Aus: Sühnelied

[264] 112. Ihr Freunde, die ihr die große Stadt bewohnt, die am gelblichen Akragas sich hinabzieht, nahe dem Burgberg, ihr Pfleger trefflicher Werke, ehrwürdiger Hort der Fremdlinge sonder Falsch, seid mir gegrüßt! Ich aber wandle jetzt als unsterblicher Gott, nicht mehr als Sterblicher vor Euch; man ehrt mich als solchen allenthalben, wie es mir zusteht, indem man mir Tänien ums Haupt flicht und blühende [264] Kränze. Sobald ich mit diesen [Anhängern,] Männern und Frauen, die blühenden Städte betrete, betet man mich an, und Tausende folgen mir nach, um zu erkunden, wo der Pfad zum Heile führe. Die einen wünschen Orakel, die anderen fragen wegen mannigfacher Krankheiten nach, um ein heilbringendes Wörtlein zu hören; denn lange schon winden sie sich in bohrenden Schmerzensqualen.

113. Doch was red' ich hierüber noch viel, als ob ich etwas großes vollführe? Bin ich doch mehr als sie, die sterblichen, vielfachem Verderben geweihten Menschen!

114. O meine Freunde! Ich weiß zwar, daß Wahrheit den Worten, die ich künden werde, innewohnt; doch mühsam ist sie den Menschen zu erringen, und schwer nur dringt das heiße Bemühn um den Glauben in die Seele.

[265] 115. Es gibt einen Spruch des Schicksals, einen uralten, urewigen Götterbeschluß, der mit breiten Schwüren versiegelt ist: wenn einer seine Hände mit Mordblut befleckt in Sündenverstrickung, wer ferner im Gefolge des Streites einen Meineid schwört aus der Zahl der Dämonen, die ein ewig langes Leben erlöst haben, die müssen dreimal zehntausend Horen fernab von den Seligen schweifen und des Lebens mühselige Pfade wechseln, um im Laufe der Zeit unter allen möglichen Gestalten sterblicher Geschöpfe geboren zu werden. Denn der Luft Macht jagt sie zum Meere, das Meer speit sie auf den Erdboden aus, die Erde zu den Strahlen der leuchtenden Sonne, und diese wirft sie in die Wirbel der Luft. Einer nimmt sie vom andern auf, und allen sind sie verhaßt. Zu diesen gehöre jetzt auch ich, ein von Gott Gebannter und Irrender, da ich dem rasenden Streite vertraute.

[266] 116. Die Charis haßt die schwer erträgliche Notwendigkeit.

117. Ich war bereits einmal Knabe, Mädchen, Pflanze, Vogel und flutenttauchender, stummer Fisch.

118. Ich weinte und jammerte, als ich den ungewohnten Ort erblickte.

119. Aus welchem Range, aus welcher Glückesfülle [herausgeworfen,] verkehre ich nun hier, nachdem ich [das Haus des Zeus] verlassen, mit Sterblichen.

[267] 120. Wir gelangten in diese überdachte Höhle...

121. ... den freudlosen Ort, wo Mord und Groll und Scharen anderer Unglücksgeister, wo dörrendes Siechtum und Fäulnis und Überschwemmung auf der Unheilswiese im Düster hin und her schweifen.

122. Da waren die Erdmutter und die weitblickende Sonnenjungfrau, die blutige Zwietracht und die ernstblickende Harmonie, [Frau] Schön und [Frau] Hässlich, [Frau] Hurtig und [Frau] Spät, die liebreiche Wahrhaftigkeit und die schwarzaugige Verworrenheit.

[268] 123. Und [die Geister] des Wachstums und Schwundes, des Schlafens und Wachens, der Bewegung und Ruhe, der reichbekränzten Pracht und des Schmutzes, des Schweigens und Redens.

124. Weh', wehe, du armes Menschengeschlecht, weh' du jammervoll unseliges: aus solchen Zwisten und Seufzern seid ihr entsprossen!

125. Denn aus Lebendigem machte er Totes, die Gestalten vertauschend.

126. [Die Natur wechselt alles,] indem sie [die Seelen] mit fremdartiger Leibeshülle umkleidet.

[269] 127. [Bei der Seelenwanderung] werden [die Menschen] unter den Tieren [am besten] zu bergbewohnenden, auf der Erde schlafenden Löwen und unter den schön belaubten Bäumen zum Lorbeer.

128. Und bei jenen [Menschen des goldenen Zeitalters] gab es noch keinen Gott des Krieges und Schlachtgetümmels, keinen König Zeus oder Kronos oder Poseidon, sondern nur eine Königin, die Liebe... Diese freilich suchten sie mit frommen Weihegaben zu versöhnen, mit gemalten [Opfer]tieren und köstlich duftenden Salben, [270] mit Spenden von lauterer Myrrhe und duftendem Weihrauch und aus den braunen Waben schütteten sie Weihgrüsse auf den Boden. Doch mit lauterem [?] Stierblut ward kein Altar benetzt, sondern dies galt bei den Menschen als größter Frevel, Leben zu rauben und edle Glieder hineinzuschlingen.

129. Doch es lebte unter jenen ein Mann von übermenschlichem Wissen, der anerkannt den größten Geistesreichtum besaß und mannigfacher Künste mächtig war. Denn sobald er nur mit allen seinen Geisteskräften sich reckte, schaute er leicht in seinen zehn und zwanzig Menschenleben jedes einzelne Ding in der ganzen Welt.

[271] 130. Da waren alle [Geschöpfe] zahm und den Menschen zutunlich, die wilden Tiere wie die Vögel, und die Flamme der gegenseitigen Freundschaft glühte.

131. Denn wenn es Dir [genehm war], unsterbliche Muse, wegen irgend einer menschlichen Angelegenheit Dir unsere Sorgen durch den Sinn gehen zu lassen, so erhöre jetzo wieder mein Gebet, Kalliope, wo ich beginne gute Gedanken über die seligen Götter zu offenbaren.

132. Glückselig wer einen Schatz göttlicher Gedanken erwarb, armselig, wen ein finsterer Wahn über die Götter umfängt.

133. Man kann [die Gottheit] sich nicht nahe bringen, daß sie unseren [272] Augen erreichbar wäre, oder sie mit Händen greifen, [zwei Wege] auf denen die Hauptstraße des Glaubens ins Menschenherz führt.

134. Denn sie [die Gottheit] ist auch nicht mit menschenähnlichem Haupte an den Gliedern versehen, nicht schwingen sich zwei Zweige herab von dem Rücken, nicht Füße noch hurtige Kniee oder behaarte Schamglieder, sondern nur ein Geist, ein heiliger und unaussprechlicher regt sich da, der mit schnellen Gedanken den ganzen Weltenbau durchfliegt.

[273] 135. Doch das allgemeine Gesetz ist lang und breit ausgespannt durch den weithin herrschenden Feueräther und den unermeßlichen Himmelsglanz.

136. Wollt ihr nicht aufhören mit dem mißtönenden Morden? Seht ihr denn nicht, wie ihr einander zerfleischt in Unbedachtheit eures Sinnes?

137. Und seinen eigenen Sohn, der die Gestalt gewandelt hat, hebt der Vater [zum Todesstreich] empor, schlachtet ihn und spricht auch noch ein Gebet dazu, der arge Tor! Die [Knechte] hingegen zaudern [noch,] [274] den [um sein Leben] Flehenden zu opfern; doch jener taub gegen sein Gewinsel schlachtet ihn und rüstet damit im Hause sein Sündenmahl. Ebenso ergreift der Sohn seinen Vater und die Kinder ihre Mutter, rauben ihnen das Leben und schlingen das blutsverwandte Fleisch hinunter!

138. Mit dem Erze die Seele abschöpfend.

139. Weh mir, daß mich nicht früher ein erbarmungsloser Tag vernichtete, ehe denn meine Lippen der Gedanke an den ungeheuren Frevel des Fraßes umspielte!

140. Sich gänzlich der [Phoibos geweihten] Lorbeerblätter enthalten.

[275] 141. Unselige, ganz Unselige! Haltet Eure Hände zurück von den Bohnen!

142. Diesen wird schwerlich der überdachte Palast des ägishaltenden Zeus erfreuen noch der [furchtbaren Hekate sündenrächendes (?)] Haus.

143. Von fünf Brunnen schöpfend in unverwüstlichem Erze.

144. Von der Sünde sich ernüchtern.

145. Darum, dieweil ihr befangen seid in schweren Sünden, werdet ihr nimmer euer Herz von dem unseligen Jammer entlasten können.

[276] 146. Zuletzt werden sie zu Sehern, Sängern, Ärzten und Fürsten unter den irdischen Menschen und wachsen hieraus empor zu Göttern an Ehren reichsten.

147. Der anderen Unsterblichen Herd- und Tisch genossen, menschlichen Jammers bar und ledig und unverwüstlich.

148. Menschenumgebenden Erdstoff [d.i. Körper].

149. Wolkensammelnde [Luft].

150. Blutgefüllte [Leber].

151. Lebenspendende [Aphrodite].

[277] 152. [›Der Abend, des Tages Greisenalter‹. Ähnliche Metapher bei Empedokles.]

153. Baubo [= Bauch.]

153a. [In] sieben mal sieben Tagen [wird der Embryo (seiner Gliederung) nach durchgebildet.]

Quelle:
Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. 1. Band, Berlin 41922, S. 264-278.
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