit des Zweckes. Und zwar besteht das System (systêma), zu welchem die Menge (plêthos) durch den Zweck in der Politie geordnet ist, aus ungleichartigen Bestandteilen. Auch geht das Individuum in diesem Zweck nicht ganz auf. Das Zusammenwirken von ungleichartigen einzelnen als von Teilen zu einem Ganzen kann mit dem der Teile innerhalb eines Organismus verglichen werden. Der einzelne Mensch verhält sich zum Staatsganzen wie Fuß oder Hand zu einem Körper.

So bereitet sich in Aristoteles die Auffassung des Staates als eines Organismus vor, welche eine so verhängnisvolle Rolle in der Geschichte der politischen Wissenschaften gespielt hat. Der Begriff des Organismus ist in seiner Art das letzte Wort dieser Metaphysik des Staates. Und zwar ist derselbe, wie jeder Begriff der Staatseinheit, welcher diese nicht analytisch aus der Wirklichkeit des Staatslebens bis zu einem gewissen Punkte aufklärt, eine metaphysische Begriffsdichtung. Was im sozialen Leben erfahren wird, kann die Analysis in einem gewissen Umfang zerlegen, aber nie vermag sie, in einer Formel den Reichtum des Lebens auszudrücken.198 Daher ist die Realität des Staates nicht in einer bestimmten Zahl begrifflicher Elemente darstellbar. Dies zeigt sich schon hier, bei Aristoteles, in der Dunkelheit des von ihm gebildeten Gedankens des Staates als eines organischen Ganzen, und diese Dunkelheit als in der Sache selber liegend ist nie überwunden worden.199

Dennoch hat die Betrachtungsweise des Aristoteles, welche den Staat als einen realen Zweckzusammenhang dachte, sich für ein vergleichendes Studium des Staates höchst fruchtbar erwiesen. Sie hat auf dem Gebiet des Geistes eine nahezu ebenso eingreifende Arbeit für das Studium des Staates vollbracht, als die Zweckbetrachtung des Aristoteles auf dem der Natur für die biologischen Wissenschaften geleistet hat. Ja auf dem politischen Gebiet hatte diese Betrachtungsweise ein noch höheres Recht. Zwar kann der Staat nicht[229] als die Realisierung eines einheitlichen Zweckgedankens aufgefaßt werden; selbst der von Aristoteles so gesund entwickelte Zweckbegriff der Eudämonie200 ist nur eine abstrakte Formel. Aber in Wirklichkeit bilden doch Wille, Interessen und Zwecke das Gefüge des Staates, und daher darf die von Aristoteles in der Gesellschaft angenommene Richtung auf Verwirklichung der Eudämonie wenigstens als eine unvollkommene Abbreviatur des Tatbestandes angesehen werden. Die Betrachtung aus dem Zwecke, die Aristoteles anwendet, gelangt daher hier auf den Boden der Tatsächlichkeit. So konnte sie durch eine komparative Analyse der Staaten die Grundzüge ihrer Struktur feststellen und die Hauptformen des politischen Lebens bestimmen. Und sie hat diese Leistung mit solcher Vollendung ausgeführt, daß die so geschaffenen Begriffe ihren Wert bis heute behauptet haben. Diese Arbeit des Aristoteles und seiner Schule war die Vorbedingung erklärender Methoden auf dem Gebiet der Staatswissenschaften, wie sie dieselbe auf dem der Biologie gewesen ist.

So hat auch hier die Metaphysik der substantialen Formen sich in einem Stadium der Wissenschaft fruchtbar erwiesen, in welchem die Mittel einer Zerlegung in den Zusammenhang der Vorgänge nach Gesetzen noch nicht vorhanden waren.

Alle Verbandsverhältnisse, dies zeigte unsere eigene theoretische Erörterung201 folgerecht auch der Staat, sind, psychologisch angesehen, aus Verhältnissen der Abhängigkeit und Gemeinschaft zusammengesetzt. Aus diesem System der passiven und aktiven Willensbestimmungen entspringt das psychologische Verhältnis von Befehlen und Gehorchen, von Obrigkeit und Untertan, auf welchem die Willenseinheit des Staates begründet ist. Aber dieses System von Abhängigkeiten und Gemeinsamkeiten ist nur die Außenseite der realen Beziehungen der Interessen untereinander. Die inhaltlichen Faktoren des Staatslebens liegen insbesondere in den Zwecken und Interessen, welche nicht durch das freie Ineinandergreifen der Handlungen der Individuen zur Befriedigung gelangen. Hier gewahren wir die reale Seite dessen, was, nach den bloßen Willensverhältnissen betrachtet, als Mechanik der Gesellschaft und des Staatslebens sich darstellt und in der Existenz eines herrschenden Staatswillens seinen Abschluß findet. Diesen Status der äußeren Willensverhältnisse in einem Staate können wir als Staatsform oder auch als Verfassung bezeichnen.

Diesem Tatbestand entspricht, daß die politische Wissenschaft in Aristoteles zunächst durch Anwendung der vergleichenden Methode die äußeren Formen oder die Verfassungen bestimmt hat. Das reale[230] Leben des Staates ist so außerordentlich komplex, daß selbst die moderne, wahrhaft analytische Wissenschaft noch am Anfang seiner wissenschaftlichen Behandlung steht. Das Altertum besaß aber die Bedingungen eines solchen wahrhaft analytischen Verfahrens noch gar nicht. Ihm fehlten eine entwickelte Psychologie und die zwischen ihr und der Politik stehenden Einzelwissenschaften. Der Zusammensetzung der realen Zwecke im Leben des Staates gegenüber war es so an einer fruchtbaren Analysis gehindert, welche erst sehr spät Wissenschaften wie die politische Ökonomie und Schriftsteller wie Niebuhr, Tocqueville zu vollbringen begonnen haben.

Sonach war die griechische Staatswissenschaft auf ihrem Höhepunkt in Aristoteles vorzugsweise Zergliederung der Verfassungen. Durch diese Einschränkung der Betrachtungsweise ist bedingt, daß dem Aristoteles der Staat ein anderer wird, wenn die Staatsverfassung sich ändert. Der Staat (polis) ist eine Gemeinschaft (koinônia), das Wesen dieser Gemeinschaft (koinônia politôn) wird durch die Verfassung (politeia) bezeichnet; sonach ändert sich mit der Verfassung der Staat. Die Personen bleiben dabei dieselben, wie ja dieselben Personen den tragischen Chor bilden und aus ihm in den Chor der Komödie eintreten. Aristoteles gewahrt nicht hinter dem Wechsel der Staatsform die dauernde Interessengemeinschaft des Volkes, welche das den politischen Zusammenhang Konstituierende ist, sondern ihm ist die Staatsverfassung das Wesenhafte, welches den Staat ausmacht.202 Dem entspricht, daß sich ihm der Politiker zu den Staatsbürgern verhält, wie der Künstler zu seinem Stoffe. Die Masse bildet das Material für den Aufbau des Staates.203 So substituiert Aristoteles einen falschen Gegensatz von Stoff und Form dem realen Zusammenhang der Gesellschaft, und dieser Gegensatz ist auf dem Gebiet der Staatswissenschaft ebenso verhängnisvoll für ihn gewesen, wie auf dem der Naturwissenschaften. In Wirklichkeit sind im Staate überall bildende Kraft, Zweckzusammenhang, Interessenbeziehungen, und überall Stoff: denn überall ist Person. In den Lebenszwecken des Volkes, welches ihn ausmacht, ist auch das Leben des Staates gegründet. Hier aber verschwindet, wie in gewissem Grade für den griechischen Menschen überhaupt, das historische Bewußtsein von Naturwachstum ganz hinter dem Machtgefühl des politischen Menschen, der den Staat wie ein bildender Künstler zu kneten beansprucht. Und zugleich tritt das Bewußtsein von Rechtskontinuität zurück; wie denn Aristoteles in obigem Zusammenhang die weitere Frage aufwirft, inwiefern nach Veränderung der Staatsverfassung die Verbindlichkeiten, welche der frühere Staat eingegangen ist, fortbestehen oder ebenfalls aufhören.[231]

Und so bestätigt sich auf überraschende Weise auch innerhalb der Geisteswissenschaften das von uns aufgestellte Gesetz der Entwicklung der europäischen Wissenschaft. Dieselbe sucht zunächst die so sehr zusammengesetzte Wirklichkeit direkt zu erkennen, beschreibt, vergleicht und geht auf vermutete oder von der Metaphysik untergelegte Ursachen zurück. Allmählich erst sondert sie einzelne Kreise von Teilinhalten der Wirklichkeit ab und unterwirft sie einer beharrlichen und abstrakten Kausaluntersuchung. Die Phänomene der Bewegung z.B. bilden einen solchen Kreis, die des wirtschaftlichen Lebens einen anderen. Der Gang der Erkenntnis entwickelt nun in abstrakten Wissenschaften die Grundeigenschaften der innerhalb der einzelnen Kreise zusammengehörigen Teilinhalte und ersetzt z.B. Zweckvorstellungen, wie Aristoteles sie als Erklärungsgründe benutzte, durch angemessene Begriffe. Metaphysik in ihrer herrschenden Stellung innerhalb der Wissenschaften ist eine dem ersteren Stadium der Betrachtung korrelative Tatsache gewesen.

Die äußere Organisation der Gesellschaft in Staaten hat am stärksten die Blicke der Forscher auf sich gezogen, welche die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand machten. Denn hier bot sich das merkwürdige Phänomen einer über die einzelnen Willen sich erhebenden Willenseinheit. Dies Phänomen mußte den Griechen noch weit erstaunlicher als den monarchischen Völkern des Ostens erscheinen. Denn letzteren stellte sich die Willenseinheit in ihren Königen auf eine persönliche Weise dar, dagegen war sie in diesen griechischen Politien gleichsam körperlos. Dies Problem der Willenseinheit im Staate beschäftigte die als Sophisten bezeichneten Schriftsteller. Miteinander ringende Staaten bilden das Objekt der großen griechischen Historiker. Noch war der Durchschnittsmensch, wie er in einer gegebenen Zeit lebt, arbeitet, genießt und leidet, der Geschichte sowenig sichtbar als die Menschheit. Dasselbe Problem beschäftigte die sokratische Schule in erster Linie, und es ward Gegenstand einer Theorie der Gesellschaft, welche dem metaphysischen Standpunkt des europäischen Denkens entsprach. In der nun geschaffenen, vergleichenden Wissenschaft von Struktur und Formen der Staaten tritt die Korrespondenz zwischen einem sehr glücklichen deskriptiven Studium der politischen Formen und der Metaphysik hervor.

Diese vergleichende Wissenschaft der Staaten geht, gemäß dem Dargelegten, von der Betrachtung des Herrschaftsverhältnisses aus, wie es in der Verfassung seinen Ausdruck gewinnt. Verfassung ist für Aristoteles die Ordnung des Staates in bezug auf das Regiment der obrigkeitlichen Gewalten, insbesondere der über ihnen allen stehenden[232] souveränen Gewalt.204 Bürger ist ihm dementsprechend derjenige, welcher an den Funktionen der Staatsverwaltung und Rechtspflege teilnimmt.205 Und zwar legt Aristoteles der Zergliederung der Verfassung im ihre Formbestandteile (die zu unterscheiden ist von der Erkenntnis aus den Faktoren des Staates als einer Realität) sowie der Aufsuchung der Hauptformen von Staatsverfassungen den in der sokratischen Schule entwickelten Begriff der Beziehung zwischen der politischen Leistung und dem Anteil an der Herrschaft sowie den Gütern zugrunde. Aristoteles erweitert diesen Begriff der Leistung mit unbefangen realistischem, Tatsachen vergleichendem Geiste. – Leistung steht in Beziehung zu dem Zweck des politischen Ganzen, um dessen Leben und Wirken es sich handelt. Dieser Zweck ist in seinem System durch die aufsteigende Reihe der die Arten der Lebewesen unterscheidenden Funktionen bestimmt und besteht in der Eudämonie des Ganzen und seiner Teile, der einzelnen Bürger. Der Staat ist sonach einem lebenden, zweckmäßig wirkenden Wesen zu vergleichen. Die Verschiedenheit der Art von Eudämonie, welche das lebendige politische Ganze gemäß seinen Lebensbedingungen sucht, bestimmt die Verschiedenheit in der Schätzung der Leistungen, und dies wirkt auf den Ansatz der Proportion zwischen Leistungen und Anteilen an der Herrschaft sowie an dem Nutzen. – Diese Beziehungen konstituieren die Struktur eines politischen Ganzen. Das Bild dieser Struktur eines lebendigen Wesens vollendet sich, indem Aristoteles rückwärts die Beziehungen zwischen den Leistungen und den sie begründenden Lebensverhältnissen und Lebensbedingungen verfolgt. So entstehen die Grundlagen für eine morphologische, vergleichende Betrachtung der Staaten sowie für die geniale Theorie von den Störungen der Proportion und der Genesis der Revolutionen.

Die vergleichende Staatswissenschaft des Aristoteles hat ihre Schranke darin, daß sie für die Zergliederung nicht Kausalbegriffe aus ausgebildeten, weiter zurückliegenden Wissenschaften benutzen kann, sondern in der Hauptsache auf unvollkommene Zweckvorstellungen angewiesen ist. So schloß Aristoteles voreilig auf die Naturnotwendigkeit der Sklaverei, weil er eine in der Physis angelegte Ungleichheit der Menschen annahm, ohne ihren Ursprung in geschichtlichen Verhältnissen und die hierdurch gegebene Möglichkeit einer Überwindung derselben zu erwägen. So hat er die Sonderung des natürlich Vollkommenen, dem Zweckzusammenhang Entsprechenden von den Abweichungen, wie dieselbe in seiner Physik soviel Unheil anrichtete, auch in die Politik hinein fortgeführt; seine Sonderung der vollkommenen von den entarteten Verfassungen muß als willkürliche Konstruktion[233] einer Wirklichkeit, die nur Grade zeigt, verworfen werden. Aber am meisten verhängnisvoll wirkte die Einseitigkeit, mit welcher er in der Verfassung den Staat sah. Der politische Formalismus des Aristoteles ist für die realistische Staatsbetrachtung in hohem Grade hindernd gewesen.

Aristoteles und die aristotelische Schule bilden aber weiter den Mittelpunkt für eine unvergleichliche Tätigkeit von Sammlung, Geschichtschreibung und Theorie, welche über die Staatswissenschaft hinausreicht. Neben den Theorien über Dichtung, Beredsamkeit, wissenschaftliches Denken und sittliches Leben finden wir Geschichtschreibung der Wissenschaften, der Kunsttätigkeit, der religiösen Vorstellungen in der aristotelischen Schule. Ja Dikäarch geht in seinem bios Hellados schon zu einer kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise fort; er sondert das fabelhafte goldene Zeitalter eines mäßigen friedlichen Naturzustandes, das Auftreten des Nomadenlebens und als eine weitere geschichtliche Stufe die Seßhaftigkeit, welche der Ackerbau hervorbringt; an die Naturbedingungen Griechenlands knüpft er ein Bild des griechischen Lebens, in welchem Sitten, Lebensgenuß, Feste und Verfassungen in einer inneren Verbindung gesehen werden. So stehen die Leistungen der aristotelischen Schule für die Geisteswissenschaften in keiner Weise hinter denen für die Naturwissenschaften zurück.

Bezeichnen wir schließlich die Stellung des Studiums der menschlichen Gesellschaft innerhalb des Zusammenhangs der Wissenschaft in dem durchlaufenen Zeitraum. Wie die einzelnen Theorien über die Systeme der Kultur und über die äußere Organisation der Gesellschaft aus der Aufgabe technischer Anweisungen für das Berufsleben hervorgegangen waren, so haben sie diesen praktischen Charakter behalten, der auch der Politik die Richtung auf die beste Verfassung gab. Die theoretische Wissenschaft in strengem Verstande endigt im ganzen für diese Philosophen, wo der Wille sein Reich aufzubauen beginnt. Schon aus dieser Betrachtungsweise ergibt sich, daß diese Zeit das Problem noch nicht sah, wie Freiheit des Willens mit der Unterordnung aller Erscheinungen unter das Kausalgesetz verträglich sei. Aber dauernder als eine solche Einschränkung der Metaphysik, welche nur vorübergehend sein sollte, wirkte in dieser Richtung das allgemeine und bleibende Verhältnis der ganzen Metaphysik der substantialen Formen zum Problem der Freiheit. Diese Metaphysik unterwarf dem Zusammenhang des Erkennens nur die allgemeinen Formen der Wirklichkeit, von diesen wurde aber die Freiheit des Individuums nicht berührt. Mit beneidenswerter Sicherheit des in der inneren Erfahrung gegebenen Freiheitsbewußtseins,[234] ungestört noch von der Frage nach der Stellung desselben zu dem Kausalzusammenhang, welche die Wissenschaft aufstellt, spricht es Aristoteles aus, daß Handeln wie Unterlassen, Tugend wie Laster in unserer Gewalt sei.206

186

Die fortdauernde Macht dieser Vorstellungen kann, neben dem Beweis aus den bekannten Stellen, auch daraus erschlossen werden, daß die sophistische Aufklärung die Religion als eine Erfindung der Staatskunst auffassen konnte (Kritias bei Sextus Empiricus adv. Math. IX, 54, Plato Gesetze X, 889 E).

187

Vgl. Platos Theätet 167, 172 A. Protagoras 334.

188

Vgl. Arist. Polit. I, 13 p. 1260 a 24 mit Platos Meno.

189

S. 97 ff.

190

Die Stellen Platos müssen nach dem Kanon benutzt werden, daß, wo Konsequenzen von ihm selber gezogen werden, dies durch die Art, wie sie aus dem Gegner durch Folgern herausgelockt werden, angedeutet ist, dagegen wo die Sätze, wie von Thrasymachus und Glauko im ersten und zweiten Buch der Politie geschieht, dem Sokrates entgegengebracht werden, ein Bericht über die fremde Theorie vorliegt. Was die Darlegung der Theorie durch Glauko betrifft, so hätte Plato sie nicht einem Jüngling in den Mund gelegt, wäre sie eine selbständige Fortbildung.

191

Vgl. besonders die Erörterung zwischen den Meliern und den athenischen Gesandten bei Thukydides V, 85 ff. aus dem Jahre 416.

192

Vgl. S. 79 ff.

193

Vgl. S. 169 ff.

194

Die Ableitung der polis aus der Arbeitsteilung und dem Verkehr in Politie 369 ff. bestätigt dies nur. Denn sie zeigt, daß Plato die Tragweite der einzelnen Interessen für das Gemeinleben erwog, jedoch die Einheit des Willens in seinem Staate nicht auf sie gründen zu können glaubte.

195

Vgl. Darlegung desselben Fehlers in der Philosophie der Geschichte S. 137 ff.

196

S. 108 ff.

197

Vgl. näher Arist. Polit. I, 2 p. 1252 b 30 p. 1253 a 19.

198

Vgl. S. 95 ff.

199

Vgl. S. 70 ff.

200

Der Zweck des Staates ist die Verwirklichung der Endämonie, des eu zên oder auch der zôês teleias kai autarkous.

201

S. 68 ff.

202

Arist. Polit. III, 3 p. 1276 b 1.

203

Arist. Polit. VII, 4 p. 1325 b 40.

204

Arist. Polit. III, 6 p. 1278 b 8.

205

Ebda. III, 1 p. 1275 a 22.

206

Eth. Nic. III, 7 p. 1113 b 6. Näher Trendelenburg hist. Beiträge II, 149 ff.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 215-235.
Lizenz:
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Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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