II. Die englische Konstitution

[569] [»Vorwärts!« Nr. 75 vom 18. September 1844]

Im vorigen Artikel sind die Prinzipien entwickelt worden, nach denen die gegenwärtige Stellung des britischen Reichs in der Geschichte der Zivilisation zu beurteilen ist, sowie die nötigen Data über die Entwicklung der englischen Nation gegeben worden, soweit sie zu diesem Zwecke unumgänglich, aber auf dem Kontinent weniger bekannt sind; wir können somit, nach Begründung unsrer Voraussetzungen, ohne weiteres auf unsern Gegenstand selbst losgehen.

Die Lage Englands hat bisher allen übrigen Völkern Europas beneidenswert geschienen und ist es auch für jeden, der auf der Oberfläche sich herumtreibt und bloß mit dem Auge des Politikers sieht. England ist ein Weltreich in dem Sinne, wie ein solches heutzutage bestehen kann, und wie im Grunde alle andern Weltreiche auch gewesen sind; denn auch Alexanders und Cäsars Reich war wie das englische eine Herrschaft zivilisierter Völker über Barbaren und Kolonien. Kein andres Land der Welt kann sich an Macht und Reichtum mit England messen, und diese Macht und dieser Reichtum liegen nicht wie in Rom in der Hand eines einzelnen Despoten, sondern gehören dem gebildeten Teil der Nation. Die Furcht vor dem Despotismus, der Kampf gegen die Macht der Krone, existieren in England seit hundert Jahren nicht mehr; England ist unleugbar das freiste, d.h. am wenigsten unfreie Land der Welt, Nordamerika nicht ausgenommen, und infolgedessen hat der gebildete Engländer einen Grad angeborner Unabhängigkeit an sich, dessen kein Franzose, geschweige denn ein Deutscher, sich rühmen kann. Die politische Tätigkeit, die freie Presse, die Seeherrschaft und die riesenhafte Industrie Englands haben die dem Nationalcharakter inwohnende Energie, die entschlossenste Tatkraft neben der ruhigsten Überlegung, so vollständig fast in jedem Individuum entwickelt, daß auch hierin die kontinentalen Völker unendlich weit hinter den Engländern zurückstehen.[569] Die Geschichte der englischen Armee und Flotte ist eine Reihe glänzender Siege, während England seit achthundert Jahren kaum einen Feind an seinen Küsten gesehen hat; der Literatur kann nur von der altgriechischen und deutschen der Rang streitig gemacht werden, in der Philosophie hat England wenigstens zwei – Bacon und Locke –, in den empirischen Wissenschaften unzählbare große Namen aufzuweisen, und wenn es sich darum handelt, welches Volk am meisten getan hat, so darf kein Mensch leugnen, daß die Engländer dies Volk sind.

Das sind die Dinge, deren England sich rühmen kann, die es vor den Deutschen und Franzosen voraus hat, und die ich hier von vornherein aufgezählt habe, damit die guten Deutschen gleich anfangs von meiner »Unparteilichkeit« sich überzeugen können; denn ich weiß sehr wohl, daß man in Deutschland viel eher von den Deutschen als von irgendeiner andern Nation rücksichtslos sprechen darf. Und diese eben aufgezählten Dinge bilden mehr oder weniger das Thema der ganzen bändereichen und doch höchst unfruchtbaren und überflüssigen Literatur, die auf dem Kontinent über England zusammengeschrieben worden ist. In das Wesen der englischen Geschichte und des englischen Nationalcharakters einzugehen, ist niemand eingefallen, und wie jämmerlich die ganze Literatur über England ist, geht schon aus dem einfachen Faktum hervor, daß das jämmerliche Buch des Herrn von Raumer, soviel ich weiß, in Deutschland noch für das beste über den Gegenstand gilt.

Fangen wir, da man bisher England nur von der politischen Seite betrachtet hat, mit dieser an. Prüfen wir die englische Konstitution, die, nach dem Ausdruck des Tory, »das vollkommenste Produkt der englischen Vernunft« ist, und verfahren wir, um dem Politiker noch einen Gefallen zu tun, vorderhand ganz empirisch.

Das juste-milieu findet die englische Verfassung besonders darin schön, daß sie sich »historisch« entwickelt hat; d.h. auf deutsch, daß man die alte, durch die Revolution von 1688 geschaffene Grundlage beibehalten und auf diesem Fundament, wie sie's nennen, weiter gebaut hat. Wir werden schon sehen, welchen Charakter die englische Verfassung dadurch bekommen hat: vorläufig genügt die einfache Vergleichung des Engländers von 1688 mit dem Engländer von 1844, um zu beweisen, daß ein gleiches, konstitutionelles Fundament für beide ein Unding, eine Unmöglichkeit ist. Selbst von dem allgemeinen Fortschritt der Zivilisation abgesehen, so ist schon der politische Charakter der Nation ein ganz andrer als damals. Die Testakte, die Habeas-Corpus-Akte, die Bill of Rights waren Whigmaßregeln, die aus der Schwäche und Überwindung der damaligen Tories hervorgingen und gegen diese Tories, d.h. gegen die absolute Monarchie und den offnen oder[570] verborgenen Katholizismus gerichtet waren. Aber schon in den nächsten fünfzig Jahren verschwanden die alten Tories, und ihre Nachkommen nahmen die Prinzipien an, die bisher das Eigentum der Whigs gewesen waren; seit der Thronbesteigung Georgs I. gingen die monarchisch-katholischen Tories in eine aristokratisch-hochkirchliche Partei über, und seit der französischen Revolution, die sie erst zum Bewußtsein brachte, verflüchtigten sich die positiven Satzungen des Toryismus immer mehr zu der Abstraktion des »Konservatismus«, der nackten, gedankenlosen Verteidigung des Bestehenden – ja selbst diese Stufe ist schon überschritten, in Sir Robert Peel hat sich der Toryismus zur Anerkennung der Bewegung entschlossen, hat die Unhaltbarkeit der englischen Konstitution eingesehen und kapituliert nur noch, um das verrottete Machwerk solange zu halten wie möglich. – Die Whigs haben eine ebenso wichtige Entwicklung durchgemacht, eine neue, demokratische Partei ist entstanden, und doch soll das Fundament von 1688 noch breit genug sein für 1844! Die notwendige Folge dieser »historischen Entwicklung« ist nun, daß die innern Widersprüche, die das Wesen der konstitutionellen Monarchie ausmachen, und die schon zu der Zeit, als die neuere deutsche Philosophie noch den republikanischen Standpunkt einnahm, hinreichend aufgedeckt worden sind – daß diese Widersprüche in der modernen englischen Monarchie ihre Spitze erreichen. In der Tat, die englische konstitutionelle Monarchie ist die Vollendung der konstitutionellen Monarchie überhaupt, ist der einzige Staat, in dem, soweit dies jetzt noch möglich, eine wirkliche Adelsaristokratie ihren Platz neben einem verhältnismäßig sehr entwickelten Volksbewußtsein ihre Stelle behauptet hat, und in dem daher die auf dem Kontinent künstlich wiederhergestellte und mühsam aufrechterhaltene Dreieinigkeit der gesetzgebenden Gewalt wirklich existiert.

Wenn das Wesen des Staats, wie der Religion, die Angst der Menschheit vor sich selber ist, so erreicht diese Angst in der konstitutionellen und namentlich der englischen Monarchie ihren höchsten Grad. Die Erfahrung dreier Jahrtausende hat die Menschen nicht klüger, sondern im Gegenteil verwirrter, befangener, hat sie wahnsinnig gemacht, und das Resultat dieses Wahnsinnes ist der politische Zustand des heutigen Europas. Die reine Monarchie erregt Schrecken – man denkt an den orientalischen und römischen Despotismus. Die reine Aristokratie ist nicht weniger furchtbar – die römischen Patrizier und der mittelalterliche Feudalismus, die venezianischen und genuesischen Nobili sind nicht umsonst dagewesen. Die Demokratie ist fürchterlicher als beide; Marius und Sulla, Cromwell und Robespierre, die blutigen Häupter zweier Könige, die Proskriptionslisten und die Diktatur reden laut genug von den »Greueln« der Demokratie. Zudem ist es weltbekannt,[571] daß keine dieser Formen sich je hat lange halten können. Was also war zu tun? Statt geradeaus vorwärtszugehen, statt von der Unvollkommenheit oder vielmehr Unmenschlichkeit aller Staatsformen den Schluß zu ziehen, daß der Staat selbst die Ursache aller dieser Unmenschlichkeiten und selbst unmenschlich sei, statt dessen beruhigte man sich bei der Ansicht, daß die Unsittlichkeit nur den Staatsformen anklebe, folgerte aus den obigen Prämissen, daß drei unsittliche Faktoren zusammen ein sittliches Produkt machen können, und schuf die konstitutionelle Monarchie.

Der erste Satz der konstitutionellen Monarchie ist der vom Gleichgewicht der Gewalten, und dieser Satz ist der vollkommenste Ausdruck für die Angst der Menschheit vor sich selbst. Ich will von der lächerlichen Unvernünftigkeit, von der totalen Unausführbarkeit dieses Satzes gar nicht reden, ich will nur untersuchen, ob er in der englischen Konstitution durchgeführt ist, ich werde mich, wie ich versprach, rein empirisch halten, so empirisch, daß ich es vielleicht selbst unsern politischen Empirikern zu sehr sein werde. Ich nehme also die englische Verfassung nicht, wie sie in Blackstones »Commentaren«, in de Lolmes Hirngespinsten oder in der langen Reihe konstituierender Statuten von »Magna Charta« bis auf die Reformbill, sondern wie sie in der Wirklichkeit besteht.

Zuerst das monarchische Element. Jedermann weiß, was es mit dem souveränen König von England, männlichen oder weiblichen Geschlechts, auf sich hat. Die Macht der Krone reduziert sich in der Praxis auf Null, und wenn ein in aller Welt notorisches Faktum noch des Beweises bedürfte, so wäre die Tatsache, daß seit mehr als hundert Jahren aller Kampf gegen die Krone aufgehört hat, daß selbst die radikaldemokratischen Chartisten ihre Zeit zu etwas Besserem als zu diesem Kampf anzuwenden wissen, Beweis genug. Wo also bleibt das in der Theorie der Krone zugewiesene Drittel der gesetzgebenden Gewalt? Dennoch – und hierin erreicht die Angst ihren Gipfel – dennoch kann die englische Konstitution nicht ohne die Monarchie bestehen. Nehmt die Krone, die »subjektive Spitze«, weg, und das ganze künstliche Gebäude fällt über den Haufen. Die englische Verfassung ist eine umgekehrte Pyramide; die Spitze ist zugleich die Basis. Und je unbedeutender das monarchische Element in der Wirklichkeit wurde, desto bedeutender wurde es dem Engländer. Nirgends ist bekanntlich die nichtregierende Persönlichkeit angebeteter als in England. Die englischen Journale übertreffen an sklavischem Servilismus die deutschen bei weitem. Dieser ekelhafte Kultus des Königs als solchen, die Anbetung der ganz entleerten, alles Inhalts beraubten Vorstellung – nicht Vorstellung, des Wortes: »König« ist aber die Vollendung der Monarchie, wie die Anbetung des bloßen Wortes »Gott«[572] die Vollendung der Religion ist. Das Wort König ist das Wesen des Staats, wie das Wort Gott das Wesen der Religion ist, wenn auch beide Worte rein gar nichts bedeuten. Bei beiden ist die Hauptsache, daß die Hauptsache, nämlich der Mensch, der hinter diesen Worten steckt, ja nicht zur Sprache komme.

Sodann das aristokratische Element. Diesem geht es, wenigstens in der ihm von der Verfassung angewiesenen Sphäre, wenig besser als der Krone. Wenn der Spott, mit dem das Oberhaus seit mehr als hundert Jahren fortwährend überhäuft wurde, allmählich so sehr ein Bestandteil der öffentlichen Meinung geworden ist, daß dieser Zweig der gesetzgebenden Gewalt allgemein für ein Invalidenhaus für ausgediente Staatsmänner, daß das Anerbieten einer Pairie von jedem noch nicht ganz verschlissenen Mitgliede des Unterhauses für eine Beleidigung angesehen wird, so läßt sich leicht denken, in welcher Achtung die zweite der durch die Konstitution eingesetzten Staatsmächte steht. In der Tat ist die Tätigkeit der Lords im Oberhause zu einer bloßen, nichtssagenden Förmlichkeit herabgesunken und erhebt sich nur selten zu einer Art von Energie der Trägheit, wie sie sich während der Whigherrschaft von 1830 bis 1840 zeigte – aber selbst dann sind die Lords nicht stark durch sich selbst, sondern durch die Partei, deren reinste Vertreter sie sind, die Tories; und das Oberhaus, dessen Hauptvorzug in der Theorie der Konstitution der sein soll, daß es von der Krone und dem Volk gleich unabhängig sei, ist in der Wirklichkeit von einer Partei, also von dem Stande der Volksmeinung, und durch das Recht der Krone, Pairs zu ernennen, auch von dieser abhängig. Aber je ohnmächtiger das Oberhaus ist, desto festeren Boden erhielt es in der öffentlichen Meinung. Die konstitutionellen Parteien, Tories, Whigs und Radikale, schaudern gleich sehr vor der Abschaffung dieser leeren Förmlichkeit zurück, und die Radikalen bemerken höchstens, daß die Lords, als die einzige unverantwortliche Macht der Konstitution, eine Anomalie seien und deshalb die erbliche durch eine Wahlpairie zu ersetzen sei. Es ist wieder die Angst vor der Menschheit, die diese leere Form aufrechterhält, und die Radikalen, die für das Unterhaus eine reine demokratische Basis verlangen, treiben diese Angst noch weiter als die übrigen beiden Parteien, indem sie, um das abgenutzte, überlebte Oberhaus ja nur nicht fallenzulassen, ihm durch Infusion populären Bluts noch etwas Lebenskraft einzuhauchen suchen. Die Chartisten wissen besser, was sie zu tun haben; sie wissen, daß vor dem Sturm eines demokratischen Unterhauses das ganze morsche Gerüst, Krone und Lords und so weiter, von selbst zusammenbrechen muß und plagen sich daher nicht, wie die Radikalen, mit der Reform der Pairie. – Und wie die Anbetung der Krone in demselben Verhältnis gestiegen ist, wie die Macht der Krone abnahm, so ist[573] auch die populäre Achtung vor der Aristokratie um so höher geworden, je unbedeutender der politische Einfluß des Oberhauses wurde. Nicht nur, daß die erniedrigendsten Förmlichkeiten der Feudalzelt beibehalten wurden, daß die Mitglieder des Unterhauses, wenn sie in offizieller Kapazität vor den Lords erscheinen, mit dem Hut in der Hand vor den sitzenden und bedeckten Lords stehen müssen, daß die offizielle Anrede an einen Adligen lautet: »Möge es Eurer Lordschaft gefallen« (May it please your lordship) usw.; das schlimmste ist, daß alle diese Förmlichkeiten wirklich der Ausdruck der öffentlichen Meinung sind, die einen Lord für ein Wesen höherer Art ansieht und einen Respekt vor Stammbäumen, volltönenden Titeln, alten Familienandenken usw. hegt, der uns Kontinentalen ebenso widerwärtig und ekelerregend ist wie der Kultus der Krone. Auch in diesem Zuge des englischen Charakters haben wir wieder die Anbetung eines leeren, nichtssagenden Wortes, die vollkommen wahnsinnige, fixe Idee, als ob eine große Nation, als ob die Menschheit und das Universum nicht ohne das Wort Aristokratie bestehen könnte. – Bei alledem hat die Aristokratie in der Wirklichkeit dennoch einen bedeutenden Einfluß; aber wie die Macht der Krone die Macht der Minister, d.h. der Repräsentanten der Majorität des Unterhauses ist, also eine ganz andre Richtung angenommen hat, als die Konstitution beabsichtigte, so besteht die Macht der Aristokratie in etwas ganz anderem als in ihrem Anrecht auf einen erblichen Sitz in der Legislatur. Die Aristokratie ist stark durch ihren ungeheuren Grundbesitz, durch ihren Reichtum überhaupt, und teilt diese Stärke daher mit allen andern, nichtadligen Reichen; die Macht der Lords wird nicht im Oberhause, sondern im Hause der Gemeinen entwickelt, und dies führt uns zu dem Bestandteil der Legislatur, der nach der Konstitution das demokratische Element vertreten soll.


[»Vorwärts!« Nr. 76 vom 21. September 1844]

Wenn die Krone und das Oberhaus machtlos sind, so muß das Unterhaus notwendig alle Gewalt in sich vereinigen, und das ist der Fall. In der Wirklichkeit macht das Unterhaus die Gesetze und verwaltet sie durch die Minister, die nur ein Ausschuß desselben sind. Bei dieser Allmacht des Unterhauses müßte England also eine reine Demokratie sein, wenn auch nominell die beiden andren Zweige der Legislatur bestehen blieben, wenn nur das demokratische Element selbst wirklich demokratisch wäre. Aber davon ist keine Rede. Die Gemeinden blieben bei der Festsetzung der Verfassung nach der Revolution von 1688 in ihrer Zusammensetzung ganz unberührt; die Städte,[574] Flecken und Wahlbezirke, die das Recht zur Absendung eines Deputierten früher gehabt hatten, behielten es bei; und dies Recht war durchaus kein demokratisches, »allgemeines Menschenrecht«, sondern ein ganz feudalistisches Privilegium, das noch unter Elisabeth ganz willkürlich und aus freier Gnade von der Krone vielen bisher nicht vertretenen Städten verliehen wurde. Selbst den Charakter der Repräsentation, den die Unterhauswahlen wenigstens ursprünglich hatten, verloren sie bald durch die »historische Entwicklung«. Die Zusammensetzung des alten Unterhauses ist bekannt. In den Städten war die Erneuerung des Deputierten entweder in der Hand eines einzelnen oder einer geschlossenen und sich selbst ergänzenden Korporation; nur wenige Städte waren offen, d.h. hatten eine ziemlich große Zahl Wähler, und in diesen verdrängte die unverschämteste Bestechung den letzten Rest wirklicher Repräsentation. Die geschlossenen Städte waren meist unter dem Einfluß eines Individuums, gewöhnlich eines Lords; und in den ländlichen Wahlbezirken unterdrückte die Allmacht der großen Grundbesitzer jede etwaige freiere und selbsttätige Regung unter dem übrigens politisch leblosen Volk. Das alte Unterhaus war weiter nichts als eine geschlossene, vom Volk unabhängige, mittelalterliche Korporation, die Vollendung des »historischen« Rechts, die auch nicht ein einziges wirklich oder scheinbar vernünftiges Argument für ihre Existenz anführen konnte, die trotz der Vernunft existierte und darum auch 1794 durch ihr Komitee leugnete, daß sie eine Versammlung von Repräsentanten und England ein Repräsentativstaat sei.2 Einer solchen Verfassung gegenüber mußte die Theorie des Repräsentativstaats, selbst der gewöhnlichen konstitutionellen Monarchie mit einer Repräsentantenkammer, als durchaus revolutionär und verwerflich erscheinen, und daher hatten die Tories ganz recht, wenn sie die Reformbill als eine dem Geist und Buchstaben der Konstitution schnurstracks zuwiderlaufende und die Konstitution untergrabende Maßregel bezeichneten. Die Reformbill ging indes durch, und wir haben nun zu sehen, wozu sie die englische Verfassung und besonders das Unterhaus gemacht hat. Zunächst sind die Verhältnisse für die Wahl von Deputierten auf dem Lande ganz dieselben geblieben. Die Wähler sind hier fast ausschließlich selbst Pächter, und diese sind von ihrem Grundbesitzer durchaus abhängig, indem dieser ihnen, die mit ihm in keinem kontraktlichen Verhältnis stehen, jeden Augenblick die[575] Pacht aufkündigen kann. Die Deputierten der Grafschaften (im Gegensatz zu den Städten) sind nach wie vor Deputierte der Grundbesitzer, denn nur in den aufgeregtesten Epochen, wie 1831, wagen die Pächter gegen die Grundbesitzer zu stimmen. Ja, die Reformbill machte das Übel nur schlimmer, indem sie die Zahl der Deputierten für Grafschaften vermehrte. Von den 252 Grafschaftsdeputierten können die Tories daher immer auf wenigstens 200 rechnen, es sei denn, daß eine allgemeine Aufregung unter den Pächtern herrsche, die das Einschreiten der Grundbesitzer unklug machen würde. In den Städten wurde wenigstens der Form nach eine Repräsentation eingeführt und jedem, der ein Haus von wenigstens zehn Pfund jährlichen Mietwertes bewohnt und direkte Steuern (Armensteuer etc.) bezahlt, das Stimmrecht erteilt. Hierdurch ist die ungeheure Majorität der arbeitenden Klassen ausgeschlossen; denn erstens wohnen natürlich nur Verheiratete in besondern Häusern, und wenn auch ein bedeutender Teil dieser Häuser jährlich zehn Pfund Miete kostet, so umgehen doch die Einwohner fast alle die Bezahlung der direkten Steuern und sind daher keine Wähler. Die Zahl der Wähler bei chartistischem, allgemeinem Stimmrecht würde sich mindestens verdreifachen. Die Städte sind somit in den Händen der Mittelklasse, und diese wiederum ist in den kleineren Städten sehr häufig – direkt oder indirekt – durch die Pächter, die die Hauptkunden der Krämer und Handwerker sind, von den Grundbesitzern abhängig. In den großen Städten allein kommt die Mittelklasse wirklich zur Herrschaft, und in den kleineren Fabrikstädten, namentlich Lancashires, wo die Mittelklasse an Zahl und das Landvolk an Einfluß unbedeutend ist, wo also schon eine Minorität der Arbeiterklasse ein entscheidendes Gewicht in die Waagschale legt, kommt die Scheinrepräsentation einer wirklichen einigermaßen nahe. Diese Städte, z.B. Ashton, Oldham, Rochdale, Bolton usw. schicken daher auch fast nur Radikale ins Parlament. Eine Ausdehnung des Stimmrechts nach den Grundsätzen der Chartisten würde hier, wie überhaupt in allen Fabrikstädten, diese letztere Partei zur Majorität der Wähler erheben. Außer diesen verschiedenen und in der Praxis sehr komplizierten Einflüssen machen sich aber noch verschiedene Lokalinteressen und zu guter Letzt ein sehr bedeutender Einfluß geltend – der der Bestechung. In dem ersten Artikel der gegenwärtigen Reihe war schon die Rede davon, daß das Unterhaus durch sein Bestechungs-Komitee erklärte, es sei durch Bestechung gewählt, und Thomas Duncombe, das einzige entschieden chartistische Mitglied, hat es dem Unterhaus längst geradeheraus gesagt, daß kein einziger in der ganzen Versammlung, er selbst nicht, sagen könne, daß er durch die freie Wahl seiner Konstituenten, ohne Bestechung, an seinen Platz gekommen sei. Im vergangnen Sommer erklärte Richard[576] Cobden, Mitglied für Stockport und Führer der Antikorngesetz-Ligue, in einem öffentlichen Meeting in Manchester, daß die Bestechung jetzt einen höheren Grad erreicht habe als je, daß in dem toryistischen Carlton-Klub und dem liberalen Reform-Klub in London die Repräsentation von Städten förmlich an den Meistbietenden versteigert werde, und diese Klubs als Unternehmer handelten – gegen soviel Pfunde garantieren wir dir diese Stelle usw. – Und zu alledem kommt noch die saubere Manier, mit der die Wahlen vorgenommen werden, die allgemeine Trunkenheit, in der das Votum abgegeben wird, die Schenken, in denen die Wähler auf Kosten der Kandidaten sich berauschen, die Unordnung, die Schlägereien und das Geheul der Masse an den Abstimmungsbuden, um die Nichtigkeit der für sieben Jahre gültigen Repräsentation zu vollenden.


[»Vorwärts!« Nr. 77 vom 25. September 1844]

Wir haben gesehen, daß die Krone und das Oberhaus ihre Bedeutung verloren haben; wir haben gesehen, auf welche Weise das allmächtige Unterhaus rekrutiert wird; die Frage ist jetzt: Wer regiert denn eigentlich in England? – Der Besitz regiert. Der Besitz befähigt die Aristokratie, die Wahl der ländlichen und kleinstädtischen Deputierten zu beherrschen; der Besitz befähigt die Kaufleute und Fabrikanten, die Deputierten für die großen und teilweise auch die kleinen Städte zu bestimmen; der Besitz befähigt beide, durch Bestechung ihren Einfluß zu steigern. Die Herrschaft des Besitzes ist in der Reformbill durch den Zensus ausdrücklich anerkannt. Und insofern der Besitz und der durch den Besitz erworbene Einfluß das Wesen der Mittelklasse ausmacht, insofern also die Aristokratie bei den Wahlen ihren Besitz geltend macht und damit nicht als Aristokratie auftritt, sondern sich der Mittelklasse gleichstellt, insofern der Einfluß der eigentlichen Mittelklasse im ganzen viel stärker ist als der der Aristokratie, insofern herrscht allerdings die Mittelklasse. Aber wie und warum herrscht sie? Weil das Volk über das Wesen des Besitzes noch nicht im klaren, weil es überhaupt – auf dem Lande wenigstens – noch geistig tot ist und daher sich die Tyrannei des Besitzes gefallen läßt. England ist allerdings eine Demokratie, aber wie Rußland eine Demokratie ist; wie das Volk unbewußt überall herrscht und in allen Staaten die Regierung nur ein anderer Ausdruck für den Bildungsgrad des Volkes ist.

Es wird schwer halten, uns von dieser Praxis der englischen Konstitution zu ihrer Theorie zurückzubringen. Die Praxis steht mit der Theorie im schreiendsten Widerspruch; die beiden Seiten sind einander so entfremdet, daß sie gar keine Ähnlichkeit mehr haben. Hier eine Dreieinigkeit der Legislatur – dort eine Tyrannei der Mittelklasse; hier ein Zweikammersystem – dort ein[577] allmächtiges Haus der Gemeinen; hier eine königliche Prärogative – dort ein von den Gemeinen gewähltes Ministerium; hier ein unabhängiges Oberhaus mit erblichen Gesetzgebern – dort ein Invalidenhaus für überlebte Deputierte. Jeder der drei Bestandteile der gesetzgebenden Gewalt hat seine Macht an ein anderes Element abgeben müssen: die Krone an die Minister, d.h. die Majorität des Unterhauses, die Lords an die Torypartei, also an ein populäres Element, und an die Pairs kreierenden Minister, d.h. im Grund auch an ein populäres Element, und die Gemeinen an die Mittelklasse, oder, was dasselbe ist, an die politische Unmündigkeit des Volks. Die englische Konstitution existiert in der Wirklichkeit gar nicht mehr, der ganze langwierige Prozeß der Gesetzgebung ist eine bloße Farce; der Widerspruch von Theorie und Praxis ist so grell geworden, daß er sich unmöglich noch lange halten kann, und wenn auch durch die katholische Emanzipation, von der wir noch weiter zu reden haben werden, durch die Parlaments- und Munizipalreform dem Scheine nach die Lebenskraft der siechen Verfassung noch etwas gehoben wurde, so sind doch diese Maßregeln selbst schon das Geständnis, daß man an der Erhaltung der Konstitution verzweifelt, und bringen Elemente in sie hinein, die mit ihren Grundprinzipien entschieden in Widerspruch stehen, also den Konflikt noch dadurch vergrößern, daß sie die Theorie mit sich selbst in Widerspruch bringen.

Wir haben gesehen, wie die Organisation der Gewalten in der englischen Verfassung durchaus auf der Angst beruht. Diese Angst zeigt sich noch mehr in den Regeln, nach denen die Gesetzgebung verfährt, den sogenannten Standing Orders. Jeder Gesetzvorschlag muß in jedem der beiden Häuser dreimal in gewissen Zwischenräumen gelesen werden; nach dem zweiten Lesen wird er einem Komitee übergeben, das ihn im einzelnen durchgeht; in wichtigeren Fällen »entschließt sich das Haus in ein Komitee des ganzen Hauses« zur Beratung des Vorschlags und ernennt einen Berichterstatter, der nach Beendigung der Beratung mit vieler Feierlichkeit demselben Hause, das beraten hat, einen Bericht über die Beratung abstattet. Beiläufig, ist dies nicht das schönste Beispiel der »Transzendenz innerhalb der Immanenz und Immanenz innerhalb der Transzendenz«, das ein Hegelianer sich nur wünschen kann? »Das Wissen des Unterhauses vom Komitee ist das Wissen des Komitees von sich selbst«, und der Berichterstatter ist die »absolute Persönlichkeit des Mittlers, in der beide identisch sind«. Jeder Gesetzvorschlag wird daher achtmal beraten, ehe er die königliche Sanktion erhalten kann. Diesem ganzen lächerlichen Verfahren liegt natürlich wieder die Angst vor der Menschheit zum Grunde. Man sieht ein, daß der Fortschritt das Wesen der Menschheit ist, aber man hat nicht den Mut, den Fortschritt offen zu proklamieren;[578] man gibt Gesetze, die absolute Geltung haben sollen, die also dem Fortschritt Schranken setzen; und durch das vorbehaltene Recht, die Gesetze zu ändern, läßt man den soeben geleugneten Fortschritt zur Hintertür wieder hinein. Aber nur ja nicht zu rasch, nur ja nicht übereilt! Der Fortschritt ist revolutionär, ist gefährlich und muß daher wenigstens einen starken Hemmschuh erhalten; ehe man sich zu seiner Anerkennung entschließt, muß man sich die Sache achtmal überlegen. Aber diese Angst, die in sich selbst nichtig ist und nur beweist, daß die Ängstlichen selbst noch keine wahren, freien Menschen sind, muß notwendig auch in ihren Maßregeln fehlgreifen. Statt eine umfassendere Beratung der Vorschläge zu sichern, wird die wiederholte Lesung derselben in der Praxis ganz überflüssig und eine bloße Formsache. Die Hauptberatung konzentriert sich gewöhnlich auf die erste oder zweite Lesung, zuweilen auch auf die Debatten im Komitee, je nachdem es der Opposition am besten konveniert. In ihrer ganzen Nichtigkeit erscheint aber diese Vervielfachung der Debatte, wenn man bedenkt, daß das Schicksal jedes Vorschlags schon von vornherein entschieden ist, und wo es nicht entschieden ist, in der Debatte nicht über den speziellen Vorschlag, sondern über die Existenz eines Ministeriums beraten wird. Das Resultat dieser ganzen, achtmal wiederholten Posse ist also nicht etwa eine ruhigere Beratung im Hause selbst, sondern etwas ganz anderes, das gar nicht in der Absicht derer lag, die die Posse einführten. Die Langwierigkeit der Verhandlungen läßt der öffentlichen Meinung Zeit, ein Urteil über die vorgeschlagene Maßregel zu bilden und im Notfalle durch Meetings und Petitionen dagegen zu opponieren, und oft – wie im vorigen Jahre bei Sir James Grahams Erziehungsbill – mit Erfolg. Aber dies, wie gesagt, ist nicht der ursprüngliche Zweck und könnte weit einfacher erreicht werden.

Da wir gerade bei den Standing Orders sind, so können wir noch einige Punkte erwähnen, in denen sich die Angst der englischen Verfassung und der ursprüngliche korporationsmäßige Charakter des Unterhauses verraten. Die Debatten des Unterhauses sind nicht öffentlich; die Zulassung ist ein Privilegium und wird gewöhnlich nur durch einen schriftlichen Befehl eines Mitgliedes erwirkt. Während der Abstimmung werden die Galerien geräumt; trotz dieser lächerlichen Geheimniskrämerei, gegen deren Abschaffung das Haus sich immer heftig gewehrt hat, stehen die Namen der für oder wider stimmenden Mitglieder den andern Tag in allen Zeitungen. Die radikalen Mitglieder haben nie einen authentischen Abdruck der Protokolle durchsetzen können – noch vor vierzehn Tagen fiel eine dahingehende Motion durch –, infolgedessen ist der Drucker der in den Zeitungen erscheinenden Parlamentsberichte für den Inhalt derselben allein verantwortlich und kann von jedem, der sich durch einen Ausspruch eines Parlamentsmitgliedes beleidigt fühlt,[579] wegen Veröffentlichung verleumderischer Aussagen – gesetzlich auch von der Regierung – belangt werden, während der Urheber der Verleumdung durch sein parlamentarisches Privilegium gegen alle Verfolgung sichergestellt ist. Diese und eine Menge andrer Punkte in den Standing Orders zeigen den exklusiven, antipopulären Charakter des reformierten Parlaments; und die Zähigkeit, mit der das Unterhaus an diesen Gebräuchen festhält, zeigt deutlich genug, daß es keine Lust hat, sich aus einer privilegierten Korporation in eine Versammlung von Volksrepräsentanten zu verwandeln.


[»Vorwärts!« Nr. 78 vom 28. September 1844]

Ein anderer Beweis hierfür ist das Privilegium des Parlaments, die exzeptionelle Stellung seiner Mitglieder gegenüber den Gerichten und das Recht des Unterhauses, jeden, den es will, verhaften zu lassen. Ursprünglich gegen die Übergriffe einer seitdem aller Macht entkleideten Krone gerichtet, hat dies Privilegium in der neueren Zeit sich nur gegen das Volk gewendet. 1771 erzürnte sich das Haus über die Frechheit der Zeitungen, die die Debatten veröffentlichten, wozu doch nur das Haus selbst berechtigt sei, und versuchte durch Verhaftungen von Druckern und dann von Beamten, die diese Drucker freigelassen hatten, dieser Frechheit ein Ziel zu setzen. Natürlich mißlang dies; aber der Versuch beweist, was es mit dem Privilegium des Parlaments auf sich hat, und das Mißlingen beweist, daß auch das Unterhaus, trotz seiner Erhabenheit über das Volk, dennoch von diesem abhängig ist, daß also auch das Unterhaus nicht regiert.

In einem Lande, wo »das Christentum ein wesentlicher Bestandteil der Landesgesetze ist« (Christianity is part and parcel of the laws of the land), gehört die Staatskirche notwendig zur Verfassung. England ist seiner Verfassung nach wesentlich ein christlicher Staat, und zwar ein vollständig ausgebildeter, starker christlicher Staat; Staat und Kirche sind vollkommen verschmolzen und untrennbar. Diese Einheit von Kirche und Staat kann aber nur in einer christlichen Konfession, zur Ausschließung aller andern, bestehen, und diese ausgeschlossenen Sekten sind dadurch natürlich als Ketzer bezeichnet und der religiösen und politischen Verfolgung verfallen. So in England. Sie wurden also von jeher allesamt in eine Klasse zusammengeworfen, als Nonkonformisten oder Dissenters von aller Teilnahme am Staat ausgeschlossen, in ihrem Kultus gestört und gehindert und mit Strafgesetzen verfolgt. Je eifriger sie sich gegen die Einheit von Kirche und Staat erklärten, desto heftiger wurde diese Einheit von der herrschenden Partei verteidigt und zu einem Lebenspunkt des Staats erhoben. Als der christliche Staat in England noch in voller Blüte stand, war daher auch die Verfolgung der Dissenters[580] und besonders der Katholiken an der Tagesordnung, eine Verfolgung, die zwar weniger heftig, aber universeller, ausdauernder war als die des Mittelalters. Die akute Krankheit ging in eine chronische über, die plötzlichen, blutdürstigen Wutanfälle des Katholizismus verwandelten sich in eine kalte, politische Berechnung, die die Heterodoxie durch einen gelinderen, aber anhaltenden Druck auszurotten suchte. Die Verfolgung wurde auf das weltliche Gebiet herübergezogen und dadurch unerträglicher gemacht. Der Unglaube an die neununddreißig Artikel hörte auf, Blasphemie zu sein, aber anstatt dessen machte man ihn zum Staatsverbrechen.

Aber der Fortschritt der Geschichte ließ sich nicht aufhalten; der Abstand zwischen der Gesetzgebung von 1688 und der öffentlichen Meinung von 1828 war so groß, daß in diesem Jahre selbst das Unterhaus sich genötigt sah, die drückendsten Gesetze gegen die Dissenters aufzuheben. Die Testakte und die religiösen Paragraphen der Korporationsakte wurden abgeschafft; die Emanzipation der Katholiken folgte im nächsten Jahre trotz der wütenden Opposition der Tories. Die Tories, die Vertreter der Konstitution, hatten volles Recht in dieser Opposition, da keine einzige der liberalen Parteien, auch die Radikalen nicht, die Konstitution selbst angriffen. Die Konstitution sollte auch für sie die Grundlage bleiben, und auf dem Boden der Konstitution waren nur die Tories konsequent. Sie sahen ein und sprachen es aus, daß die obigen Maßregeln den Sturz der Hochkirche und notwendig auch den der Konstitution nach sich ziehen müssen; daß, dem Dissenter aktives Bürgerrecht geben, de facto die Hochkirche vernichten, die Angriffe auf die Hochkirche sanktionieren hieß; daß es eine arge Inkonsequenz gegen den Staat überhaupt ist, wenn man dem Katholiken, der über der Staatsgewalt die Autorität des Papstes anerkennt, Teil an der Verwaltung und Gesetzgebung bewilligt. Ihre Argumente konnten von den Liberalen nicht beantwortet werden; die Emanzipation ging dennoch durch, und die Prophezeiungen der Tories fangen bereits an, sich zu erfüllen.

Die Hochkirche ist also auf diese Weise ein leerer Name geworden und unterscheidet sich von den andern Konfessionen nur noch durch die drei Millionen Pfund, die sie jährlich bezieht, und einige kleine Privilegien, die gerade hinreichend sind, um den Kampf gegen sie aufrechtzuerhalten. Hierhin gehören die kirchlichen Gerichtshöfe, in denen der anglikanische Bischof eine alleinige, aber sehr bedeutungslose Jurisdiktion übt und deren Bedrückung besonders in den Gerichtskosten besteht; ferner die lokale Kirchensteuer, die zur Erhaltung der zur Verfügung der Staatskirche stehenden Gebäude verwendet wird; die Dissenters stehen unter der Jurisdiktion jener Höfe und müssen diese Steuer mitbezahlen.[581]

Aber nicht allein die Gesetzgebung gegen die Kirche, sondern auch die Gesetzgebung für sie hat dazu beigetragen, die Staatskirche zu einem leeren Namen zu machen. Die irische Kirche ist ein bloßer Name von jeher gewesen, eine vollendete Staats- oder Regierungskirche, eine komplette Hierarchie, vom Erzbischof abwärts bis zum Vikar, der weiter nichts fehlt als die Gemeinde, und deren Beruf darin besteht, für die leeren Wände zu predigen, zu beten und Litaneien abzusingen. Die englische Kirche hat zwar ein Publikum, obwohl sie auch, besonders in Wales und den Fabrikdistrikten ziemlich von den Dissenters verdrängt worden ist, aber die wohlbezahlten Seelenhirten bekümmern sich eben nicht viel um die Schafe. »Wenn ihr eine Priesterkaste in Verachtung bringen und stürzen wollt, so bezahlt sie gut«, sagt Bentham, und die englische und irische Kirche zeugen für die Wahrheit dieses Ausspruchs. Auf dem Lande und in den Städten in England ist dem Volke nichts verhaßter, nichts verächtlicher als ein church-of-England parson. Und bei einem so frommen Volk wie dem englischen will das was bedeuten.

Es versteht sich, daß, je leerer und bedeutungsloser der Name der Hochkirche wird, desto fester hängt die konservative und überhaupt entschieden konstitutionelle Partei daran; die Trennung von Kirche und Staat könnte auch dem Lord John Russell Tränen entlocken; es versteht sich ebenfalls, daß, je leerer dieser Name wird, desto ärger und fühlbarer wird der Druck. Die irische Kirche besonders, weil die bedeutungsloseste, ist die verhaßteste; sie hat gar keinen Zweck, als das Volk zu erbittern, als es daran zu erinnern, daß es ein unterjochtes Volk ist, dem der Eroberer seine Religion und seine Institutionen aufzwängt.

England steht demnach jetzt auf dem Übergange vom bestimmten in den unbestimmten christlichen Staat, in den Staat, der keine bestimmte Konfession, sondern einen Durchschnitt aller existierenden Konfessionen, das unbestimmte Christentum zu seiner Basis macht. Natürlich hat schon der alte, bestimmte, christliche Staat sich gegen den Unglauben verwahrt, und die Apostasie-Akte von 1699 bestraft ihn mit Verlust auch des passiven Bürgerrechts und mit Gefängnis; die Akte ist nie abgeschafft worden, wird aber nie mehr in Ausführung gebracht. Ein anderes Gesetz, aus Elisabeths Zeiten herrührend, schreibt vor, daß jeder, der sonntags ohne gehörige Entschuldigung aus der Kirche bleibt (wenn ich nicht irre, ist sogar die bischöfliche Kirche vorgeschrieben, denn Elisabeth erkannte keine dissentierenden Kapellen an), mit Geldstrafe und respektive Gefängnis dazu anzuhalten ist. Dies Gesetz kommt auf dem Lande noch häufig in Ausführung; selbst hier im zivilisierten[582] Lancashire, ein paar Stunden von Manchester, gibt es einige bigotte Friedensrichter, die – wie M. Gibson, Deputierter für Manchester, vor vierzehn Tagen im Unterhause anführte – eine Menge Leute wegen unterlassenen Kirchenbesuchs zu mitunter sechswöchentlichem Gefängnis verurteilten. Die Hauptgesetze aber gegen den Unglauben sind die, welche jeden, der nicht an einen Gott oder eine jenseitige Belohnung oder Bestrafung glaubt, zur Ablegung eines Eides unfähig machen und die Gotteslästerung bestrafen. Gotteslästerung ist alles, was die Bibel oder die christliche Religion in Verachtung zu bringen strebt, und ebenso die direkte Leugnung der Existenz Gottes; die Strafe, die darauf steht, ist Gefängnis – gewöhnlich ein Jahr, und Geldstrafe.


[»Vorwärts!« Nr. 80 vom 5. Oktober 1844]

Aber auch der unbestimmte christliche Staat geht schon seinem Verfall entgegen, ehe er durch die Gesetzgebung zur offiziellen Anerkennung gekommen ist. Die Apostasie-Akte ist, wie gesagt, absolut; das Gebot des Kirchenbesuchs ist ebenfalls ziemlich veraltet und seine Durchführung nur Ausnahme; das Blasphemiegesetz fängt – dank der Furchtlosigkeit der englischen Sozialisten und besonders Richard Carliles – ebenfalls an zu veralten und wird nur hier und da in besonders bigotten Lokalitäten, z.B. Edinburgh, in Anwendung gebracht, und selbst eine Verweigerung des Eides wird, wo es eben angeht, vermieden. Die christliche Partei ist so schwach geworden, daß sie selbst einsieht, eine strenge Handhabung dieser Gesetze werde in kurzer Zeit ihre Aufhebung nach sich ziehen, und bleibt daher lieber ruhig, damit das Damoklesschwert der christlichen Gesetzgebung wenigstens über dem Haupt der Ungläubigen schweben bleibe und vielleicht als Drohung und Abschreckung fortwirke.

Außer den bis jetzt beurteilten positiven politischen Institutionen sind noch einige andere Dinge in den Bereich der Verfassung zu ziehen. Von den Rechten des Bürgers ist bis jetzt kaum die Rede gewesen; innerhalb der eigentlichen Konstitution hat das Individuum keine Rechte in England. Diese Rechte existieren entweder durch den Gebrauch oder die Kraft einzelner Statute, die mit der Konstitution in keinem Zusammenhang stehen. Wir werden sehen, wie diese sonderbare Trennung entstanden ist, und gehen für den Augenblick zur Kritik dieser Rechte über.

Das erste ist das Recht, daß jeder seine Meinung ungehindert und ohne vorherige Genehmigung der Regierung veröffentlichen darf – die Preßfreiheit. Es ist im ganzen genommen richtig, daß nirgend eine ausgedehntere Preßfreiheit herrscht wie in England; und doch ist diese Freiheit hier noch[583] sehr beschränkt. Das Libelgesetz, das Hochverratsgesetz und das Blasphemiegesetz lasten schwer auf der Presse, und wenn Preßverfolgungen selten sind, so liegt das nicht am Gesetz, sondern an der Furcht der Regierung vor der unausbleiblichen Unpopularität, die die Folge von Schritten gegen die Presse sein würde. Die englischen Zeitungen aller Parteien begehen täglich Preßvergehen, sowohl gegen die Regierung wie gegen einzelne, aber man läßt sie alle ruhig passieren, wartet, bis man imstande ist, einen politischen Prozeß anzufangen und nimmt dann bei der Gelegenheit die Presse mit. So ist's mit den Chartisten 1842, so neulich mit den irischen Repealern gegangen. Die englische Preßfreiheit lebt seit hundert Jahren ebensowohl von der Gnade, wie die preußische Preßfreiheit von 1842 tat.

Das zweite »angeborne Recht« (birthright) des Engländers ist das Recht der Volksversammlung, ein Recht, das bis jetzt kein anderes Volk in Europa genießt. Dies Recht, obwohl uralt, ist später in einem Statut als »das Recht des Volks, sich zu versammeln, um seine Beschwerden zu diskutieren und die Legislatur um Abhülfe derselben zu petitionieren«, ausgesprochen worden. Hierin liegt schon eine Beschränkung. Wenn keine Petition das Resultat eines Meetings ist, so bekommt dies dadurch wo nicht geradezu ungesetzlichen, doch sehr zweideutigen Charakter. In O'Connells Prozeß wurde es von der Krone besonders hervorgehoben, daß die Meetings, die als ungesetzlich geschildert wurden, nicht zur Beratung von Petitionen berufen waren. Die Hauptbeschränkung ist aber die polizeiliche; die Zentral- oder Lokalregierung kann jedes Meeting vorher verbieten oder unterbrechen und auflösen, und dies hat sie nicht nur bei Clontarf, sondern in England selbst bei chartistischen und sozialistischen Meetings oft genug getan. Das aber gilt nicht für einen Angriff auf die angebornen Rechte der Engländer, weil die Chartisten und Sozialisten arme Teufel und also rechtlos sind; danach kräht kein Hahn außer dem »Northern Star« und der »New Moral World«, und daher erfährt man davon auf dem Kontinent nichts.

Ferner das Assoziationsrecht. Alle Assoziationen, die gesetzliche Zwecke mit gesetzlichen Mitteln verfolgen, sind erlaubt; sie dürfen aber nur jedesmal eine große Gesellschaft bilden und keine Zweigassoziationen einschließen. Die Bildung von Gesellschaften, die sich in lokale Zweige mit besonderer Organisation teilen, ist nur zu wohltätigen, überhaupt pekuniären Zwecken erlaubt und darf nur auf ein Zertifikat eines dazu ernannten Beamten hier begonnen werden. Die Sozialisten erlangten ein solches Zertifikat für ihre Assoziation, indem sie einen derartigen Zweck angaben; den Chartisten wurde es verweigert, obwohl sie die Konstitution der sozialistischen Gesellschaft wörtlich in der ihrigen kopierten. Sie sind jetzt gezwungen, das[584] Gesetz zu umgehen und dadurch in die Lage versetzt, daß ein einziger Schreibfehler eines einzigen Mitgliedes der chartistischen Assoziation die ganze Gesellschaft in die Fallstricke des Gesetzes verwickeln kann. Aber auch abgesehen davon, ist das Assoziationsrecht in seiner vollen Ausdehnung ein Vorrecht der Reichen; zu einer Assoziation gehört vor allem Geld, und es ist der reichen Korngesetz-Ligue leichter, Hunderttausende aufzubringen, als der armen chartistischen Gesellschaft oder der Union britischer Bergleute, die bloßen Kosten der Assoziation zu bestreiten. Und eine Assoziation, die keine Fonds zur Verfügung hat, will wenig bedeuten und kann keine Agitation machen.


[»Vorwärts!« Nr. 83 vom 16. Oktober 1844]

Das Recht des Habeas-Corpus, d.h. das Recht jedes Angeklagten (ausgenommen ist der Fall des Hochverrats), bis zur Eröffnung des Prozesses gegen Kaution freigelassen zu werden, dies vielgepriesene Recht ist wiederum ein Privilegium der Reichen. Der Arme kann keine Bürgschaft stellen und muß daher ins Gefängnis wandern.

Das letzte dieser Rechte des Individuums ist das Recht eines jeden, nur von seinesgleichen gerichtet zu werden, und auch dies ist ein Privilegium des Reichen. Der Arme wird nicht von seinesgleichen, er wird in allen Fällen von seinen gebornen Feinden gerichtet, denn in England sind die Reichen und die Armen in offnem Krieg. Die Geschwornen müssen gewisse Qualifikationen besitzen, und wie diese beschaffen sind, geht daraus hervor, daß die Juryliste von Dublin, einer Stadt von 250000 Einwohnern, nur achthundert Qualifizierte stark ist. In den letzten Chartistenprozessen in Lancaster, Warwick und Stafford wurden die Arbeiter von Grundbesitzern und Pächtern, die meist Tories, und Fabrikanten oder Kaufleuten, die meist Whigs, in jedem Falle aber die Feinde der Chartisten und der Arbeiter sind, gerichtet. Das ist aber nicht alles. Eine sogenannte »unparteiliche Jury« ist überhaupt ein Unding. Als O'Connell vor vier Wochen in Dublin gerichtet wurde, war jeder Jurymann als Protestant und Tory sein Feind. »Seinesgleichen« wären Katholiken und Repealer gewesen – aber selbst diese nicht, denn sie waren seine Freunde. Ein Katholik in der Jury hätte das Verdikt, hätte jedes Verdikt, mit Ausnahme einer Freisprechung, unmöglich gemacht. Hier ist der Fall eklatant; aber im Grunde ist es in jedem beliebigen Fall dasselbe. Das Geschwornengericht ist seinem Wesen nach eine politische und keine juristische Institution; aber weil alles juristische Wesen ursprünglich politischer Natur ist, kommt in ihr das wahre Juristentum zur Erscheinung, und das englische Geschwornengericht, weil das ausgebildetste, ist die Vollendung[585] der juristischen Lüge und Unsittlichkeit. Man fängt an mit der Fiktion des »unparteilichen Geschwornen«; man schärft den Geschwornen ein, alles zu vergessen, was sie etwa vor der Untersuchung in Beziehung auf den vorliegenden Fall gehört haben; bloß nach dem hier im Gerichtshof vorgebrachten Zeugnis zu urteilen – als ob so etwas nur möglich wäre! Man macht die zweite Fiktion des »unparteilichen Richters«, der das Gesetz entwickeln und die von beiden Seiten vorgebrachten Gründe ohne Parteilichkeit, ganz »objektiv« zusammenstellen soll – als ob das möglich wäre! Ja, man verlangt von dem Richter, daß er besonders und trotz alledem keinen Einfluß auf das Urteil der Geschwornen ausüben, ihnen das Verdikt nicht unter den Fuß geben soll – d.h. er soll die Prämissen so legen, wie sie gelegt werden müssen, um den Schluß zu ziehen; aber er soll den Schluß selbst nicht ziehen, er darf ihn selbst für sich nicht ziehen, denn das würde ja auf seine Darlegung der Prämissen einen Einfluß ausüben – alle diese und hundert andere Unmöglichkeiten, Unmenschlichkeiten und Dummheiten verlangt man, bloß um die ursprüngliche Dummheit und Unmenschlichkeit anständig zu verdecken. Aber die Praxis läßt sich nicht irremachen, in der Praxis kehrt man sich an all das Zeug nicht, der Richter gibt der Jury deutlich genug zu verstehen, was für ein Verdikt sie zu bringen hat, und die gehorsame Jury bringt das Verdikt auch regelmäßig ein.

Weiter! Der Angeklagte muß auf alle Weise geschützt werden, der Angeklagte ist, wie der König, heilig und unverletzlich und kann kein Unrecht tun, d.h., er kann gar nichts tun, und wenn er was tut, so hat's keine Gültigkeit. Der Angeklagte mag sein Verbrechen eingestehen, das hilft ihm gar nichts. Das Gesetz beschließt, daß er nicht glaubwürdig ist; ich glaube, es war 1819, daß ein Mann seine Frau des Ehebruchs bezichtigte, nachdem sie während einer Krankheit, die ihr tödlich schien, ihrem Mann den begangenen Ehebruch gestanden hatte – aber der Verteidiger der Frau wandte ein, daß das Geständnis der Angeklagten kein Beweisgrund sei, und die Klage wurde abgewiesen.3 Die Heiligkeit des Angeklagten wird dann ferner in dem juristischen Formenwesen durchgeführt, mit dem die englische Jury bekleidet ist und die den rabulistischen Kniffen der Advokaten ein so überaus ergiebiges Feld bietet. Es geht ins Unglaubliche, was für lächerliche Formfehler einen ganzen Prozeß umwerfen können. 1800 wurde ein Mann wegen Fälschung schuldig befunden, aber freigelassen, weil sein Verteidiger noch vor Urteilsfällung entdeckte, daß in der falschen Banknote der Name abgekürzt Bartw, dagegen in der Anklageakte vollständig Bartholomew geschrieben war. Der Richter, wie gesagt, nahm die Einwendung für genügend an und ließ den[586] Überführten frei.4 – 1827 wurde in Winchester ein Weib des Kindesmords angeklagt, aber freigesprochen, weil in dem Verdikt der Totenschaujury diese »auf ihren Eid« (The jurors of our Lord the King upon their oath present that, etc.) versicherte, daß dies und jenes geschehen sei, wo doch diese aus dreizehn Männern bestehende Jury nicht einen Eid, sondern dreizehn Eide abgelegt habe, und es also hätte heißen müssen: »Upon their oaths«.5 Vor einem Jahre wurde in Liverpool ein Junge, der jemandem an einem Sonntagabend das Schnupftuch aus der Tasche stahl, auf der Tat ertappt und verhaftet. Sein Vater wandte ein, der Polizeidiener habe ihn ungesetzlich verhaftet, weil ein Gesetz vorschreibt, daß niemand am Sonntage diejenige Arbeit tun dürfe, wodurch er sich seinen Unterhalt erwerbe; die Polizei dürfe also niemanden am Sonntage verhaften. Der Richter war damit einverstanden, examinierte aber den Jungen weiter, und als dieser gestand, er sei ein Dieb von Profession, wurde er um 5 Schillinge gestraft, weil er am Sonntage seinem Beruf nachgegangen sei. Ich könnte diese Beispiele verhundertfachen, aber sie reden für sich selbst schon genug. Das englische Gesetz heiligt den Angeklagten und wendet sich gegen die Gesellschaft, zu deren Schutz es eigentlich da ist. Wie in Sparta wird nicht das Verbrechen, sondern die Dummheit, mit der es begangen wurde, bestraft. Jeder Schutz wendet sich gegen den, den er schützen will; das Gesetz will die Gesellschaft schützen und greift sie an; es will den Angeklagten schützen und verletzt ihn – denn es ist klar, daß jeder, der zu arm ist, der offiziellen Rabulisterei einen ebenso rabulistischen Verteidiger entgegenzustellen, alle Formen gegen sich hat, die zu seinem Schutz geschaffen wurden. Wer zu arm ist, um einen Verteidiger oder eine gehörige Anzahl Zeugen zu stellen, ist in jedem irgend zweifelhaften Fall verloren. Er bekommt nur die Anklageakte und die ursprünglich vor dem Friedensrichter gemachten Depositionen vorher zu sehen, weiß also nicht das Detail dessen, was gegen ihn vorgebracht wird (und gerade für den Unschuldigen ist das am gefährlichsten); er muß sogleich, nachdem die Anklage geschlossen ist, antworten, darf nur einmal sprechen; erledigt er nicht alles, fehlt ein Zeuge, den er nicht für nötig hielt, so ist er verloren.


[»Vorwärts!« Nr. 84 vom 19. Oktober 1844]

Die Vollendung des Ganzen aber ist die Bestimmung, daß die zwölf Geschwornen in ihrem Verdikt einstimmig sein müssen.

Sie werden in einem Zimmer eingesperrt und nicht eher losgelassen, als bis sie einig sind oder der Richter einsieht, daß sie nicht zur Übereinstimmung[587] zu bringen sind. Es ist aber durchaus unmenschlich und geht so sehr gegen alle menschliche Natur an, daß es lächerlich wird, von zwölf Menschen zu verlangen, daß sie über einen Punkt ganz derselben Meinung sein sollen. Aber es ist konsequent. Das Inquisitionsverfahren foltert den Angeklagten körperlich oder geistig; das Geschwornengericht erklärt den Angeklagten für heilig und foltert die Zeugen durch ein Kreuzverhör, das dem des Inquisitionsgerichts gar nichts nachgibt, ja es foltert die Geschwornen; es muß ein Verdikt haben, und wenn die Welt darüber zugrunde gehen sollte; die Jury wird mit Gefängnis bestraft, bis sie ein Verdikt gibt; und wenn sie wirklich die Kaprice haben sollte, ihren Eid halten zu wollen, so wird eine neue Jury ernannt, der Prozeß noch einmal durchgemacht, und so fort, bis entweder die Ankläger oder die Geschwornen des Kampfs müde werden und sich auf Gnade und Ungnade ergeben. Beweis genug, daß das ganze Juristentum nicht ohne die Folter bestehen kann und in allen Fällen eine Barbarei ist. Es kann aber gar nicht anders sein; wenn man mathematische Gewißheit über Dinge haben will, die keine solche Gewißheit zulassen, so muß man notwendig in Unsinn und Barbarei geraten. Die Praxis bringt wieder um an den Tag, was hinter all diesen Dingen steckt; in der Praxis macht die Jury sich's leicht und bricht ihren Eid, wie das nicht anders geht, in aller Seelenruhe. 1824 konnte eine Jury in Oxford nicht übereinkommen. Einer behauptete: schuldig; elf: nicht schuldig. Endlich wurde ein Vertrag geschlossen; der eine Dissentient schrieb auf die Anklageakte: Schuldig, und zog sich zurück; dann kam der Vorsitzer mit den andern, nahm das Papier auf und schrieb vor das Schuldig: Nicht (Wade, »British History«). – Einen andern Fall erzählt Fonblanque, Redakteur des »Examiner«, in seinem Werk »England under seven Administrations«. Hier konnte eine Jury auch nicht fertig werden, und zuletzt wurde zum Lose Zuflucht genommen; man nahm zwei Strohhalme und zog; welche Partei das längste zog, deren Meinung wurde adoptiert.

Da wir einmal bei den juristischen Institutionen sind, so können wir, um den Überblick über den Rechtszustand Englands zu vervollständigen, uns die Sache noch etwas genauer ansehen. Der englische Strafkodex ist bekanntlich der strengste in Europa. Noch 1810 gab er an Barbarei der Carolina nichts nach; Verbrennen, Rädern, Vierteilen, Herausnehmen der Eingeweide bei lebendigem Leibe usw. waren sehr beliebte Kategorien. Seitdem sind zwar die empörendsten Scheußlichkeiten abgeschafft, aber noch immer stehen eine Menge Roheiten und Infamien unangetastet auf dem Statutenbuch. Die Todesstrafe steht auf sieben Verbrechen (Mord, Hochverrat, Notzucht, Sodomie, Einbruch, Raub mit Gewalt und Brandstiftung mit der Absicht zu[588] morden), und auch auf diese Zahl ist die früher noch viel ausgedehntere Todesstrafe erst 1837 beschränkt worden; und außer ihr kennt das englische Strafgesetz noch zwei ausgesucht barbarische Strafarten – Transportation oder Vertierung durch Gesellschaft, und einsame Einsperrung oder Vertierung durch Einsamkeit. Beide könnten nicht grausamer und niederträchtiger ausgesucht sein, um die Opfer des Gesetzes mit systematischer Konsequenz körperlich, intellektuell und moralisch zu verderben und sie unter die Bestie herabzudrücken. Der transportierte Verbrecher gerät in einen solchen Abgrund von Demoralisation, von ekelhafter Bestialität, daß die beste Natur darin in sechs Monaten unterliegen muß; wer Lust hat, die Berichte von Augenzeugen über Neusüdwales und Norfolk-Island zu lesen, wird mir recht geben, wenn ich behaupte, daß alles oben Gesagte noch lange nicht an die Wirklichkeit reicht. Der einsam Eingesperrte wird wahnsinnig gemacht; das Mustergefängnis in London hatte nach drei Monaten seines Bestehens schon drei Wahnsinnige an Bedlam abzugeben, von dem religiösen Wahnsinn, der gewöhnlich noch für Sinn gilt, gar nicht zu reden.

Die Strafgesetze gegen politische Verbrechen sind fast genau in denselben Ausdrücken abgefaßt wie die preußischen; besonders die »Aufreizung zur Unzufriedenheit« (exciting discontent) und »aufrührerische Sprache« (seditious language) kommen in derselben unbestimmten Fassung vor, die dem Richter und der Jury einen so weiten Spielraum lassen. Die Strafen sind auch hier strenger als anderswo; Transportation ist die Hauptkategorie.

Wenn diese strengen Strafen und diese unbestimmten politischen Verbrechen in der Praxis nicht so viel auf sich haben, als nach dem Gesetz scheinen sollte, so ist dies einerseits der Fehler des Gesetzes selbst, das in einer solchen Verwirrung und Unklarheit steckt, daß ein geschickter Advokat überall Schwierigkeiten zugunsten des Angeklagten erheben kann. Das englische Gesetz ist entweder gemeines Recht (common law), d.h. ungeschriebenes Recht, wie es zu der Zeit existierte, von welcher an man anfing die Statute zu sammeln, und später von juristischen Autoritäten zusammengestellt wurde; dies Recht ist natürlich in den wichtigsten Punkten ungewiß und zweifelhaft; oder Statutarrecht (statute law), das in einer unendlichen Reihe einzelner, seit fünfhundert Jahren gesammelten Parlamentakten besteht, die sich gegenseitig widersprechen und an die Stelle eines »Rechtszustandes« einen vollkommen rechtlosen Zustand stellen. Der Advokat ist hier alles; wer seine Zeit recht gründlich an diesen juristischen Wirrwarr, an dies Chaos von Widersprüchen verschwendet hat, ist in einem englischen Gerichtshofe allmächtig. Die Unsicherheit des Gesetzes führte natürlich zum Autoritätsglauben an die Entscheidungen früherer Richter in ähnlichen[589] Fällen, und hierdurch wird sie nur schlimmer gemacht, denn diese Entscheidungen widersprechen sich ebenfalls, und das Resultat der Untersuchung hängt wieder von der Belesenheit und Geistesgegenwart des Advokaten ab. Andrerseits ist die Bedeutungslosigkeit des englischen Strafgesetzes aber wiederum bloß Gnade etc., Rücksicht auf die öffentliche Meinung, die zu nehmen die Regierung durch das Gesetz gar nicht gebunden ist; und daß die Legislatur gar nicht gesonnen ist, dies Verhältnis zu ändern, zeigt die heftige Opposition gegen alle Gesetzreformen. Aber man vergesse nie, daß der Besitz herrscht, und daß daher diese Gnade nur gegen »respektable« Verbrecher ausgeübt wird; auf den Armen, den Paria, den Proletarier fällt die ganze Wucht der gesetzlichen Barbarei, und kein Hahn kräht danach.

Diese Begünstigung des Reichen ist aber auch im Gesetze ausdrücklich ausgesprochen. Während alle schweren Verbrechen mit den schwersten Strafen belegt sind, stehen Geldstrafen auf fast allen untergeordneteren Vergehen, Geldstrafen, die natürlich für Arme und Reiche dieselben sind, aber dem Reichen wenig oder nichts anhaben können, während der Arme sie in neun Fällen aus zehnen nicht bezahlen kann und dann ohne weiteres in »default of payment« ein paar Monate auf die Tretmühle geschickt wird. Man lese nur die Polizeiberichte im ersten besten englischen Tagblatte, um sich von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen. Die Mißhandlung der Armen und die Begünstigung der Reichen in allen Gerichtshöfen ist so allgemein, wird so offen, so unverschämt betrieben und so schamlos von den Zeitungen berichtet, daß man selten eine Zeitung ohne innere Empörung lesen kann. So ein Reicher wird immer mit einer ungemeinen Höflichkeit behandelt, und so brutal sein Vergehen auch gewesen sein mag, so »tut es den Richtern doch stets sehr leid«, daß sie ihn in eine gewöhnlich höchst lumpige Geldstrafe zu verurteilen haben. Die Verwaltung des Gesetzes ist in dieser Hinsicht noch viel unmenschlicher als das Gesetz selbst; »Law grinds the poor, and rich men rule the law« und »there is one law for the poor, and another for the rich« sind vollkommen wahre und längst sprichwörtlich gewordene Ausdrücke. Aber wie kann das anders sein? Die Friedensrichter wie die Geschwornen sind selbst reich, sind aus der Mittelklasse genommen und daher parteilich für ihresgleichen und geborne Feinde der Armen. Und wenn der soziale Einfluß des Besitzes, der jetzt nicht erörtert werden kann, in Betracht genommen wird, so kann sich wahrlich kein Mensch über einen so barbarischen Stand der Dinge wundern.[590]

Von der direkt sozialen Gesetzgebung, in der die Niederträchtigkeit kulminiert, wird später die Rede sein. An dieser Stelle könnte sie ohnehin nicht in ihrer vollen Bedeutung dargestellt werden.

Fassen wir das Resultat dieser Kritik des englischen Rechtszustandes zusammen. Was vom Standpunkte des »Rechtsstaats« aus dagegen gesagt werden kann, ist höchst gleichgültig. Daß England keine offizielle Demokratie ist, kann uns nicht gegen seine Institutionen einnehmen. Für uns hat nur das eine Wichtigkeit, das sich uns überall gezeigt hat: daß Theorie und Praxis im schreiendsten Widerspruch stehen. Alle Mächte der Verfassung, Krone, Oberhaus und Unterhaus, haben sich vor unsern Augen aufgelöst; wir haben gesehen, daß die Staatskirchen und alle sogenannten angebornen Rechte der Engländer leere Namen sind, daß selbst das Geschwornengericht in der Wirklichkeit nur ein Schein ist, daß das Gesetz selbst keine Existenz hat, kurz, daß ein Staat, der sich auf eine genau bestimmte, gesetzliche Basis gestellt hat, diese seine Basis verleugnet und mißhandelt. Der Engländer ist nicht frei durch das Gesetz, sondern trotz dem Gesetze, wenn er überhaupt frei sein soll.

Wir haben ferner gesehen, welch ein Wust von Lügen und Unsittlichkeit aus diesem Zustande folgt; man fällt vor leeren Namen nieder und verleugnet die Wirklichkeit, man will von ihr nichts wissen, sträubt sich gegen die Anerkennung dessen, was wirklich existiert, was man selbst geschaffen hat; man belügt sich selbst und führt eine konventionelle Sprache mit künstlichen Kategorien ein, deren jede ein Pasquill auf die Wirklichkeit ist, und klammert sich ängstlich an diese hohlen Abstraktionen an, um sich nur ja nicht gestehen zu müssen, daß es im Leben, in der Praxis sich um ganz andre Dinge handelt. Die ganze englische Verfassung und die ganze konstitutionelle öffentliche Meinung ist nichts als eine große Lüge, die durch eine Anzahl kleiner Lügen immer wieder unterstützt und verdeckt wird, wenn sie hier oder da in ihrem wahren Wesen etwas zu offen an den Tag kommt. Und selbst wenn man zur Einsicht kommt, daß all dies Gemächte eitel Unwahrheit und Fiktion ist, selbst dann hält man noch fest daran, ja fester als je, damit nur ja die leeren Worte, die paar sinnlos zusammengestellten Buchstaben nicht auseinanderfallen, denn diese Worte sind ja eben die Angeln der Welt, und mit ihnen müßte die Welt und die Menschheit in die Nacht der Verwirrung stürzen! Man kann sich von diesem Gewebe von offener und versteckter Lüge, von Heuchelei und Selbstbetrug nur mit einem gründlichen Ekel abwenden.

Kann ein solcher Zustand von Dauer sein? Kein Gedanke daran. Der Kampf der Praxis gegen die Theorie, der Wirklichkeit gegen die Abstraktion, des Lebens gegen hohle Worte ohne Bedeutung, mit einem Wort, des[591] Menschen gegen die Unmenschlichkeit muß sich entscheiden, und auf welcher Seite der Sieg sein wird, unterliegt keiner Frage.

Der Kampf ist bereits da. Die Konstitution ist in ihren Grundfesten erschüttert. Wie die nächste Zukunft sich gestalten wird, geht aus dem Gesagten hervor. Die neuen, fremdartigen Elemente in der Verfassung sind demokratischer Natur; auch die öffentliche Meinung, wie sich zeigen wird, entwickelt sich nach der demokratischen Seite hin; die nächste Zukunft Englands wird die Demokratie sein.

Aber was für eine Demokratie! Nicht die der französischen Revolution, deren Gegensatz die Monarchie und der Feudalismus war, sondern die Demokratie, deren Gegensatz die Mittelklasse und der Besitz ist. Dies zeigt die ganze vorhergehende Entwicklung. Die Mittelklasse und der Besitz herrschen; der Arme ist rechtlos, wird gedrückt und geschunden, die Konstitution verleugnet, das Gesetz mißhandelt ihn; der Kampf der Demokratie gegen die Aristokratie in England ist der Kampf der Armen gegen die Reichen. Die Demokratie, der England entgegengeht, ist eine soziale Demokratie.

Aber die bloße Demokratie ist nicht fähig, soziale Übel zu heilen. Die demokratische Gleichheit ist eine Chimäre, der Kampf der Armen gegen die Reichen kann nicht auf dem Boden der Demokratie oder der Politik überhaupt ausgekämpft werden. Auch diese Stufe ist also nur ein Übergang, das letzte rein politische Mittel, das noch zu versuchen ist und aus dem sich sogleich ein neues Element, ein über alles politische Wesen hinausgehendes Prinzip entwickeln muß.

Dies Prinzip ist das des Sozialismus.[592]


Fußnoten

1 Die obigen statistischen Details sind größtenteils dem Progress of the Nation, von G. Porter, einem Beamten der Board of Trade unter dem Whigministerium, also offiziellen Quellen entlehnt.


2 Second Report of the Committee of Secrecy, to whom the Papers referred to in His Majesty's Message on the 12. May 1794, were delivered. [Zweiter Bericht des geheimen Ausschusses, dem die Dokumente übergeben wurden, die sich auf Seiner Majestät Botschaft vom 12. Mai 1794 bezogen.] (Bericht über die Londoner revolutionären Gesellschaften, London 1794.) Pag. 68 ff.


3 Wade, »British History«, London, 1838.


4 Ebenda


5 Ebenda.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1956, Band 1.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Die Nächste und andere Erzählungen 1899-1900

Die Nächste und andere Erzählungen 1899-1900

Sechs Erzählungen von Arthur Schnitzler - Die Nächste - Um eine Stunde - Leutnant Gustl - Der blinde Geronimo und sein Bruder - Andreas Thameyers letzter Brief - Wohltaten Still und Rein gegeben

84 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon