§ 4. Folgerungen

[9] 1) Alles Wissen ist nach dem obigen Anschauung (§ 2.). Daher ist das Wissen vom Wissen, inwiefern es selbst ein Wissen ist, Anschauung, und inwiefern es ein Wissen vom Wissen ist, Anschauung aller Anschauung; absolutes Zusammenfassen aller möglichen Anschauung in Eine.

2) Sonach ist die Wissenschaftslehre, die ja das Wissen vom Wissen ist, keine Mehrheit von Erkenntnissen, kein System oder Zusammenfügung von Sätzen, sondern sie ist durchaus nur ein einiger, untheilbarer Blick.

3) Die Anschauung ist selbst absolutes Wissen, Festigkeit, Unerschütterlichkeit und Unwandelbarkeit des Vorstellens; die Wissenschaftslehre aber ist lediglich die Einheits-Anschauung jener Anschauung. Sie ist daher selbst absolutes Wissen, Festigkeit, Unerschütterlichkeit und Unwandelbarkeit des Urtheils. Das also, was nun wirklich Wissenschaftslehre ist, kann von einem vernünftigen Wesen nicht widerlegt, ihm kann nicht widersprochen, es kann daran nicht einmal gezweifelt werden, indem alle Widerlegung, aller Widerspruch und aller Zweifel auf ihrem Boden erst möglich gemacht wird, sonach tief unter ihr liegt. Es kann ihr, in Beziehung auf Individuen, lediglich das begegnen, dass jemand sie nicht besitze.

4) Da die Wissenschaftslehre eben nur die Anschauung des unabhängig von ihr vorausgesetzten und vorauszusetzenden Wissens (vom Linienziehen, Triangel u.s.w.) ist, so kann sie kein neues und besonderes, etwa nur durch sie mögliches materiales Wissen (Wissen von Etwas) herbeiführen, sondern[9] sie ist nur das zum Wissen von sich selbst, zur Besonnenheit, Klarheit und Herrschaft über sich selbst gekommene allgemeine Wissen. Sie ist gar nicht Object des Wissens, sondern nur Form des Wissens von allen möglichen Objecten. Sie ist auf keine Weise unser Gegenstand, sondern unser Werkzeug, unsere Hand, unser Fuss, unser Auge; ja nicht einmal unser Auge, sondern nur die Klarheit des Auges. Zum Gegenstande macht man sie nur dem, der sie noch nicht hat, bis er sie bekommt, nur um dieses willen stellt man sie in Worten dar: wer sie hat, der, inwiefern er nur auf sich selbst sieht, redet nicht mehr von ihr, sondern er lebt, thut und treibt sie in seinem übrigen Wissen. Der Strenge nach hat man sie nicht, sondern man ist sie, und keiner hat sie eher, bis er selbst zu ihr geworden ist.

5) Sie ist, sagten wir, die Anschauung des allgemeinen, nicht erst zu erwerbenden, sondern schlechthin bei jedem, der nur ein vernünftiges Wesen ist, vorauszusetzenden und das vernünftige Wesen eben constituirenden Wissens. Sie ist daher das Leichteste, Offenbarste, einem jeden zunächst vor den Füssen Liegende, was es geben kann. Es gehört zu ihr nichts weiter, als dass man sich auf sich selbst besinne, und einen festen Blick in sein Inneres wende. Dass die Menschheit in ihrem Forschen nach ihr Jahrtausende irre gegangen ist, und das Zeitalter, dem sie vorgelegt worden, sie nicht vernommen hat, beweist bloss, dass die Menschen bis jetzt alles Andere näher angelegen hat, als sie sich selbst.

6) Ohnerachtet nun die Wissenschaftslehre nicht ein System von Erkenntnissen, sondern eine einige Anschauung ist, so könnte es doch wohl seyn, dass die Einheit dieser Anschauung selbst keinesweges eine absolute Einfachheit, ein letztes Element, Atom, Monade oder wie man diesen Urgedanken etwa noch ausdrücken will, wäre, etwa weil es so Etwas im Wissen nicht, und überhaupt nicht gäbe, sondern dass sie eine organische Einheit wäre, eine Verschmelzung der Mannigfaltigkeit in Einheit, und Ausströmung der Einheit in Mannigfaltigkeit zugleich und in ungetrennter Einheit: wiewohl schon daraus sich ergeben dürfte, dass diese Anschauung ein Mannigfaltiges[10] von Anschauungen in Einen Blick fassen soll, deren jede, einzeln gedacht, wiederum ein unendliches Mannigfaltiges von Fällen in Einen Blick fassen soll.

Nun könnte ferner, falls dieses sich also verhalten sollte, es wohl geschehen, dass wir, nicht in dem bei uns vorauszusetzenden eigenen Besitze dieser Wissenschaft, sondern im Vortrage derselben für Andere, welche als nicht besitzende vorausgesetzt werden, jene Einheit nicht unmittelbar hinzustellen vermöchten, sondern sie erst vor dem Auge des Lasers aus irgend einer Mannigfaltigkeit sich organisiren, und wiederum in jene sich desorganisiren lassen müssten. In diesem Falle würde dasjenige Glied des Mannigfaltigen, von welchem etwa unsere Organisation anhöbe, als einzelnes Glied gar nicht verständlich seyn, indem es ja für sich gar nicht, sondern nur als organischer Theil einer Einheit ist, und nur in der Einheit verständlich seyn kann. Wir würden also nie einen Eingang in unsere Wissenschaft gewinnen, oder wenn wir ihn doch gewönnen, und ein einzelner Theil sich verständlich machen liesse, so könnte dies nur dadurch geschehen, dass die Anschauung desselben von der, obwohl dunkelen und uns unbewussten, Anschauung des Ganzen begleitet würde, in derselben ihren Ruhepunct hätte, und von daher ihre Klarheit und Verständlichkeit erhielte; indem sie wiederum von ihrer Seite der Anschauung des Ganzen, inwiefern sie auf dasselbe einfliesst, Klarheit gäbe: und ebenso mit allen in der Folge aufzustellenden Theilen. Nicht allein aber dies, sondern der etwa an der zweiten Stelle stehende Theil erhielte nicht bloss Klarheit vom ersten schon abgehandelten, sondern gäbe umgekehrt auch diesem wiederum neue Klarheit, indem dieses ja seine vollendete Klarheit nur vom Ganzen hat, dieses zweite aber zum Ganzen gehört; so der dritte erhielte nicht bloss Klarheit vom ersten, sondern gäbe auch hinwiederum beiden eine eigenthümliche, nur aus ihm ausströmende Klarheit; und so fort bis zum Ende. Dass also im Verlaufe der Betrachtung fortwährend jeder Theil durch alle, und alle durch jeden erklärt würden, sonach fortwährend alle abgehandelten Theile auch gegenwärtig erhalten werden mussten, weil sie mit jedem[11] Schritte nicht einzeln, sondern gegenseitig durch alle hindurch und von allen heraus, erblickt würden, und keines durchaus klar wäre, so lange nicht alle es sind, und so lange nicht eben der Eine klare Blick, der das Mannigfaltige einet, und das Eine in ein Mannigfaltiges verströmt, hervorgebracht ist. Somit bliebe die Wissenschaftslehre, in der ganzen Länge und Ausdehnung, die man ihr durch den successiven Vortrag geben möchte, doch immer nur ein und ebenderselbe untheilbare Blick, der nur aus dem Zero der Klarheit, in welchem er bloss ist, aber sich nicht kennt, successiv und gradweise erhoben würde zur Klarheit schlechthin, wo er sich selbst innigst durchdringt, und in sich selbst wohnet und ist; und es sich hier von neuem bestätigte, dass das Geschäft der Wissenschaftslehre nicht ist ein Erwerben und Hervorbringen eines neuen, sondern lediglich ein Verklären dessen, was da ewig war, und ewig wir selbst war.

Wir können historisch hinzusetzen, dass es sich wirklich also verhält, wie wir angenommen haben; und dass hierdurch die Methode der Wissenschaftslehre bestimmt ist. Diese Wissenschaft ist nicht vorwärts folgernd, in einer einfachen Reihe, gleichwie in einer Linie, nach dem Gesetze der Consequenz, dergleichen Verfahren nur innerhalb und über einem schon vorausgesetzten und unterliegenden Organismus des Wissens möglich ist, in der Philosophie aber zu nichts führt, und da die Seichtigkeit selbst ist; sondern sie ist allseitig und wechselseitig folgernd, immer von Einem Centralpuncte aus nach allen Puncten hin, und von allen Puncten zurück, gleichwie in einem organischen Körper.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 2, Berlin 1845/1846, S. 9-12.
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