IV. Gewaltstheorie (Schluß)

[162] »Ein sehr wichtiger Umstand liegt darin, daß tatsächlich die Beherrschung der Natur durch diejenige des Menschen erst überhaupt (!) vor sich gegangen ist« (eine Beherrschung ist vor sich gegangen!). »Die Bewirtschaftung des Grundeigentums in größern Strecken ist nie und nirgends ohne die vorgängige Knechtung des Menschen zu irgendeiner Art von Sklaven- oder Frondienst vollzogen worden. Die Aufrichtung einer ökonomischen Herrschaft über die Dinge hat die politische, soziale und ökonomische Herrschaft des Menschen über den Menschen zur Voraussetzung gehabt. Wie hätte man sich einen großen Grundherrn nur denken können, ohne zugleich seine Herrenschaft über Sklaven, Hörige oder Indirekt Unfreie in den Gedanken einzuschließen? Was möchte wohl die Kraft des einzelnen, die sich höchstens mit den Kräften der Familienhülfe ausgestattet sähe, für eine umfangreichere Ackerkultur bedeutet haben und bedeuten? Die Ausbeutung des Landes oder die ökonomische Herrschaftsausdehnung über dasselbe in einem die natürlichen Kräfte des einzelnen übersteigenden Umfang ist in der bisherigen Geschichte nur dadurch möglich geworden, daß vor oder zugleich mit der Begründung der Bodenherrschaft auch die zugehörige Knechtung des Menschen durchgeführt wurde. In den spätern Perioden der Entwicklung ist diese Knechtung gemildert worden... ihre gegenwärtige Gestalt ist in den höher zivilisierten Staaten eine mehr oder minder durch Polizeiherrschaft geleitete Lohnarbeit. Auf der letztern beruht also die praktische Möglichkeit derjenigen Art des heutigen Reichtums, welcher sich in der umfangreicheren Bodenherrschaft und (!) im größern Grundbesitz darstellt. Selbstverständlich sind alle andern Gattungen des Verteilungsreichtums geschichtlich auf ähnliche Weise zu erklären, und die indirekte Abhängigkeit des Menschen vom Menschen, welche gegenwärtig den Grundzug der ökonomisch am weitesten entwickelten Zustände bildet, kann nicht aus sich selbst, sondern nur als eine etwas verwandelte Erbschaft einer frühern direkten Unterwerfung und Enteignung verstanden und erklärt werden.«

So Herr Dühring.

These: Die Beherrschung der Natur (durch den Menschen) setzt die Beherrschung des Menschen (durch den Menschen) voraus.

Beweis: Die Bewirtschaftung des Grundeigentums in größern Strecken ist nie und nirgends anders als durch Knechte erfolgt.

Beweis des Beweises: Wie kann es große Grundbesitzer geben ohne Knechte, da der große Grundbesitzer mit seiner Familie ohne Knechte ja nur einen geringen Teil seines Besitzes bebauen könnte.

Also: Um zu beweisen, daß der Mensch, um die Natur sich zu unterwerfen, vorher den Menschen knechten mußte, verwandelt Herr Dühring »die Natur« ohne weiteres in »Grundeigentum in größern Strecken« und[162] dies Grundeigentum – unbestimmt wessen? – sofort wieder in das Eigentum eines großen Grundherrn, der natürlich ohne Knechte sein Land nicht bebauen kann.

Erstens sind »Beherrschung der Natur« und »Bewirtschaftung des Grundeigentums« keineswegs dasselbe. Die Beherrschung der Natur wird in der Industrie in ganz anders kolossalem Maßstab ausgeübt als im Ackerbau, der sich bis heute vom Wetter beherrschen lassen muß, statt das Wetter zu beherrschen.

Zweitens, wenn wir uns auf die Bewirtschaftung des Grundeigentums in größern Strecken beschränken, so kommt es darauf an, wem dies Grundeigentum gehört. Und da finden wir im Anfang der Geschichte aller Kulturvölker nicht den »großen Grundherrn«, den uns Herr Dühring hier unterschiebt mit seiner gewöhnlichen Taschenspielermanier, die er »natürliche Dialektik« nennt – sondern Stamm- und Dorfgemeinden mit gemeinsamem Grundbesitz. Von Indien bis Irland ist die Bewirtschaftung des Grundeigentums in größern Strecken ursprünglich durch solche Stamm- und Dorfgemeinden vor sich gegangen, und zwar bald in gemeinschaftlicher Bebauung des Ackerlandes für Rechnung der Gemeinde, bald in einzelnen, von der Gemeinde den Familien auf Zeit zugeteilten Ackerparzellen bei fortdauernder Gemeinnutzung von Wald- und Weideland. Es ist wiederum bezeichnend für »die eindringendsten Fachstudien« des Herrn Dühring »auf dem politischen und juristischen Gebiet«, daß er von allen diesen Dingen nichts weiß; daß seine sämtlichen Werke eine totale Unbekanntschaft atmen mit den epochemachenden Schriften Maurers über die ursprüngliche deutsche Markverfassung, die Grundlage des gesamten deutschen Rechts, und mit der hauptsächlich durch Maurer angeregten, noch stets anschwellenden Literatur, die sich mit dem Nachweis der ursprünglichen Gemeinschaftlichkeit des Grundbesitzes bei allen europäischen und asiatischen Kulturvölkern und mit der Darstellung seiner verschiednen Daseins- und Auflösungsformen beschäftigt. Wie auf dem Gebiet des französischen und englischen Rechts Herr Dühring »seine ganze Ignoranz sich selbst erworben« hatte, so groß sie auch war, so auf dem Gebiet des deutschen Rechts seine noch weit größere. Der Mann, der sich so gewaltig über den beschränkten Horizont der Universitätsprofessoren erbost, er steht auf dem Gebiet des deutschen Rechts noch heute höchstens da, wo die Professoren vor zwanzig Jahren standen.

Es ist eine reine »freie Schöpfung und Imagination« des Herrn Dühring, wenn er behauptet, daß zur Bewirtschaftung des Grundeigentums auf größern Strecken Grundherrn und Knechte erforderlich gewesen seien. Im[163] ganzen Orient, wo die Gemeinde oder der Staat Grundeigentümer ist, fehlt sogar das Wort Grundherr in den Sprachen, worüber sich Herr Dühring bei den englischen Juristen Rats erholen kann, die sich in Indien ebenso umsonst mit der Frage abquälten: wer ist Grundeigentümer? – wie weiland Fürst Heinrich LXXII. von Reuß-Greiz-Schleiz-Lobenstein-Eberswalde mit der Frage: wer ist Nachtwächter? Erst die Türken haben im Orient in den von ihnen eroberten Ländern eine Art grundherrlichen Feudalismus eingeführt. Griechenland tritt schon im Heroenzeitalter in die Geschichte ein mit einer Ständegliederung, die selbst wieder das augenscheinliche Erzeugnis einer längern, unbekannten Vorgeschichte ist; aber auch da wird der Boden vorwiegend von selbständigen Bauern bewirtschaftet; die größern Güter der Edlen und Stammesfürsten bilden die Ausnahme und verschwinden ohnehin bald nachher. Italien ist urbar gemacht worden vorwiegend von Bauern; als in den letzten Zeiten der römischen Republik die großen Güterkomplexe, die Latifundien, die Parzellenbauern verdrängten und durch Sklaven ersetzten, ersetzten sie zugleich den Ackerbau durch Viehzucht und richteten, wie schon Plinius wußte, Italien zugrunde (latifundia Italiam perdidere). Im Mittelalter herrscht in ganz Europa (namentlich bei der Urbarmachung von Ödland) die Bauernkultur vor, wobei es für die vorliegende Frage gleichgültig ist, ob und welche Abgaben diese Bauern an irgendwelchen Feudalherrn zu zahlen hatten. Die friesischen, niedersächsischen, flämischen und niederrheinischen Kolonisten, die das den Slawen entrissene Land östlich der Elbe in Bebauung nahmen, taten dies als freie Bauern unter sehr günstigen Zinssätzen, keineswegs aber in »irgendeiner Art von Frondienst«. – In Nordamerika ist bei weitem der größte Teil des Landes durch Arbeit freier Bauern der Kultur erschlossen worden, während die großen Grundherrn des Südens mit ihren Sklaven und ihrem Raubbau den Boden erschöpften, bis er nur noch Tannen trug, so daß die Baumwollkultur immer weiter nach Westen wandern mußte. In Australien und Neuseeland sind alle Versuche der englischen Regierung, eine Bodenaristokratie künstlich herzustellen, gescheitert. Kurz, wenn wir die tropischen und subtropischen Kolonien ausnehmen, in denen das Klima dem Europäer die Ackerbauarbeit verbietet, erweist sich der vermittelst seiner Sklaven oder Fronknechte die Natur seiner Herrschaft unterwerfende, den Boden urbar machende große Grundherr als ein pures Phantasiegebilde. Im Gegenteil. Wo er im Altertum auftritt, wie in Italien, macht er nicht Wüstland urbar, sondern verwandelt das von Bauern urbar gemachte Ackerland in Viehweide, entvölkert und ruiniert ganze Länder. Erst in neuerer Zeit, erst seitdem die dichtere Bevölkerung den Bodenwert[164] gehoben und namentlich seit die Entwicklung der Agronomie auch schlechtem Boden verwendbarer gemacht hat – erst da hat der große Grundbesitz angefangen, an der Urbarmachung von Ödland und Weideland in großem Maßstab sich zu beteiligen, und das vornehmlich durch Diebstahl am Gemeindeland der Bauern, sowohl in England wie in Deutschland. Und auch das nicht ohne Gegengewicht. Für jeden Acker Gemeindeland, den die großen Grundbesitzer in England urbar gemacht, haben sie in Schottland mindestens drei Acker urbares Land in Schaftrift und zuletzt gar in bloßes Jagdrevier für Hochwild verwandelt.

Wir haben es hier nur mit der Behauptung des Herrn Dühring zu tun, daß die Urbarmachung größerer Landstriche, also doch wohl so ziemlich des ganzen Kulturgebiets »nie und nirgends« anders vollzogen worden sei, als durch große Grundherrn und Knechte – eine Behauptung, von der wir gesehn haben, daß sie eine wahrhaft unerhörte Unkenntnis der Geschichte »zur Voraussetzung hat«. Wir haben uns also hier weder darum zu kümmern, inwiefern zu verschiednen Zeiten bereits ganz oder größtenteils urbare Landstriche durch Sklaven (wie zur Blütezeit Griechenlands) oder Hörige (wie die Fronhöfe seit dem Mittelalter) bebaut worden sind, noch darum, welches die gesellschaftliche Funktion der großen Grundbesitzer zu verschiednen Zeiten gewesen ist.

Und nachdem Herr Dühring uns dies meisterhafte Phantasiegemälde vorgehalten, von dem man nicht weiß, was man mehr bewundern soll, die Taschenspielerkunst der Deduktion oder die Geschichtsfälschung – ruft er triumphierend aus:

»Selbstverständlich sind alle andern Gattungen des Verteilungsreichtums geschichtlich auf ähnliche Weise zu erklären

Womit er sich natürlich die Mühe erspart, über die Entstehung z.B. des Kapitals auch nur ein einziges weiteres Wörtchen zu verlieren.

Wenn Herr Dühring mit seiner Beherrschung des Menschen durch den Menschen als Vorbedingung der Beherrschung der Natur durch den Menschen im allgemeinen nur sagen will, daß unser gesamter gegenwärtiger ökonomischer Zustand, die heute erreichte Entwicklungsstufe von Ackerbau und Industrie, das Resultat einer sich in Klassengegensätzen, in Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen abwickelnden Gesellschaftsgeschichte ist, so sagt er etwas, das seit dem »Kommunistischen Manifest« längst Gemeinplatz geworden ist. Es kommt eben darauf an, die Entstehung der Klassen und der Herrschaftsverhältnisse zu erklären, und wenn Herr Dühring dafür immer nur das eine Wort »Gewalt« hat, so sind wir damit[165] genausoweit wie am Anfang. Die einfache Tatsache, daß die Beherrschten und Ausgebeuteten zu allen Zeiten weit zahlreicher sind als die Herrscher und Ausbeuter, daß also die wirkliche Gewalt bei jenen ruht, reicht allein hin, um die Torheit der ganzen Gewaltstheorie klarzustellen. Es handelt sich also immer noch um die Erklärung der Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse.

Sie sind auf zwiefachem Wege entstanden.

Wie die Menschen ursprünglich aus dem Tierreich – im engern Sinne – heraustreten, so treten sie in die Geschichte ein: noch halb Tiere, roh, noch ohnmächtig gegenüber den Kräften der Natur, noch unbekannt mit ihren eignen; daher arm wie die Tiere und kaum produktiver als sie. Es herrscht eine gewisse Gleichheit der Lebenslage und für die Familienhäupter auch eine Art Gleichheit der gesellschaftlichen Stellung – wenigstens eine Abwesenheit von Gesellschaftsklassen, die noch in den naturwüchsigen, ackerbautreibenden Gemeinwesen der spätern Kulturvölker fortdauert. In jedem solchen Gemeinwesen bestehn von Anfang an gewisse gemeinsame Interessen, deren Wahrung einzelnen, wenn auch unter Aufsicht der Gesamtheit, übertragen werden muß: Entscheidung von Streitigkeiten; Repression von Übergriffen einzelner über ihre Berechtigung hinaus; Aufsicht über Gewässer, besonders in heißen Ländern; endlich, bei der Waldursprünglichkeit der Zustände, religiöse Funktionen. Dergleichen Beamtungen finden sich in den urwüchsigen Gemeinwesen zu jeder Zeit, so in den ältesten deutschen Markgenossenschaften und noch heute in Indien. Sie sind selbstredend mit einer gewissen Machtvollkommenheit ausgerüstet und die Anfänge der Staatsgewalt. Allmählich steigern sich die Produktivkräfte; die dichtere Bevölkerung schafft hier gemeinsame, dort widerstreitende Interessen zwischen den einzelnen Gemeinwesen, deren Gruppierung zu größern Ganzen wiederum eine neue Arbeitsteilung, die Schaffung von Organen zur Wahrung der gemeinsamen, zur Abwehr der widerstreitenden Interessen hervorruft. Diese Organe, die schon als Vertreter der gemeinsamen Interessen der ganzen Gruppe, jedem einzelnen Gemeinwesen gegenüber eine besondre, unter Umständen sogar gegensätzliche Stellung haben, verselbständigen sich bald noch mehr, teils durch die, in einer Welt, wo alles naturwüchsig hergeht, fast selbstverständlich eintretende Erblichkeit der Amtsführung, teils durch ihre, mit der Vermehrung der Konflikte mit andern Gruppen wachsende Unentbehrlichkeit. Wie diese Verselbständigung der gesellschaftlichen Funktion gegenüber der Gesellschaft mit der Zeit sich bis zur Herrschaft über die Gesellschaft steigern konnte, wie der ursprüngliche Diener, wo die Gelegenheit günstig, sich allmählich in den[166] Herrn verwandelte, wie je nach den Umständen dieser Herr als orientalischer Despot oder Satrap, als griechischer Stammesfürst, als keltischer Clanchef usw. auftrat, wieweit er sich bei dieser Verwandlung schließlich auch der Gewalt bediente, wie endlich die einzelnen herrschenden Personen sich zu einer herrschenden Klasse zusammenfügten, darauf brauchen wir hier nicht einzugehn. Es kommt hier nur darauf an, festzustellen, daß der politischen Herrschaft überall eine gesellschaftliche Amtstätigkeit zugrunde lag; und die politische Herrschaft hat auch dann nur auf die Dauer bestanden, wenn sie diese ihre gesellschaftliche Amtstätigkeit vollzog. Wie viele Despotien auch über Persien und Indien auf- oder untergegangen sind, jede wußte ganz genau, daß sie vor allem die Gesamtunternehmerin der Berieselung der Flußtäler war, ohne die dort kein Ackerbau möglich. Erst den aufgeklärten Engländern war es vorbehalten, dies in Indien zu übersehn; sie ließen die Rieselkanäle und Schleusen verfallen und entdecken jetzt endlich durch die regelmäßig wiederkehrenden Hungersnöte, daß sie die einzige Tätigkeit vernachlässigt haben, die ihre Herrschaft in Indien wenigstens ebenso rechtmäßig ma chen könnte, wie die ihrer Vorgänger.

Neben dieser Klassenbildung ging aber noch eine andre. Die naturwüchsige Arbeitsteilung innerhalb der ackerbauenden Familie erlaubte auf einer gewissen Stufe des Wohlstands die Einfügung einer oder mehrerer fremden Arbeitskräfte. Dies war besonders der Fall in Ländern, wo der alte Gemeinbesitz am Boden bereits zerfallen oder doch wenigstens die alte gemeinsame Bebauung der Einzelbebauung der Bodenanteile durch die entsprechenden Familien gewichen war. Die Produktion war so weit entwickelt, daß die menschliche Arbeitskraft jetzt mehr erzeugen konnte, als zu ihrem einfachen Unterhalt nötig war; die Mittel, mehr Arbeitskräfte zu unterhalten, waren vorhanden; diejenigen, sie zu beschäftigen, ebenfalls; die Arbeitskraft bekam einen Wert. Aber das eigne Gemeinwesen und der Verband, dem es angehörte, lieferte keine disponiblen, überschüssigen Arbeitskräfte. Der Krieg dagegen lieferte sie, und der Krieg war so alt wie die gleichzeitige Existenz mehrerer Gemeinschaftsgruppen nebeneinander. Bisher hatte man mit den Kriegsgefangnen nichts anzufangen gewußt, sie also einfach erschlagen, noch früher hatte man sie verspeist. Aber auf der jetzt erreichten Stufe der »Wirtschaftslage« erhielten sie einen Wert; man ließ sie also leben und machte sich ihre Arbeit dienstbar. So wurde die Gewalt, statt die Wirtschaftslage zu beherrschen, im Gegenteil in den Dienst der Wirtschaftslage gepreßt. Die Sklaverei war erfunden. Sie wurde bald die herrschende Form der Produktion bei allen, über das alte Gemeinwesen hinaus sich entwickelnden Völkern, schließlich aber auch eine der Hauptursachen[167] ihres Verfalls. Erst die Sklaverei machte die Teilung der Arbeit zwischen Ackerbau und Industrie auf größerm Maßstab möglich, und damit die Blüte der alten Welt, das Griechentum. Ohne Sklaverei kein griechischer Staat, keine griechische Kunst und Wissenschaft; ohne Sklaverei kein Römerreich. Ohne die Grundlage des Griechentums und des Römerreichs aber auch kein modernes Europa. Wir sollten nie vergessen, daß unsere ganze ökonomische, politische und intellektuelle Entwicklung einen Zustand zur Voraussetzung hat, in dem die Sklaverei ebenso notwendig wie allgemein anerkannt war. In diesem Sinne sind wir berechtigt zu sagen: Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus.

Es ist sehr wohlfeil, über Sklaverei und dergleichen in allgemeinen Redensarten loszuziehn und einen hohen sittlichen Zorn über dergleichen Schändlichkeit auszugießen. Leider spricht man damit weiter nichts aus als das, was jedermann weiß, nämlich daß diese antiken Einrichtungen unsern heutigen Zuständen und unsern durch diese Zustände bestimmten Gefühlen nicht mehr entsprechen. Wir erfahren damit aber kein Wort darüber, wie diese Einrichtungen entstanden sind, warum sie bestanden und welche Rolle sie in der Geschichte gespielt haben. Und wenn wir hierauf eingehn, so müssen wir sagen, so widerspruchsvoll und so ketzerisch das auch klingen mag, daß die Einführung der Sklaverei unter den damaligen Umständen ein großer Fortschritt war. Es ist nun einmal eine Tatsache, daß die Menschheit vom Tiere angefangen und daher barbarische, fast tierische Mittel nötig gehabt hat, um sich aus der Barbarei herauszuarbeiten. Die alten Gemeinwesen, wo sie fortbestanden, bilden seit Jahrtausenden die Grundlage der rohesten Staatsform, der orientalischen Despotie, von Indien bis Rußland. Nur wo sie sich auflösten, sind die Völker aus sich selbst weiter vorangeschritten, und ihr nächster ökonomischer Fortschritt bestand in der Steigerung und Fortbildung der Produktion vermittelst der Sklavenarbeit. Es ist klar: solange die menschliche Arbeit noch so wenig produktiv war, daß sie nur wenig Überschuß über die notwendigen Lebensmittel hinaus lieferte, war Steigerung der Produktivkräfte, Ausdehnung des Verkehrs, Entwicklung von Staat und Recht, Begründung von Kunst und Wissenschaft nur möglich vermittelst einer gesteigerten Arbeitsteilung, die zu ihrer Grundlage haben mußte die große Arbeitsteilung zwischen den die einfache Handarbeit besorgenden Massen und den die Leitung der Arbeit, den Handel, die Staatsgeschäfte, und späterhin die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft betreibenden wenigen Bevorrechteten. Die einfachste, naturwüchsigste Form dieser Arbeitsteilung war eben die Sklaverei. Bei den geschichtlichen Voraussetzungen der alten, speziell der griechischen[168] Welt konnte der Fortschritt zu einer auf Klassengegensätzen gegründeten Gesellschaft sich nur vollziehn in der Form der Sklaverei. Selbst für die Sklaven war dies ein Fortschritt; die Kriegsgefangnen, aus denen die Masse der Sklaven sich rekrutierte, behielten jetzt wenigstens das Leben, statt daß sie früher gemordet oder noch früher gar gebraten wurden.

Fügen wir bei dieser Gelegenheit hinzu, daß alle bisherigen geschichtlichen Gegensätze von ausbeutenden und ausgebeuteten, herrschenden und unterdrückten Klassen ihre Erklärung finden in derselben verhältnismäßig unentwickelten Produktivität der menschlichen Arbeit. Solange die wirklich arbeitende Bevölkerung von ihrer notwendigen Arbeit so sehr in Anspruch genommen wird, daß ihr keine Zeit zur Besorgung der gemeinsamen Geschäfte der Gesellschaft – Arbeitsleitung, Staatsgeschäfte, Rechtsangelegenheiten, Kunst, Wissenschaft etc. – übrigbleibt, solange mußte stets eine besondre Klasse bestehn, die, von der wirklichen Arbeit befreit, diese Angelegenheiten besorgte; wobei sie denn nie verfehlte, den arbeitenden Massen zu ihrem eignen Vorteil mehr und mehr Arbeitslast aufzubürden. Erst die durch die große Industrie erreichte ungeheure Steigerung der Produktivkräfte erlaubt, die Arbeit auf alle Gesellschaftsglieder ohne Ausnahme zu verteilen und dadurch die Arbeitszeit eines jeden so zu beschränken, daß für alle hinreichend freie Zeit bleibt, um sich an den allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft – theoretischen wie praktischen – zu beteiligen. Erst jetzt also ist jede herrschende und ausbeutende Klasse überflüssig, ja ein Hindernis der gesellschaftlichen Entwicklung geworden, und erst jetzt auch wird sie unerbittlich beseitigt werden, mag sie auch noch sosehr im Besitz der »unmittelbaren Gewalt« sein.

Wenn also Herr Dühring über das Griechentum die Nase rümpft, weil es auf Sklaverei begründet war, so kann er den Griechen mit demselben Recht den Vorwurf machen, daß sie keine Dampfmaschinen und elektrischen Telegraphen hatten. Und wenn er behauptet, unsre moderne Lohnknechtung sei nur als eine etwas verwandelte und gemilderte Erbschaft der Sklaverei und nicht aus sich selbst (das heißt aus den ökonomischen Gesetzen der modernen Gesellschaft) zu erklären, so heißt das entweder nur, daß Lohnarbeit wie Sklaverei Formen der Knechtschaft und der Klassenherrschaft sind, was jedes Kind weiß, oder es ist falsch. Denn mit demselben Recht könnten wir sagen, die Lohnarbeit sei nur zu erklären als eine gemilderte Form der Menschenfresserei, der jetzt überall festgestellten, ursprünglichen Form der Verwendung der besiegten Feinde.

Hiernach ist es klar, welche Rolle die Gewalt in der Geschichte gegenüber der ökonomischen Entwicklung spielt. Erstens beruht alle politische[169] Gewalt ursprünglich auf einer ökonomischen, gesellschaftlichen Funktion und steigert sich in dem Maß, wie durch Auflösung der ursprünglichen Gemeinwesen die Gesellschaftsglieder in Privatproduzenten verwandelt, also den Verwaltern der gemeinsam-gesellschaftlichen Funktionen noch mehr entfremdet werden. Zweitens, nachdem sich die politische Gewalt gegenüber der Gesellschaft verselbständigt, aus der Dienerin in die Herrin verwandelt hat, kann sie in zweierlei Richtung wirken. Entweder wirkt sie im Sinn und in der Richtung der gesetzmäßigen ökonomischen Entwicklung. In diesem Fall besteht kein Streit zwischen beiden, die ökonomische Entwicklung wird beschleunigt. Oder aber sie wirkt ihr entgegen, und dann erliegt sie, mit wenigen Ausnahmen, der ökonomischen Entwicklung regelmäßig. Diese wenigen Ausnahmen sind einzelne Fälle von Eroberung, wo die roheren Eroberer die Bevölkerung eines Landes ausrotteten oder vertrieben und die Produktivkräfte, mit denen sie nichts anzufangen wußten, verwüsteten oder verkommen ließen. So die Christen im maurischen Spanien den größten Teil der Berieselungswerke, auf denen der hochentwickelte Acker- und Gartenbau der Mauren beruht hatte. Jede Eroberung durch ein roheres Volk stört selbstredend die ökonomische Entwicklung und vernichtet zahlreiche Produktivkräfte. Aber in der ungeheuren Mehrzahl der Fälle von dauernder Eroberung muß der rohere Eroberer sich der höhern »Wirtschaftslage«, wie sie aus der Eroberung hervorgeht, anpassen; er wird von den Eroberten assimiliert und muß meist sogar ihre Sprache annehmen. Wo aber – abgesehn von Eroberungsfällen – die innere Staatsgewalt eines Landes in Gegensatz tritt zu seiner ökonomischen Entwicklung, wie das bisher auf gewisser Stufe fast für jede politische Gewalt eingetreten ist, da hat der Kampf jedesmal geendigt mit dem Sturz der politischen Gewalt. Ausnahmslos und unerbittlich hat die ökonomische Entwicklung sich Bahn gebrochen – das letzte schlagendste Beispiel davon haben wir schon erwähnt: die große französische Revolution. Hinge, nach Herrn Dührings Lehre, die Wirtschaftslage und mit ihr die ökonomische Verfassung eines bestimmten Landes einfach von der politischen Gewalt ab, so ist gar nicht abzusehn, warum denn es Friedrich Wilhelm IV. nach 1848 nicht gelingen wollte, trotz seines »herrlichen Kriegsheeres«, die mittelalterlichen Zünfte und andre romantische Marotten auf die Eisenbahnen, Dampfmaschinen und die sich eben entwickelnde große Industrie seines Landes zu pfropfen; oder warum der Kaiser von Rußland, der doch noch viel gewaltiger ist, nicht nur seine Schulden nicht bezahlen, sondern nicht einmal ohne fortwährendes Anpumpen der »Wirtschaftslage« von Westeuropa seine »Gewalt« zusammenhalten kann.[170]

Für Herrn Dühring ist die Gewalt das absolut Böse, der erste Gewaltsakt ist ihm der Sündenfall, seine ganze Darstellung ist eine Jammerpredigt über die hiermit vollzogne Ansteckung der ganzen bisherigen Geschichte mit der Erbsünde, über die schmähliche Fälschung aller natürlichen und gesellschaftlichen Gesetze durch diese Teufelsmacht, die Gewalt. Daß die Gewalt aber noch eine andre Rolle in der Geschichte spielt, eine revolutionäre Rolle, daß sie, in Marx' Worten, die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger geht, daß sie das Werkzeug ist, womit sich die gesellschaftliche Bewegung durchsetzt und erstarrte, abgestorbne politische Formen zerbricht – davon kein Wort bei Herrn Dühring. Nur unter Seufzen und Stöhnen gibt er die Möglichkeit zu, daß zum Sturz der Ausbeutungswirtschaft vielleicht Gewalt nötig sein werde – leider! denn jede Gewaltsanwendung demoralisiere den, der sie anwendet. Und das angesichts des hohen moralischen und geistigen Aufschwungs, der die Folge jeder siegreichen Revolution war! Und das in Deutschland, wo ein gewaltsamer Zusammenstoß, der dem Volk ja aufgenötigt werden kann, wenigstens den Vorteil hätte, die aus der Erniedrigung des Dreißigjährigen Kriegs in das nationale Bewußtsein gedrungne Bedientenhaftigkeit auszutilgen. Und diese matte, satt- und kraftlose Predigerdenkweise macht den Anspruch, sich der revolutionärsten Partei aufzudrängen, die die Geschichte kennt?

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 20, S. 162-171.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon