I

[5] Die nachfolgende Arbeit ist keineswegs die Frucht irgendwelches »innern Dranges«. Im Gegenteil.

Als vor drei Jahren Herr Dühring plötzlich als Adept und gleichzeitig Reformator des Sozialismus sein Jahrhundert in die Schranken forderte, drangen Freunde in Deutschland wiederholt auf mich ein mit dem Wunsch, ich möchte diese neue sozialistische Theorie im Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei, damals dem »Volksstaat«, kritisch beleuchten. Sie hielten dies für durchaus nötig, wenn nicht in der noch so jungen und eben erst definitiv geeinten Partei von neuem Gelegenheit zu sektiererischer Spaltung und Verwirrung gegeben werden sollte. Sie waren besser imstande als ich, die Verhältnisse in Deutschland zu beurteilen; ich war also verpflichtet, ihnen zu glauben. Daneben zeigte sich, daß der Neubekehrte von einem Teil der sozialistischen Presse mit einer Wärme bewillkommt wurde, die zwar nur dem guten Willen des Herrn Dühring galt, gleichzeitig aber auch bei diesem Teil der Parteipresse den guten Willen durchblicken ließ, auf Rechnung eben dieses Dühringschen guten Willens auch die Dühringsche Doktrin unbesehn mit in den Kauf zu nehmen. Auch fanden sich Leute, die sich schon anschickten, diese Doktrin in popularisierter Form unter den Arbeitern zu verbreiten. Und endlich boten Herr Dühring und sein kleiner Sektenstamm alle Künste der Reklame und der Intrige auf, um den »Volksstaat« zu entschiedner Stellungnahme zu nötigen gegenüber der mit so gewaltigen Ansprüchen auftretenden neuen Lehre.

Trotzdem dauerte es ein Jahr, bis ich mich entschließen konnte, mit Vernachlässigung andrer Arbeiten in diesen sauren Apfel zu beißen. Es war eben ein Apfel, den man ganz verzehren mußte, sobald man einmal anbiß.[5]

Und er war nicht nur sehr sauer, sondern auch sehr dick. Die neue sozialistische Theorie trat auf als letzte praktische Frucht eines neuen philosophischen Systems. Es galt also, sie im Zusammenhang dieses Systems, und damit das System selbst zu untersuchen; es galt, Herrn Dühring zu folgen auf jenes weitläufige Gebiet, wo er von allen möglichen Dingen handelt und noch von einigen mehr. So entstand eine Reihe von Artikeln, die seit Anfang 1877 im Nachfolger des »Volksstaat«, im Leipziger »Vorwärts« erschien und hier im Zusammenhang vorliegt.

Es war somit die Beschaffenheit des Gegenstandes selbst, die die Kritik zu einer Ausführlichkeit zwang, zu der der wissenschaftliche Gehalt dieses Gegenstandes, also der Dühringschen Schriften, im äußersten Mißverhältnis steht. Jedoch mögen auch noch zwei andre Umstände diese Ausführlichkeit entschuldigen. Einerseits gab sie mir die Gelegenheit, auf den sehr verschiednen hier zu berührenden Gebieten meine Auffassung von Fragepunkten positiv zu entwickeln, die heute von allgemeinerem wissenschaftlichem oder praktischem Interesse sind. Es ist dies in jedem einzelnen Kapitel geschehn, und sowenig diese Schrift den Zweck haben kann, dem »System« des Herrn Dühring ein andres System entgegenzusetzen, so wird der Leser doch hoffentlich in den von mir aufgestellten Ansichten den innern Zusammenhang nicht vermissen. Daß meine Arbeit in dieser Beziehung keine ganz fruchtlose gewesen ist, dafür habe ich schon jetzt Beweise genug.

Andrerseits ist der »systemschaffende« Herr Dühring keine vereinzelte Erscheinung in der deutschen Gegenwart. Seit einiger Zeit schießen in Deutschland die Systeme der Kosmogonie, der Naturphilosophie überhaupt, der Politik, der Ökonomie usw. über Nacht zu Dutzenden auf wie die Pilze. Der kleinste Doktor Philosophiae, ja selbst der Studiosus tut nicht mehr mit unter einem vollständigen »System«. Wie im modernen Staat vorausgesetzt wird, daß jeder Staatsbürger urteilsreif ist über alle die Fragen, über die er abzustimmen hat; wie man in der Ökonomie annimmt, daß jeder Konsument gründlicher Kenner aller der Waren ist, die er zu seinem Lebensunterhalt einzukaufen in den Fall kommt – so soll es nun auch in der Wissenschaft gehalten werden. Freiheit der Wissenschaft heißt, daß man über alles schreibt, was man nicht gelernt hat, und dies für die einzige streng wissenschaftliche Methode ausgibt. Herr Dühring aber ist einer der bezeichnendsten Typen dieser vorlauten Pseudowissenschaft, die sich heutzutage in Deutschland überall in den Vordergrund drängt und alles übertönt mit ihrem dröhnenden – höhern Blech. Höheres Blech in der Poesie, in der Philosophie, in der Politik, in der Ökonomie, in der[6] Geschichtschreibung, höheres Blech auf Katheder und Tribüne, höheres Blech überall, höheres Blech mit dem Anspruch auf Überlegenheit und Gedankentiefe im Unterschied von dem simpeln, plattvulgären Blech andrer Nationen, höheres Blech das charakteristischste und massenhafteste Produkt der deutschen intellektuellen Industrie, billig aber schlecht, ganz wie andre deutsche Fabrikate, neben denen es leider in Philadelphia nicht vertreten war. Sogar der deutsche Sozialismus, namentlich seit dem guten Beispiel des Herrn Dühring, macht neuerdings recht erklecklich in höherm Blech und produziert diesen und jenen, der sich mit »Wissenschaft« brüstet, von der er »wirklich auch nichts gelernt hat«. Es ist dies eine Kinderkrankheit, die die beginnende Bekehrung des deutschen Studiosus zur Sozialdemokratie anzeigt, und von ihr unzertrennlich ist, die aber bei der merkwürdig gesunden Natur unsrer Arbeiter schon überwunden werden wird.

Es war nicht meine Schuld, wenn ich Herrn Dühring auf Gebiete folgen mußte, auf denen ich mich höchstens mit den Ansprüchen eines Dilettanten bewegen kann. In solchen Fällen habe ich mich meistens darauf beschränkt, den falschen oder schiefen Behauptungen meines Gegners die richtigen, unbestrittnen Tatsachen entgegenzustellen. So in der Juristerei und in manchen Fällen aus der Naturwissenschaft. In andern handelt es sich um allgemeine Ansichten aus der theoretischen Naturwissenschaft, also um ein Terrain, wo auch der Naturforscher von Fach über seine Spezialität hinaus auf benachbarte Gebiete übergreifen muß – auf Gebiete also, auf denen er, nach Herrn Virchows Eingeständnis, ebensogut ein »Halbwisser« ist, wie wir andern auch. Dieselbe Nachsicht für kleine Ungenauigkeiten und Unbehülflichkeiten des Ausdrucks, die man da gegenseitig ausübt, wird man auch mir hoffentlich zuteil werden lassen.

Bei Schluß dieses Vorworts kommt mir eine von Herrn Dühring verfaßte Buchhändleranzeige eines neuen »maßgebenden« Werks des Herrn Dühring zu: »Neue Grundgesetze zur rationellen Physik und Chemie«. Sosehr ich nun auch der Mangelhaftigkeit meiner physikalischen und chemischen Kenntnisse mir bewußt bin, so glaube ich doch meinen Herrn Dühring zu kennen, und daher, ohne die Schrift selbst je gesehn zu haben, voraussagen zu dürfen, daß die hier aufgestellten Gesetze der Physik und Chemie sich den frühern von Herrn Dühring entdeckten und in meiner Schrift untersuchten Gesetzen der Ökonomie, Weltschematik usw., nach Mißverstand oder Gemeinplätzlichkeit würdig anreihen werden, und daß das von Herrn Dühring konstruierte Rhigometer oder Instrument zur[7] Messung sehr niedriger Temperaturen zum Maßstab dienen wird, nicht für Temperaturen, weder hohe noch niedrige, sondern einzig und allein für die unwissende Arroganz des Herrn Dühring.


London, 11. Juni 1878

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 20, S. 5-8.
Lizenz:
Kategorien: