[a) Allgemeine Fragen der Dialektik. Grundgesetze der Dialektik.]

[481] *


Die Dialektik, die sog. objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sog. subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen, die durch ihren fortwährenden Widerstreit und ihr schließliches Aufgehen ineinander, resp. in höhere Formen, eben das Leben der Natur bedingen. Attraktion und Repulsion. Beim Magnetismus fängt die Polarität an, sie zeigt sich an ein und demselben Körper; bei der Elektrizität verteilt sie sich auf 2 oder mehr, die in gegenseitige Spannung geraten. Alle chemischen Prozesse reduzieren sich auf Vorgänge der chemischen Attraktion und Repulsion. Endlich im organischen Leben ist die Bildung des Zellenkerns ebenfalls als eine Polarisierung des lebendigen Eiweißstoffs zu betrachten, und von der einfachen Zelle anweist die Entwicklungstheorie nach, wie jeder Fortschritt bis zur kompliziertesten Pflanze einerseits, bis zum Menschen andrerseits, durch den fortwährenden Widerstreit von Vererbung und Anpassung bewirkt wird. Es zeigt sich dabei, wie wenig Kategorien wie »positiv« und »negativ« auf solche Entwicklungsformen anwendbar sind. Man kann die Vererbung als die positive, erhaltende Seite, die Anpassung als die negative, das Ererbte fortwährend zerstörende Seite, aber ebensogut die Anpassung als die schöpferische, aktive, positive, die Vererbung als die widerstrebende, passive, negative Tätigkeit auffassen. Wie aber in der Geschichte der Fortschritt als Negation des Bestehenden auftritt, so wird auch hieraus rein praktischen Gründen – die Anpassung besser als negative Tätigkeit gefaßt. In der Geschichte tritt die Bewegung in Gegensätzen erst recht hervor in allen kritischen Epochen der leitenden Völker. In solchen Momenten hat ein Volk nur die Wahl zwischen zwei Hörnern eines Dilemmas: entweder – oder!, und zwar ist die Frage immer ganz anders gestellt, als das politisierende Philisterium aller Zeiten sie gestellt wünscht. Selbst der liberale deutsche Philister von 1848 fand sich 1849 plötzlich und unerwartet[481] und wider Willen vor die Frage gestellt: Rückkehr zur alten Reaktion in verschärfter Form, oder Fortgang der Revolution bis zur Republik, vielleicht gar der einen und unteilbaren mit sozialistischem Hintergrund. Er besann sich nicht lange und half die Manteuffelsche Reaktion als Blüte des deutschen Liberalismus schaffen. Ebenso 1851 der französische Bourgeois vor dem von ihm sicher nicht erwarteten Dilemma: Karikatur des Kaisertums, Prätorianertum und Ausbeutung Frankreichs durch eine Lumpenbande, oder sozialdemokratische Republik – und er duckte sich vor der Lumpenbande, um unter ihrem Schutz die Arbeiter fortausbeuten zu können.


*


Hard and fast lines mit der Entwicklungstheorie unverträglich – sogar die Grenzlinie zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen schon nicht mehr fest, ebensowenig die zwischen Fischen und Amphibien, und die zwischen Vögeln und Reptilien verschwindet täglich mehr und mehr. Zwischen Compsognathus und Archaeopteryx fehlen nur noch wenige Mittelglieder, und gezahnte Vogelschnäbel tauchen in beiden Hemisphären auf. Das Entweder dies – oder das! wird mehr und mehr ungenügend. Bei den niedern Tieren der Begriff des Individuums gar nicht scharf festzustellen. Nicht nur, ob dies Tier ein Individuum oder eine Kolonie ist, sondern auch, wo in der Entwicklung Ein Individuum aufhört und das andre anfängt (Ammen). – Für eine solche Stufe der Naturanschauung, wo alle Unterschiede in Mittelstufen zusammenfließen, alle Gegensätze durch Zwischenglieder ineinander übergeführt werden, reicht die alte metaphysische Denkmethode nicht mehr aus. Die Dialektik, die ebenso keine hard and fast lines, kein unbedingtes allgültiges Entweder-Oder! kennt, die die fixen metaphysischen Unterschiede ineinander überführt und neben dem Entweder-Oder! ebenfalls das Sowohl dies – wie jenes! an richtiger Stelle kennt und die Gegensätze vermittelt, ist die einzige ihr in höchster Instanz angemeßne Denkmethode. Für den Alltagsgebrauch, den wissenschaftlichen Kleinhandel, behalten die metaphysischen Kategorien ja ihre Gültigkeit.


*


Umschlag von Quantität in Qualität = »mechanische« Weltanschauung, quantitative Veränderung ändert Qualität. Das haben die Herren nie gerochen!


*[482]


Die Gegensätzlichkeit der verständigen Denkbestimmungen: die Polarisation. Wie Elektrizität, Magnetismus etc. sich polarisieren, im Gegensatz bewegen, so die Gedanken. Wie dort keine Einseitigkeit festzuhalten, woran kein Naturforscher denkt, so auch hier nicht.


*


Die wahre Natur der »Wesens«bestimmungen von Hegel selbst ausgesprochen (»Enzykl[opädie]«, I, § 111, Zusatz): »im Wesen ist alles relativ«A59 (Z.B. positiv und negativ, die nur in ihrer Beziehung, nicht jedes für sich Sinn haben.)


*


Teil und Ganzes z.B. sind schon Kategorien, die in der organischen Natur unzureichend werden. – Abstoßen des Samens – der Embryo und das geborne Tier sind nicht als »Teil« aufzufassen, der vom »Ganzen« getrennt wird, das gäbe schiefe Behandlung. Erst Teil im Kadaver (»Enz[yklopädie] « I, [S.] 268)


*


Einfach und zusammengesetzt: Kategorien, die ebenfalls schon in der organischen Natur ihren Sinn verlieren, unanwendbar sind. Weder die mechanische Zusammensetzung aus Knochen, Blut, Knorpel, Muskeln, Geweben etc., noch die chemische aus den Elementen, drücken ein Tier aus. Hegel »Enz[yklopädie]«, I, [S.] 256. Der Organismus ist nieder einfach noch zusammengesetzt, er mag noch so kompliziert sein.


*


Identität – abstrakte, a = a; und negativ, a nicht gleich und ungleich a gleichzeitig – ebenfalls in der organischen Natur unanwendbar. Die Pflanze, das Tier, jede Zelle in jedem Augenblick seines Lebens identisch mit sich und doch sich von sich selbst unterscheidend, durch Aufnahme und Ausscheidung von Stoffen, Atmung, durch Zellenbildung und Zellenabsterben, durch den vorgehenden Zirkulationsprozeß, kurz, durch eine Summe unaufhörlicher molekularer Veränderungen, die das Leben ausmachen und deren summierte Resultate in den Lebensphasen – Embryonalleben, Jugend, Geschlechtsreife, Gattungsprozeß, Alter, Tod – augenscheinlich hervortreten. Je weiter die Physiologie sich entwickelt, desto wichtiger werden für sie diese unaufhörlichen, unendlich kleinen Veränderungen, desto[483] wichtiger für sie also ebenso die Betrachtung des Unterschieds innerhalb der Identität, und der alte abstrakt formelle Identitätsstandpunkt, daß ein organisches Wesen als ein mit sich einfach Identisches, Konstantes zu behandeln, veraltetA60. Trotzdem dauert die auf ihn gegründete Denkweise mit ihren Kategorien fort. Aber schon in der unorganischen Natur die Identität als solche in Wirklichkeit nicht existierend. Jeder Körper ist fortwährend mechanischen, physikalischen, chemischen Einwirkungen ausgesetzt, die stets an ihm ändern, seine Identität modifizieren. Nur in der Mathematik – einer abstrakten Wissenschaft, die sich mit Gedankendingen beschäftigt, gleichviel ob Abklatschen der Realität – ist die abstrakte Identität und ihr Gegensatz gegen den Unterschied am Platz und wird auch da fortwährend aufgehoben. Hegel »Enzykl[opädie]«, I, [S.] 235. Die Tatsache, daß die Identität den Unterschied in sich enthält, ausgesprochen in jedem Satz, wo das Prädikat vom Subjekt notwendig verschieden: Die Lilie ist eine Pflanze, die Rose ist rot, wo entweder im Subjekt oder im Prädikat etwas, das vom Prädikat oder Subjekt nicht gedeckt wird. Hegel, [S.] 231. – Daß die Identität mit sich von vornherein den Unterschied von allem andern zur Ergänzung nötig hat, ist selbstredend.

Die fortwährende Veränderung, d.h. Aufhebung der abstrakten Identität mit sich, auch im sog. Unorganischen. Die Geologie ist ihre Geschichte. Auf der Oberfläche mechanische Veränderungen (Auswaschung, Frost), chemische (Verwitterung), im Innern mechanische (Druck), Wärme (vulkanische), chemische (Wasser, Säuren, Bindemittel), im Großen Hebungen, Erdbeben etc. Der Schiefer von heute grundverschieden von dem Schlick, aus dem er gebildet, die Kreide von den losen mikroskopischen Schalen, die sie zusammensetzen, noch mehr der Kalkstein, der ja nach einigen ganz organischen Ursprungs sein soll, der Sandstein vom lösen Meersand, der wieder aus zerriebenem Granit etc. herrührt, von Kohle nicht zu sprechen.


*


Der Satz der Identität im altmetaphysischen Sinn der Fundamentalsatz der alten Anschauung: a = a. Jedes Ding ist sich selbst gleich. Alles war permanent, Sonnensystem, Sterne, Organismen. Dieser Satz ist von der Naturforschung in jedem einzelnen Fall Stück für Stück widerlegt, theoretisch hält er aber noch vor und wird von den Anhängern des Alten immer noch dem Neuen entgegengehalten: Ein Ding kann nicht gleichzeitig es[484] selbst und ein anderes sein. Und doch ist die Tatsache, daß die wahre konkrete Identität den Unterschied, die Veränderung in sich schließt, von der Naturforschung neuerdings im Detail nachgewiesen (siehe oben). – Die abstrakte Identität, wie alle metaphysischen Kategorien, reicht aus für den Hausgebrauch, wo kleine Verhältnisse oder kurze Zeiträume in Betracht kommen; die Grenzen, innerhalb deren sie brauchbar, sind fast für jeden Fall verschieden und durch die Natur des Gegenstands bedingt – in einem Planetensystem, wobei für die ordinäre astronomische Rechnung die Ellipse als Grundform angenommen werden kann, ohne praktisch Fehler zu machen, viel weiter als bei einem Insekt, das seine Metamorphose in einigen Wochen vollendet. (Andre Beispiele zu geben, z.B. Artenveränderung, die nach einer Reihe von Jahrtausenden zählen.) Aber für die zusammenfassende Naturwissenschaft, selbst in jeder einzelnen Branche, ist die abstrakte Identität total unzureichend, und obwohl im ganzen und großen jetzt praktisch beseitigt, beherrscht sie theoretisch noch immer die Köpfe, und die meisten Naturforscher stellen sich vor, Identität und Unterschied seien unversöhnliche Gegensätze, statt einseitige Pole, die nur in ihrer Wechselwirkung, in der Einfassung des Unterschieds in die Identität, Wahrheit haben.


*


Identität und Unterschied – Notwendigkeit und Zufälligkeit – Ursache und Wirkung – die beiden Hauptgegensätze, die, getrennt behandelt, ineinander umschlagen.

Und dann müssen die »Gründe« helfen.


*


Positiv und negativ. Kann auch umgekehrt benannt werden: in Elektrizität etc.; Nord und Süd dito. Man kehre dies um, andre die übrige Terminologie entsprechend, und alles bleibt richtig. Wir nennen dann West – Ost und Ost – West. Die Sonne geht im Westen auf, die Planeten revolvieren von Ost nach West usw., die Namen allein sind geändert. Ja, in der Physik nennen wir den eigentlichen Südpol des Magneten, den vom Nordpol des Erdmagnetismus angezognen, den Nordpol, und es macht gar nichts aus.


*


Daß Positiv und Negativ gleichgesetzt werden – einerlei, welche Seite positiv und welche negativ –, [findet statt] nicht nur in der analytischen[485] Geometrie, noch mehr in der Physik (siehe Clausius, p. 87 und ff.)


*


Polarität. Magnet, durchschnitten, polarisiert die neutrale Mitte, doch so, daß die alten Pole bleiben. Dagegen ein Wurm, durchschnitten, behält am positiven Pol den aufnehmenden Mund und bildet am andern Ende einen neuen negativen Pol mit ausscheidendem After; aber der alte negative Pol (After) wird jetzt positiv, wird Mund, und ein neuer After oder negativer Pol am Wundende gebildet. Voilà Umschlagen des Positiven ins Negative.


*


Polarisation. Noch für J. Grimm stand der Satz fest, [daß] ein deutscher Dialekt entweder hochdeutsch oder niederdeutsch sein müsse. Dabei ging ihm der fränkische Dialekt total verloren. Weil das Schriftfränkische der spätern karolingischen Zeit hochdeutsch war (indem die hochdeutsche Lautverschiebung den fränkischen Südosten ergriffen), ging das Fränkische, nach seiner Vorstellung, hier im Althochdeutschen, dort im Französischen unter. Dabei blieb absolut unerklärlich, woher denn das Niederländische in die altsalischen Gebiete kam. Erst seit Grimms Tod ist das Fränkische wieder aufgefunden worden: das Salische in seiner Verjüngung als Niederländisch, das Ripuarische in den mittel- und niederrheinischen Dialekten, die teilweise in verschiedene Stufen hochdeutsch verschoben sind, teilweise niederdeutsch geblieben, so daß das Fränkische ein Dialekt ist, der sowohl hochdeutsch wie niederdeutsch ist.


*

Zufälligkeit und Notwendigkeit


Ein andrer Gegensatz, in dem die Metaphysik befangen ist, ist der von Zufälligkeit und Notwendigkeit. Was kann sich schärfer widersprechen als diese beiden Denkbestimmungen? Wie ist es möglich, daß beide identisch seien, daß das Zufällige notwendig und das Notwendige ebenfalls zufällig sei? Der gemeine Menschenverstand und mit ihm die große Menge der Naturforscher behandelt Notwendigkeit und Zufälligkeit als Bestimmungen, die einander ein für allemal ausschließen. Ein Ding, ein Verhältnis, ein Vorgang ist entweder zufällig oder notwendig, aber nicht beides. Beide bestehn[486] also nebeneinander in der Natur; diese enthält allerlei Gegenstände und Vorgänge, von denen die einen zufällig, die andern notwendig sind und wobei es nur darauf ankommt, die beiden Sorten nicht miteinander zu verwechseln. Man nimmt so z.B. die entscheidenden Artmerkmale als notwendig an und bezeichnet sonstige Verschiedenheiten der Individuen derselben Art als zufällig, und dies gilt von Kristallen wie von Pflanzen und Tieren. Dabei wird dann wieder die niedere Gruppe zufällig gegen die höhere, so daß man es für zufällig erklärt, wieviel verschiedne Spezies des Genus felis oder equus oder wieviel Genera und Ordnungen in einer Klasse, und wieviel Individuen von jeder dieser Spezies existieren, oder wieviel verschiedne Arten von Tieren in einem bestimmten Gebiet vorkommen, oder wie überhaupt Fauna, Flora. Und dann erklärt man das Notwendige für das einzig wissenschaftlich Interessierende und das Zufällige für das der Wissenschaft Gleichgültige. Das heißt: Was man unter Gesetze bringen kann, was man also kennt, ist interessant, das, was man nicht unter Gesetze bringen kann, was man also nicht kennt, ist gleichgültig, kann vernachlässigt werden. Damit hört alle Wissenschaft auf, denn sie soll grade das erforschen, was wir nicht kennen. Das heißt: Was man unter allgemeine Gesetze bringen kann, gilt für notwendig, und was nicht, für zufällig. Jedermann sieht, daß dies dieselbe Art Wissenschaft ist, die das, was sie erklären kann, für natürlich ausgibt, und das ihr Unerklärliche auf übernatürliche Ursachen schiebt; ob ich die Ursache des Unerklärlichen Zufall nenne oder Gott, bleibt für die Sache selbst vollständig gleichgültig. Beide sind nur ein Ausdruck für: Ich weiß es nicht, und gehören daher nicht in die Wissenschaft. Diese hört auf, wo der notwendige Zusammenhang versagt.

Demgegenüber tritt der Determinismus, der aus dem französischen Materialismus in die Naturwissenschaft übergegangen und der mit der Zufälligkeit fertig zu werden sucht, indem er sie überhaupt ableugnet. Nach dieser Auffassung herrscht in der Natur nur die einfache direkte Notwendigkeit. Daß diese Erbsenschote fünf Erbsen enthält und nicht vier oder sechs, daß der Schwanz dieses Hundes fünf Zoll lang ist und nicht eine Linie länger oder kürzer, daß diese Kleeblüte dies Jahr durch eine Biene befruchtet wurde und jene nicht, und zwar durch diese bestimmte Biene und zu dieser bestimmten Zeit, daß dieser bestimmte verwehte Löwenzahnsamen aufgegangen ist und jener nicht, daß mich vorige Nacht ein Floh um vier Uhr morgens gebissen hat und nicht um drei oder fünf, und zwar auf die[487] rechte Schulter, nicht aber auf die linke Wade, alles das sind Tatsachen, die durch eine unverrückbare Verkettung von Ursache und Wirkung, durch eine unerschütterliche Notwendigkeit hervorgebracht sind, so zwar, daß bereits der Gasball, aus dem das Sonnensystem hervorging, derart angelegt war, daß diese Ereignisse sich so und nicht anders zutragen mußten. Mit dieser Art Notwendigkeit kommen wir auch nicht aus der theologischen Naturauffassung heraus. Ob wir das den ewigen Ratschluß Gottes mit Augustin und Calvin, oder mit den Türken das Kismet, oder aber die Notwendigkeit nennen, bleibt sich ziemlich gleich für die Wissenschaft. Von einer Verfolgung der Ursachenkette ist in keinem dieser Fälle die Rede, wir sind also so klug im einen Falle wie im andern, die sog. Notwendigkeit bleibt eine leere Redensart, und damit – bleibt auch der Zufall, was er war. Solange wir nicht nachweisen können, worauf die Zahl der Erbsen in der Schote beruht, bleibt sie eben zufällig, und mit der Behauptung, daß der Fall bereits in der ursprünglichen Konstitution des Sonnensystems vorgesehn sei, sind wir keinen Schritt weiter. Noch mehr. Die Wissenschaft, welche sich daransetzen sollte, den casus dieser einzelnen Erbsenschote in seiner Kausalverkettung rückwärts zu verfolgen, wäre keine Wissenschaft mehr, sondern pure Spielerei; denn dieselbe Erbsenschote allein hat noch unzählige andre, individuelle, als zufällig erscheinende Eigenschaften, Nuance der Farbe, Dicke und Härte der Schale, Größe der Erbsen, von den durch das Mikroskop zu enthüllenden individuellen Besonderheiten gar nicht zu reden. Die Eine Erbsenschote gäbe also schon mehr Kausalzusammenhänge zu verfolgen, als alle Botaniker der Welt lösen könnten.

Die Zufälligkeit ist also hier nicht aus der Notwendigkeit erklärt, die Notwendigkeit ist vielmehr heruntergebracht auf die Erzeugung von bloß Zufälligem. Wenn das Faktum, daß eine bestimmte Erbsenschote sechs Erbsen enthält und nicht fünf oder sieben, auf derselben Ordnung steht, wie das Bewegungsgesetz des Sonnensystems oder das Gesetz der Verwandlung der Energie, dann ist in der Tat nicht die Zufälligkeit in die Notwendigkeit erhoben, sondern die Notwendigkeit degradiert zur Zufälligkeit. Noch mehr. Die Mannigfaltigkeit der auf einem bestimmten Terrain nebeneinander bestehenden organischen und anorganischen Arten und Individuen mag noch so sehr als auf unverbrüchlicher Notwendigkeit begründet behauptet werden, für die einzelnen Arten und Individuen bleibt sie, was sie war, zufällig. Es ist für das einzelne Tier zufällig, wo es geboren ist, welches Medium es zum Leben vorfindet, welche und wie viele Feinde es bedrohen. Es ist für die Mutterpflanze zufällig, wohin der Wind ihren Samen verweht, für die Tochterpflanze, wo das Samenkorn Keimboden findet, dem[488] sie entstammt, und die Versicherung, daß auch hier alles auf unverbrüchlicher Notwendigkeit beruhe, ist ein pauvrer Trost. Die Zusammenwürfelung der Naturgegenstände auf einem bestimmten Gebiet, noch mehr, auf der ganzen Erde, bleibt bei aller Urdetermination von Ewigkeit her doch, was sie war – zufällig.

Gegenüber beiden Auffassungen tritt Hegel mit den bisher ganz unerhörten Sätzen, daß das Zufällige einen Grund hat, weil es zufällig ist, und ebensosehr auch keinen Grund hat, weil es zufällig ist; daß das Zufällige notwendig ist, daß die Notwendigkeit sich selbst als Zufälligkeit bestimmt, und daß andrerseits diese Zufälligkeit vielmehr die absolute Notwendigkeit ist (»Logik«, II, Buch III, 2: »Die Wirklichkeit«). Die Naturwissenschaft hat diese Sätze einfach als paradoxe Spielereien, als sich selbst widersprechenden Unsinn links liegenlassen und ist theoretisch verharrt einerseits in der Gedankenlosigkeit der Wolffschen Metaphysik, nach der etwas entweder zufällig ist oder notwendig, aber nicht beides zugleich; oder andrerseits im kaum weniger gedankenlosen mechanischen Determinismus, der den Zufall im allgemeinen in der Phrase wegleugnet, um ihn in der Praxis in jedem besondern Fall anzuerkennen.

Während die Naturforschung fortfuhr, so zu denken, was tat sie in der Person Darwins?

Darwin, in seinem epochemachenden Werk, geht aus von der breitesten vorgefundnen Grundlage der Zufälligkeit. Es sind grade die unendlichen zufälligen Verschiedenheiten der Individuen innerhalb der einzelnen Arten, Verschiedenheiten, die sich bis zur Durchbrechung des Artcharakters steigern und deren selbst nächste Ursachen nur in den wenigsten Fällen nachweisbar sind, die ihn zwingen, die bisherige Grundlage aller Gesetzmäßigkeit in der Biologie, den Artbegriff in seiner bisherigen metaphysischen Starrheit und Unveränderlichkeit, in Frage zu stellen. Aber ohne den Artbegriff war die ganze Wissenschaft nichts. Alle ihre Zweige hatten den Artbegriff als Grundlage nötig: Die Anatomie des Menschen und die vergleichende – die Embryologie, die Zoologie, Paläontologie, Botanik etc., was waren sie ohne den Artbegriff? Alle ihre Resultate waren nicht nur in Frage gestellt, sondern direkt aufgehoben. Die Zufälligkeit wirft die Notwendigkeit, wie sie bisher aufgefaßt, über den Haufen.A61 Die bisherige Vorstellung von der Notwendigkeit versagt. Sie beizubehalten heißt, die sich[489] selbst und der Wirklichkeit widersprechende Willkürbestimmung des Menschen der Natur als Gesetz aufzudiktieren, heißt damit alle innere Notwendigkeit in der lebenden Natur leugnen, heißt das chaotische Reich des Zufalls allgemein als einziges Gesetz der lebenden Natur proklamieren.

»Gilt nichts mehr der Tausves-Jontof!« – schrien die Biologen aller Schulen ganz konsequent. Darwin.


*


Hegel, »Logik«, Band I


»Das dem Etwas entgegengesetzte Nichts, das Nichts von irgend Etwas ist ein bestimmtes Nichts« (S. 74).

»In Rücksicht des wechselbestimmenden Zusammenhangs des« (Welt-)»Ganzen konnte die Metaphysik die – im Grunde tautologisch – Behauptung machen, daß, wenn ein Stäubchen zerstört würde, das ganze Universum zusammenstürze« (S.78).

Negation Hauptstelle. »Einleitung«, S. 38:

»daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts, auflöst, sondern in die Negation seines bestimmten Inhalts«A62 etc.

Negation der Negation. »Phänomenologie«, Vorrede, S. 4: Knospe, Blüte, Frucht etc.

A59

Hervorhebung von Engels

A60

Am Rande des Manuskripts findet sich hier der von Engels unterstrichene Vermerk: »Abgesehn obendrein von der Artentwicklung«

A61

Am Rande des Manuskripts steht etwas über dieser Stelle folgender Satz im Klammern: »Das inzwischen angehäufte Material von Zufälligkeiten hat die alte Vorstellung der Notwendigkeit erdrückt und durchbrochen.«

A62

Hervorhebung von Engels

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 20, S. 481-490.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Dialektik der Natur
Werke, 43 Bände, Band 20, Anti-Dühring. Dialektik der Natur

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die Betschwester. Lustspiel

Die Betschwester. Lustspiel

Simon lernt Lorchen kennen als er um ihre Freundin Christianchen wirbt, deren Mutter - eine heuchlerische Frömmlerin - sie zu einem weltfremden Einfaltspinsel erzogen hat. Simon schwankt zwischen den Freundinnen bis schließlich alles doch ganz anders kommt.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon