VI

[390] Die innere Lage Rußlands ist augenblicklich eine fast verzweifelte. Die Bauernemanzipation von 1861 und die mit ihr teils als Ursache, teils als Wirkung zusammenhängende Entwicklung der kapitalistischen Großindustrie haben dies stabilste aller Länder, dies europäische China, in eine ökonomische und soziale Revolution geworfen, die nun unaufhaltsam ihren Gang geht; und dieser Gang ist einstweilen ein vorwiegend verwüstender.

Der Adel erhielt bei der Emanzipation Entschädigung in Staatsschuldscheinen, die er möglichst rasch verjubelte. Als dies vollbracht, eröffneten ihm die neuen Eisenbahnen einen Markt für das Holz seiner Wälder; er ließ das Holz schlagen und verkaufen und lebte abermals herrlich und in Freuden, solange der Erlös reichte. Die Bewirtschaftung der Güter, unter den neugeschaffenen Bedingungen und mit freien Arbeitern, blieb meist sehr unbefriedigend; was Wunder, daß der russische grundbesitzende Adel über und über verschuldet, wo nicht geradezu bankrott ist und daß der Ertrag seiner Güter an Produkten eher ab- als zunimmt.

Der Bauer erhielt weniger und meist schlechteres Land, als er bisher besessen; die Gemeindeweide- und Waldnutzung wurde ihm entzogen und damit die Grundlage der Viehhaltung; die Steuern wurden bedeutend erhöht und sollten nun von ihm selbst überall in Geld gezahlt werden; dazu kamen die Ratenzahlungen – ebenfalls in Geld – für Verzinsung und Amortisation des vom Staat vorgeschossenen Loskaufsgeldes (wykup); kurz, zu aller Verschlechterung seiner allgemeinen ökonomischen Lage kam die plötzliche Zwangsversetzung aus der Naturalwirtschaft in die Geldwirtschaft, die allein hinreicht, die Bauerschaft eines Landes zu ruinieren. Die Folge davon war die üppige Entwicklung der Ausbeutung des Bauern durch die ländlichen Geldbesitzer, reichere Bauern und Schnapskneipenwirte, mirojedy (wörtlich Gemeindefresser) und kulaki (Zinswucherer). Und als ob alles das nicht genüge, kam dazu die neue große Industrie und ruinierte die Naturalwirtschaft[390] der Bauern bis auf den letzten Rest. Nicht nur untergrub ihre Konkurrenz die häusliche industrielle Produktion des Bauern für den eignen Bedarf, sie nahm auch seiner für den Verkauf bestimmten Handarbeit den Markt weg oder stellte sie, im günstigsten Fall, unter die Botmäßigkeit des kapitalistischen »Verlegers« oder, was noch schlimmer, seines Mittelsmanns. Der russische Bauer mit seinem waldursprünglichen Ackerbau und seiner altkommunistischen Gemeindeverfassung wurde so plötzlich in Kollision gebracht mit der entwickeltsten Form der modernen großen Industrie, die sich einen inländischen Markt gewaltsam schaffen mußte; eine Lage, worin er rettungslos zugrunde gehn mußte. Aber der Bauer – das war beinahe neun Zehntel der Bevölkerung Rußlands, und der Ruin des Bauern war gleichbedeutend mit dem – wenigstens zeitweiligen – Ruin Rußlands.1

Nachdem dieser Prozeß der gesellschaftlichen Umwälzung an die zwanzig Jahre gedauert, stellten sich noch andre Resultate heraus. Die rücksichtslose Entwaldung vernichtete die Vorratskammern der Bodenfeuchtigkeit, das Regen- und Schneewasser floß, ohne aufgesogen zu werden, rasch durch die Bäche und Ströme ab, starke Überschwemmungen erzeugend; aber im Sommer wurden die Flüsse seicht, und der Boden vertrocknete. In vielen der fruchtbarsten Gegenden Rußlands soll das Niveau der Bodenfeuchtigkeit um einen vollen Meter gefallen sein, so daß die Wurzeln der Getreidehalme es nicht mehr erreichen und verdorren. So daß nicht nur die Menschen ruiniert sind, sondern in vielen Gegenden auch der Boden selbst auf wenigstens ein Menschenalter hinaus.

Diesen bisher chronisch verlaufenden Prozeß des Ruins hat die Hungersnot von 1891 akut und damit vor aller Welt sichtbar gemacht. Und deshalb kommt Rußland seit 1891 nicht aus der Hungersnot heraus. Das böse Jahr hat das letzte und wichtigste Produktionsmittel der Bauern – das Vieh – großenteils ruiniert und ihre Verschuldung auf einen Höhepunkt getrieben, der ihre letzte Widerstandskraft brechen muß.

In einer solchen Lage könnte ein Land höchstens einen Verzweiflungskrieg unternehmen. Aber auch dazu fehlen die Mittel. In Rußland lebt der Adel von Schulden, lebt jetzt auch der Bauer von Schulden, und von Schulden lebt vor allen der Staat. Wieviel Geld der russische Staat nach[391] außen schuldig ist, weiß man: über vier Milliarden Mark. Wieviel er im Innern schuldig ist, weiß kein Mensch; erstens, weil man weder die Summe der aufgenommenen Anleihen noch die des in Zirkulation befindlichen Papiergeldes kennt, und zweitens, weil dies Papiergeld jeden Tag seinen Wert wechselt. Soviel aber ist sicher: Der Kredit Rußlands im Ausland ist erschöpft. Die vier Milliarden Mark russischer Staatsschuldscheine haben den westeuropäischen Geldmarkt über und über gesättigt. England hat sich längst, Deutschland hat sich neuerdings des größten Teils seiner »Russen« entledigt. Holland und Frankreich haben sich durch den Ankauf derselben ebenfalls den Magen verdorben, wie sich bei der letzten russischen Anleihe in Paris zeigte; von den 500 Millionen Franken konnten nur 300 untergebracht werden, 200 Millionen mußte der russische Finanzminister den zeichnenden und überzeichnenden Bankiers wieder abnehmen. Der Beweis ist damit geliefert, daß eine neue russische Anleihe selbst in Frankreich für die nächste Zeit absolut keine Aussichten hat.

Das ist die Lage des Landes, das uns angeblich mit unmittelbarer Kriegsgefahr bedroht und das doch sogar außerstande ist, einen Verzweiflungskrieg vom Zaun zu brechen, falls wir nicht selbst dumm genug sind, das Geld dazu ihm in den Rachen zu werfen.

Man begreift nicht die Unwissenheit der französischen Regierung und der sie beherrschenden französischen bürgerlichen öffentlichen Meinung. Nicht Frankreich bedarf Rußlands – Rußland bedarf vielmehr Frankreichs. Ohne Frankreich wäre der Zar mit seiner Politik isoliert in Europa, machtlos müßte er im Westen und im Balkan alles gehn lassen, wie es geht. Mit etwas Verstand könnte Frankreich aus Rußland alles herausschlagen, was es wollte. Aber statt dessen kriecht das offizielle Frankreich auf dem Bauch vor dem Zaren.

Der Weizenexport Rußlands ist bereits ruiniert durch die wohlfeilere amerikanische Konkurrenz. Bleibt als Hauptausfuhrartikel nur der Roggen, und der geht fast ausnahmslos nach Deutschland. Sobald Deutschland Weißbrot ißt statt Schwarzbrot, ist das jetzige offizielle zarisch-großbürgerliche Rußland bankrott.[392]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1963, Band 22, S. 390-393.
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