Fünftes Kapitel
Die Theologie wird mit der Naturerkenntnis und der aristotelischen Wissenschaft vom Kosmos verknüpft

[291] Die Theologie war von ihrem Ursprung ab mit Bestandteilen der antiken Wissenschaft vom Kosmos verwoben. Sie benutzte diese Bestandteile für die Auflösung ihrer Probleme, gleichviel ob sie aus der platonischen, aristotelischen oder stoischen Philosophie stammten, wie man in die Kirchen jener Tage Marmortrümmer fügte, wo man sie fand. Formel, Verteidigung, Versuch des Beweises und der dialektischen Behandlung lagen innerhalb ihres Umkreises. Sie hatte ihre Aufklärer, ihre Freidenker im Morgen-wie im Abendlande.300

Aber in der Kontinuität der Wissenschaft erhielt und entwickelte sich die von den Griechen geschaffene Erkenntnis des Kosmos als die andere von jener Theologie ganz unterschiedene Hälfte des intellektuellen Lebens. Diese Wissenschaft vom Kosmos, die Schöpfung der Griechen, traf mit der Theologie streitend, ergänzend zusammen: so entstand erst die metaphysische Weltansicht des Mittelalters. Und zwar hob bei den Arabern die Veränderung an, in welcher das Naturwissen sich langsam durchkämpfte und die in der intellektuellen Entwicklung des Abendlandes im Mittelalter am meisten durchgreifend gewesen ist. Wir gehen sonach von den Arabern aus.

Der Gegensatz des metaphysischen Denkens der Araber wie der Juden zu dem der klassischen Völker ist ihnen selber zum Bewußtsein gekommen. Die Übersicht der metaphysischen und theologischen Ansichten des Menschengeschlechtes, wie sie Schahrastani versucht, erwähnt an ihrem Beginn eine unter den Arabern angewandte Unterscheidung,[291] nach welcher die Griechen (nebst den Persern) vornehmlich der Bestimmung der äußeren Natur der Dinge und der Beschäftigung mit den körperlichen Objekten sich widmeten, wogegen die Araber und Juden sich den geistigen Dingen und der inneren Eigentümlichkeit der Objekte zuwenden.301 Und der Kusari bemerkt dementsprechend, daß die Griechen das, was nicht von der sichtbaren Welt ausgefunden werden kann, verwerfen, wogegen die Propheten in dem, »was sie mit dem geistigen Auge gesehen haben«, den Ausgangspunkt eines sicheren Wissens besaßen und nichtgriechische Philosophen diese inneren Anschauungen in den Kreis der Spekulation aufgenommen haben.302 Gleichviel wie es sich mit der ursprünglichen oder der stetigen Richtung dieser verschiedenen Völker verhalte, solche Stellen bezeichnen richtig den Gegensatz zwischen der griechischen Wissenschaft vom Kosmos und der herrschenden Richtung einer theologischen Metaphysik bei den Arabern und Juden, wie sie bis zum Auftreten der naturwissenschaftlichen Forschung und dann der Aristotelischen Metaphysik bei den Arabern dauerte, bei den Juden aber das ganze Mittelalter hindurch nicht unterbrochen wurde. Noch klarer ist die Einseitigkeit der kosmischen Wissenschaft der Griechen im christlichen Abendlande allmählich erkannt worden.

So hatte zunächst innerhalb des eben durchlaufenen Zeitraums die Theologie (gewissermaßen eine Metaphysik der religiösen Erfahrung) das vorherrschende Interesse der Araber, Juden und abendländischen Völker in Anspruch genommen. Wohl war sie vielfach auf die von den Griechen ausgebildeten Begriffe angewiesen, und die Mutazila so gut als Augustmus oder Scotus Eriugena bedienten sich dieser in einem weiten Umfang; auch wurde diese theologische Vorstellungswelt diszipliniert durch die antike Logik und Kategorienlehre. Jedoch gestaltete sich der ganze Gedankenkreis während dieses Zeitraums um den Mittelpunkt der religiösen Erfahrungen und Vorstellungen; dieses zentrale Interesse zog die Bruchstücke griechischen Wissens an sich und ordnete dieselben sich unter. Eine Änderung in dem intellektuellen Leben des Mittelalters trat erst ein, als zunächst die Araber in dem Naturwissen der Griechen und in ihrer kosmischen Spekulation ein zweites Zentrum intellektueller Arbeit entdeckten und um dieses sich ein Kreis von Naturerkenntnis zu bilden begann.

Im Orient waren Aristoteles und einige wichtige mathematische, astronomische und medizinische Schriften der Griechen niemals verlorengegangen. Nach dem Untergange der griechischen Philosophie waren die Schulen der christlichen Syrer Hauptsitze der Kenntnis von[292] griechischer Sprache, Metaphysik und Naturerkenntnis geworden; syrische Übertragungen griechischer Schriften vermittelten die Kenntnis derselben und wurden vielfach Übersetzungen in das Arabische zugrunde gelegt.303 Und zwar war der syrische Aristoteles, wie er zu den Arabern kam, schon von dem ursprünglichen gar sehr verschieden; freilich kann das nähere Verhältnis zwischen dem syrischen Aristoteles und den Theorien der arabischen Philosophen, wie sie zuerst bei al Kindi und al Farabi auftraten, nach dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnis noch nicht zureichend festgestellt werden.304 Mit der Verlegung der Residenz der Kalifen nach Bagdad, welches in der Mitte zwischen den beiden Sitzen des Naturwissens, Indien und den Schulen griechischer Wissenschaft, lag, wurden die Araber Träger dieser Tradition und ihrer Fortbildung. Nicht viel über hundert Jahre waren damals vergangen, seitdem diese arabischen Beduinen die Grenzen ihres Landes über schritten und Palästinas und Syriens sich bemächtigt hatten, und die Geschichte hat kein zweites Beispiel eines so wunderbar raschen Übergangs aus einem verhältnismäßig niedrigen geistigen Zustande in den einer raffinierten Zivilisation. Die Kunst syrischer Ärzte, welcher diese zur Herrschaft über Asien aufsteigenden Beduinen bedurften, führte Hippokrates und Galen ein, und Naturwissen wie Theologie wiesen auf Aristoteles; Kultus und Verwaltung machten mathematische und astronomische Kenntnis notwendig: eine edle wissenschaftliche Neubegier bemächtigte sich der Nation. Aus Konstantinopel kam unter al Mamun (813-833) eine große Anzahl von griechischen Manuskripten als Geschenk des Kaisers; eine von den Kalifen angeordnete geregelte Tätigkeit der Übertragung erfüllte das neunte Jahrhundert und reichte in das zehnte hinein; Übersetzungen von Schriften des Aristoteles, Hippokrates, Galen, Dioskorides, Euklid, Apollonius Pergäus, Archimedes, Ptolemäus setzten die Araber in die Lage, die naturwissenschaftliche Arbeit da wiederaufzunehmen, wo die Griechen sie hatten fallen lassen.

Die so entstandene naturwissenschaftliche Bewegung innerhalb des Islam hat die positiven Wissenschaften fortgebildet, welche in Alexandrien bestanden hatten, und die Differenzierung der Wissenschaft aufrechterhalten, wie sie damals vollzogen war. Die Bedeutung der Araber für die Entwicklung dieses positiven Naturwissens kann zwar noch nicht mit zureichender Sicherheit festgestellt werden305, doch ist die Wichtigkeit der Vermittlung keinem Zweifel unterworfen, die ihnen nach ihrer geographischen Lage und ihrer Verbreitung über ein so[293] weites Reich zufiel. So verdankt das Abendland ihrer Vermittlerrolle das indische Positionssystem der Ziffern und die Erweiterung der griechischen Algebra.306

Und in einer zwiefachen Richtung haben sie ohne Zweifel durch selbständige Fortschritte die Entstehung der modernen Naturwissenschaft vorbereitet.

Die Araber haben die alchimistische Kunst mit anderen Wissenschaft aus Alexandrien empfangen. Wir kennen leider den Zustand nicht ausreichend, in welchem dieselbe auf sie überging. Diese Kunst, die auf Metallveredlung gerichtet war, verselbständigte das chemische Experiment, welches vorher in dem Dienste bald der Medizin bald der Technik gestanden hatte. Sie entzündete so einen mächtigen Eifer für die reale Zerlegung der Naturobjekte, nachdem solange die ideellen Zerlegungen der metaphysischen Methoden die Menschheit getäuscht hatten. Sie nährte diese Leidenschaft durch die geheimnisvolle auf die Theorie der Metallverwandlung gegründete Hoffnung, das Präparat darzustellen, welches unedle Metalle in Silber und endlich in Gold überzuführen ermögliche. So entwickelte sie den Keim einer theoretischen Ansicht, welche nicht wie die aristotelische von den vier Elementen auf Anschauung und Spekulation, sondern auf wirkliche Zerspaltung gegründet war, in der Lehre von dem Mercurius und dem Sulphur. Unter diesen Namen verstand man nicht einfach Quecksilber und Schwefel, sondern Substanzen, deren Verhalten gegenüber dem Experiment, insbesondere der Einwirkung des Feuers, sie der einen oder der andern dieser beiden Klassen einordnete. Auf diesem Wege entstand erst das wahre Problem, in den durch chemische Zerlegung dargestellten Stoffen die Komponenten der Materie zu entdecken. Und wie unvollkommen auch die Ergebnisse dieser ersten alchimistischen Epoche in theoretischer Hinsicht waren, so bereiteten sie doch quantitative Untersuchungen und eine angemessene Vorstellung über die Konstitution der Materie vor. Zugleich hat diese alchimistische Kunst eine große Anzahl von Präparaten zuerst hergestellt und auf neue chemische Manipulationen geführt.307

Die andere Richtung, in welcher die Araber durch selbständigen Fortschritt die Entstehung der modernen Naturerkenntnis vorbereitet haben, bestand in der Entwicklung und Benutzung der Mathematik als eines Werkzeugs zur Darstellung quantitativer Bestimmungen[294] über die Natur. Erfinderischer Gebrauch messender Instrumente, unermüdliche Verbesserung der Hilfsmittel der griechischen Gradmessung, unterstützt durch Erweiterung der Kenntnis der Erde, dann das Zusammenwirken reich ausgestatteter Sternwarten für die Verbesserung und Vervollständigung des astronomischen Materials und das Zusammenwirken vieler Forscher und freigebig zugeteilter Mittel nach großem Plane haben ein Netz quantitativer Bestimmungen auf der alexandrinischen Grundlage hergestellt, welches einer schöpferischen naturwissenschaftlichen Epoche unschätzbare Dienste leisten sollte. So ist in die Alphonsinischen Tafeln, welche die gemeinsame Arbeit maurischer, jüdischer und christlicher Astronomen im Dienste des Königs Alphons von Kastilien (auch das ganz in der Art der Kalifen) hergestellt hat, der Ertrag der arabischen Astronomie übergegangen, und diese Tafeln waren dann die Grundlage der astronomischen Studien.308

So trat in die neue Generation von Völkern, welche untereinander in lebendigem Austausch insbesondere durch die Vermittelung der Juden standen, Kenntnis des naturwissenschaftlichen Vermächtnisses der Griechen und selbständige Vermehrung dieses Erbes. Der inneren religiösen Erfahrung und der Theologie stellte sich Naturerkenntnis als ein zweiter unabhängiger Mittelpunkt intellektueller Arbeit und Befriedigung gegenüber. In dem Reiche des Islam ging dies Licht auf, verbreitete sich über Spanien, und schon früh, wie die Gestalt eines Gerbert zeigt, fielen seine Strahlen auch in das christliche Abendland.

Doch war diese Naturerkenntnis der Araber sowenig als die der Alexandriner imstande, den vorhandenen deskriptiven und theologischen Zusammenhang des Wissens vom Kosmos durch einen, wenn auch noch so unvollkommenen Versuch der Kausalerklärung zu ersetzen. – Der vorherrschende Betrieb der formalen und der deskriptiven Wissenschaften und die Macht einer Metaphysik der psychischen Kräfte und substantialen Formen sind von uns als korrelate geschichtliche Tatsachen erkannt worden.309 Die formalen Wissenschaften der Mathematik und Logik, deskriptive Astronomie und die Erdkunde, welche in die Grenzen der deskriptiven Wissenschaft eingeschlossen ist: dies waren die Erkenntnisse, welche beiden Arabern einen hohen Grad von Ausbildung erlangten und den Mittelpunkt[295] der höheren intellektuellen Interessen bildeten. Der nächste äußere Zusammenhang dieser Wissenschaften bestand in dem Gesamtbilde des Kosmos, welches schon Eratosthenes, Hipparch und Ptolemäus angestrebt hatten. Daher ist die enzyklopädische Richtung der alexandrinischen Wissenschaft in dem Wissen des Mittelalters naturgemäß in noch höherem Grade sichtbar. Sie zeigt sich in der Enzyklopädie der Lauteren Brüder wie in den abendländischen Arbeiten eines Beda, Isidor, ja eines Albertus Magnus, in Verbindung mit metaphysischer und theologischer Begründung. – Dagegen waren auch in der arabischen Naturerkenntnis Wissenschaften wie Mechanik, Optik, Akustik, welche einen Kreis zusammengehöriger Teilinhalte der Naturerfahrung abgesondert behandeln und daher eine Ableitung der zusammengesetzten Gleichförmigkeiten des Naturganzen ermöglichen, noch nicht so weit entwickelt, um den Versuch einer Kausalerklärung der Naturerscheinungen aus Naturgesetzen zu gestatten. Ja die Aussicht auf kausale Naturerklärung, welche die Atome Demokrits einst innerhalb eines engen Umkreises bekannter Naturtatsachen, bei Anwendung einer willkürlichen Methode310, darzubieten schienen, mußte mit der wachsenden Erkenntnis der Verwicklung des Naturgewebes zunächst mehr zurücktreten; wir finden daher bei den Arabern ein Extrem von atomistischer Naturanschauung im Dienste der orthodoxen Mutakalimun. Die Grundwissenschaft jeder erklärenden Naturerkenntnis, die Mechanik, machte bei den Arabern keine Fortschritte. Die Ideen über die Bewegung, den Druck und die Schwere usw. waren sowenig als bei den Alexandrinern ausreichend, die metaphysischen Fiktionen der psychischen Wesenheiten und substantialen Formen zu ersetzen. Die Fortschritte in der Optik über Ptolemäus hinaus, wie sie das uns erhaltene Werk des al Hazen zeigt, hatten zu nächst keine Wirkung auf das Ganze der Naturansicht. Die Leistungen der Chemie gestatteten noch nicht, die Materie in ihre wirklichen Bestandteile aufzulösen und deren Verhalten festzustellen, und so ist wohl bei Ibn Roschd eine Neigung bemerkbar, die Aristotelische Lehre von der Materie der des Anaxagoras anzunähern, aber dieselbe kann noch nicht durch eine auf wirkliches Naturwissen begründete ersetzt werden. In der arabisch-maurischen Astronomie treten Bedenken in bezug auf die komplizierte epizyklische Hypothese des Ptolemäus hervor311, doch hat noch kein Versuch Erfolg, sie durch eine angemessenere zu ersetzen. Endlich waren[296] die organischen Formen, welche im Kommen und Gehen der Individuen auf der Erde unwandelbar sich zu erhalten scheinen, weder durch die Paläontologie in ihrem vorübergehenden Charakter erkannt noch einer Kausalbetrachtung unterworfen worden, sondern immer noch waren sie nur durch eine teleologische Betrachtung dem Verständnis zugänglich.

So machte die Lage der Naturwissenschaften in der ganzen Zeit von ihrem Auftreten bei den Arabern bis zu dem Erlöschen der wissenschaftlichen Kultur dieses Volkes die metaphysischen Vorstellungen von psychischen Ursachen und deren Äußerungen in den Formen des Naturganzen noch nicht für die Erklärung der Natur entbehrlich.

Und zwar entsprach die besondere Gestalt, welche diese teleologische Metaphysik der psychischen Ursachen in dem System und der Schule des Aristoteles erhalten hatte, andauernd der Lage der Naturerkenntnis. – Die Araber haben bei den syrischen Christen die peripatetische Schule in Blüte vorgefunden. Es ist nutzlos zu fragen, ob dieser äußere Umstand über das Studium des Aristoteles bei ihnen entschied312, in der Stufe ihres Naturwissens lagen die positiven Ursachen, welche ihnen das System des Aristoteles als die angemessenste Form der Wissenschaft vom Kosmos erscheinen ließen. Wohl war die positive Naturwissenschaft der Alexandriner und Araber nicht überall in Übereinstimmung mit dem System des Aristoteles. Wohl floß ferner bei den Arabern die Überlieferung der mathematischen Naturwissenschaft keineswegs überall mit der Entwicklung ihrer peripatetischen Schule zusammen; Thurot hat die Fortdauer der relativen Sonderung der positiven Naturwissenschaft von der Metaphysik, wie sie das Ergebnis der Entwicklung der antiken Wissenschaft gewesen ist, an einem hervorragenden Falle nachgewiesen; das hydrostatische Theorem, welches von seinem Entdecker den Namen Prinzip des Archimedes führt, ist sowohl in der weiteren griechischen als in der arabischen Geschichte der Wissenschaft den Mathematikern bekannt und bleibt in ihrer Tradition erhalten, dagegen ist es den Metaphysikern nicht bekannt.313 Doch tastete auch die positive Wissenschaft noch nicht die Metaphysik des Aristoteles in ihrem Kern an, vielmehr bestand zwischen den großen Zügen des Naturwissens und denen der Aristotelischen Metaphysik Übereinstimmung. Noch hatte das Fernrohr nicht Veränderungen auf den andern Himmelskörpern gezeigt, noch bestand kein Anfang einer allgemeinen Physik des Weltgebäudes, und so erhielt sich die Aristotelische Lehre von einer doppelten Welt: der vollkommenen[297] und unwandelbaren Ordnung der Gestirne und dem Wechsel des Entstehens und Vergehens unter dem Monde. Daher wurde die Gedankenmäßigkeit des Kosmos nicht durch eine pantheistisch vorgestellte Weltvernunft ausgedrückt, vielmehr blieb die Welt der Gestirne der Sitz einer bewußten Intelligenz, welche von hier ausstrahlte und in einer niederen Welt sich kundtat. Ja die theologische Metaphysik, für welche dieser Gegensatz im Kosmos Symbol eines in der inneren Erfahrung gegebenen Gegensatzes war, gab diesem Schema eine gewaltigere Macht, als es in der alten Welt besitzen konnte. Und der Zusammenhang, welcher von der Gestirnwelt zu der veränderlichen Erde, ihrer Pflanzendecke und ihren Bewohnern reicht, nahm in sich als ihm völlig entsprechend, die deskriptive Wissenschaft des Kosmos auf.

So ging neben der Aneignung des Naturwissens der Griechen die Übertragung des Aristoteles her. Dieselbe begann unter al Mamun, und während des neunten und zehnten Jahrhunderts wurden die Übersetzungen des Aristoteles beständig vervollständigt. Auf dieser Grundlage, in Wechselwirkung mit dem lebendigen Naturstudium, erhielt die arabische Philosophie in Ibn Sina und Ibn Roschd ihre vollendete Gestalt: als eine selbständige Fortsetzung der peripatetischen Schule.

Während die Araber so vom neunten Jahrhundert ab Naturerkenntnis wie Aristotelische Wissenschaft neben der Theologie pflegten, hat im christlichen Abendlande, wo sich alles in breiteren Massen entwickelte, die Theologie lange beinahe ausschließlich geherrscht. Enzyklopädien überlieferten tote Notizen über die Natur. Gerbert bringt im zehnten Jahrhundert aus Spanien etwas von dem Licht des arabischen Naturwissens, dann kehrt Constantinus Africanus von seinen Orientreisen mit medizinischen Schriften zurück, Adelard von Bath gewinnt ebenfalls von den Arabern naturwissenschaftliche Kenntnis; alsdann folgen einander dichter Übertragungen von Aristoteles, seinen Kommentatoren und arabischen Physikern.314 Aber nur spärlich lichtet sich die Finsternis, die über dem Naturwissen liegt. Das intellektuelle Leben des Abendlandes pulsierte bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts in der Theologie und der ihr verbundenen metaphysischen Betrachtung der menschlichen Geschichte und Gesellschaft. Auch änderte es hieran nichts, daß man die Logik des Aristoteles als ein mächtiges Hilfsmittel theologischer Dialektik benützte und in Abälard eine kühne Subjektivität die Rechte des Verstandes scharfsinniger geltend machte, als je vorher geschehen. Wohl zersetzte das negative Treiben der theologischen Dialektiker jener Tage[298] den Bestand der überlieferten Dogmatik; wie in den entsprechenden Erscheinungen des Islam, entwickelte sich aus den Antinomien der religiösen Vorstellung unwiderstehlich der Zweifel bis zur Verzweiflung des Verstandes, und vergebens suchten Bernhard von Clairvaux und die Viktoriner in der Mystik den Frieden des Geistes. Aber erst dann hörte die theologische Metaphysik auf, Mittelpunkt des ganzen europäischen Denkens zu sein, als nun das Naturwissen und die Naturphilosophie der Alten und der Araber über den Horizont der abendländischen Christenheit traten und allmählig ganz sichtbar wurden. Dies ist die größte Veränderung, welche im Verlauf der intellektuellen Entwicklung Europas während des Mittelalters stattgefunden hat.

Diese Veränderung im Abendlande wurde durch die wiederholten Verbote der naturwissenschaftlichen und metaphysischen Schriften des Aristoteles nicht aufgehalten. Schon im ersten Drittel des dreizehnten Jahrhunderts ist so ziemlich der ganze Körper der aristotelischen Schriften übertragen. Die Systeme des Ibn Sina und Ibn Roschd werden bekannt und bedrohen den christlichen Glauben. Die abendländische Metaphysik des Mittelalters entsteht zum Schutze dieses Glaubens aus der Verknüpfung der Theologie des Christentums und der von ihr ausgehenden metaphysischen Philosophie der Geschichte mit dem arabischen Aristoteles und der mit seinem Studium verbundenen Naturerkenntnis. Die Universität Paris wird, als Sitz dieser Metaphysik, zum Mittelpunkt der geistigen Bewegung Europas. Ein Jahrhundert hindurch, von der Mitte des dreizehnten ab, während Albert der Große und sein Schüler vom Kölner Dominikanerkloster, Thomas von Aquino, Duns Scotus und der kühnste, gewaltigste der Scholastiker, der papstfeindliche Wilhelm von Occam, lehren, sind die Augen von ganz Europa auf diese neue Vernunftwissenschaft und ihr Schicksal gerichtet. – Zugleich ist nun das Material für eine selbständige Fortarbeit der abendländischen Christen in den Naturwissenschaften: gegeben. Langsam, breit und tief entwickelte sich diese Arbeit. Die äußeren Bedingungen, unter welchen die Wissenschaften in den Klöstern und an von der Kirche geleiteten Anstalten sich befanden, unterstützten die Übermacht des theologisch-metaphysischen Interesses, und die Beschäftigung des Hofes Friedrichs des Zweiten mit den Naturwissenschaften, wie sie durch das Vorbild des Kalifen hervorgerufen war, fand keine Nachfolge. Die politische Verfassung Europas gab den Problemen der Geschichte und des Staates sowie den Schriften hierüber ein Gewicht, welches sie in den Despotenreichen des Islam nicht besaßen. Der Gang der öffentlichen Angelegenheiten im Abendlande war schon damals von Ideen mächtig beeinflußt, und diese zogen das öffentliche Interesse besonders auf sich. Die selbständige,[299] ja geniale Fortarbeit des christlichen Abendlandes in dem Einzelwissen lag daher zunächst während des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften. So wurde die Erweiterung des Naturwissens in erster Linie benützt, eine von Metaphysik getragene enzyklopädische Einheit des Wissens herzustellen. Dieser Richtung des Geistes entsprachen die Schrift über die Natur der Dinge des Thomas von Cantiprato, der Naturspiegel des Vinzenz von Beauvais, das Buch der Natur von Konrad von Megenberg, das Weltbild von Pierre d'Ailly, und die Gesamttätigkeit des Albertus Magnus war von ihr bestimmt. Es kann noch nicht genügend beurteilt werden, was von den Einzelergebnissen, welche uns zuerst bei Albertus begegnen, einem selbständigen Naturstudium entsprungen war; jedoch kann Förderung der beschreibenden Naturwissenschaft in eigener Beobachtung und Untersuchung ihm nicht abgesprochen werden. Alsdann trat in Roger Bacon das Bewußtsein von der Bedeutung der Mathematik als des »Alphabets der Philosophie« und der experimentalen Wissenschaft als der »Herrin der spekulativen Wissenschaften« hervor. Er ahnte die Macht einer auf Erfahrung gegründeten Erkenntnis der wirkenden Ursachen im Gegensatz zu syllogistischer Scheinwissenschaft, und seine mächtige Einbildungskraft eilte den Ergebnissen seiner Arbeit voraus in seltsamen Antizipationen künftiger Entdeckungen. Andererseits traten im Abendlande allmählich die teils herübergebrachten, teils selbständig gemachten Erfindungen auf, welche das Zeitalter der Entdeckungen vorbereiteten.315

300

Über das zersetzende Treiben skeptischer Sekten des Islam Renan, Averroès3 S. 103 f.

301

Schahrastani I, S. 3.

302

Jehuda Halevi, Kusari S. 323 f.

303

Munk, Mélanges de philosophie juive et arabe p. 313 ff.

304

Nur unbestimmte Vermutungen bei Renan, Averroès3 p. 92 ff.

305

Sédillot, Matériaux p. s. à l'histoire comparée des sciences mathématiques I, 236.

306

Über die Übertragung des als »indisch« ausdrücklich bei den Arabern bezeichneten Systems Wöpcke, Mém. sur la propagation des chiffres indiens. Journal asiatique 1863 I, 27; über die Möglichkeiten, die Herkunft der Algebra zu bestimmen, Hankel, Z. Gesch. d. Mathematik S. 259 ff. Cantor, Gesch. d. Mathematik I, 620 ff.

307

Nähere Angaben über die praktischen Kenntnisse der arabischen Chemiker bei Kopp, Geschichte der Chemie I, 51 ff.

308

Näheres über die Leistungen der Araber in der Mathematik bei Hankel, Z. Geschichte der Mathematik S. 222-293; über ihre Leistungen in der mathemat. Geographie Reinaud, Geographie d'Aboulféda, t. I introduction; über ihre Leistungen in der Astronomie Sédillot, Matériaux p. s. à l'histoire comparée des sciences mathématiques chez les Grecs et les Orientaux, wozu in bezug auf die von Sédillot behauptete Antizipation der Tychonischen Entdeckung der Variation des Mondlaufs durch Abul Wefa die Einwendungen Biots zu berücksichtigen sind.

309

S. 209.

310

Vgl. den Gegensatz der Methoden zwischen diesen Älteren und Plato S. 181 ff.

311

Schon Gabir ben Ablah stellt sich freier zu den Hypothesen des Ptolemäus; der von den Lateinern als Alpetragius bezeichnete Astronom bekämpft dann die Epizyklentheorie des Ptolemäus (Delambre, Histoire de l'astronomie du moyen âge p. 171 ff.), und ebenso Ibn Roschd.

312

Über diese Frage Renan, Averroès3 p. 93.

313

Thurot in der Revue archéologique n. s. XIX, 1 II ff. (Recherches historiques sur le principe d'Archimè de).

314

Das Nähere bei Jourdain neben den recherches in seiner philosophie de Saint Thomas I, 40 ff.

315

Näheres in den grundlegenden Untersuchungen von Libri, Histoire des sciences mathématiques t. II.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 291-300.
Lizenz:
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Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
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