§ 42.

[132] Wir haben im Vorhergehenden einen bestimmten Begriff und eine Beschreibung der Sinnenwelt aufgestellt und vollendet, welcher, richtig verstanden und angewendet, allenthalben auslangt. Man könnte eine Naturphilosophie auf ihn ohne Weiteres aufbauen. Es lässt sich erwarten, dass das Gegenstück derselben im Denken, sowie jene im Anschauen ruhte, die sittliche Welt seyn wird, und dass sich finden wird: beide Welten sind durchaus Eins, und die sittliche ist der, nur der Art und Weise der Begründung nach nicht zu begreifende, Grund der sinnlichen. Wir fügen daher gleich eine Untersuchung über den transcendentalen Grund der Sinnenwelt hinzu. Die Frage ist diese: die Sinnenwelt soll doch zum Denken der sittlichen Welt die Anschauung seyn, und es liesse sich dies sehr wohl begreifen, wenn durchaus in allem Wissen beide Welten vorkämen. Die gemeinste Erfahrung aber lehrt, dass dem nicht so sey, dass bei Weitem die wenigsten Individuen zum reinen Denken und mit ihm zum Begriffe einer sittlichen Welt sich erheben, während doch jedem der Sinn für eine Wahrnehmungswelt aufgeht; und dies bestätigt die Wissenschaftslehre, indem sie das Denken von der Vollziehung der Freiheit innerhalb des schon aufgegangenen factischen Wissens abhängig gemacht, daher seine factische Nothwendigkeit durchaus geläugnet hat. Wie kommen denn nun diese nicht denkenden Individuen zu ihrer Welt? – Man sieht, dass von Beantwortung dieser Frage beinahe das ganze Schicksal des transcendentalen Idealismus abhängt.

1) Nach uns, wie sich denn dies bisjetzt noch immer bestätigt hat, geht alles mögliche Wissen nur auf sich selbst und hat durchaus kein anderes Object, denn sich. – Dass, zufolge des Inhalts der Wissenschaftslehre, nicht immer und unter jeder Bedingung das ganze Wissen sich auffasst, dass sich daher, was für die Wissenschaftslehre nur ein Theil ist, in bestimmter Facticität sich als das ganze Wissen ergreifen, dass es aber[132] auch über sich in einem niedern Reflexionspuncte zu einem höheren hinausgehen kann, hiermit aber immer in sich selbst bleibend, ist auch wahr und von uns nachgewiesen worden.

2) Es giebt sonach ein, in sich synthetisch zusammenhängendes und ein System ausmachendes, Mannigfaltiges von Reflexionen, oder von Objectivirungen des Wissens in sich selbst. Diese Mannigfaltikeit, ihr Zusammenhang und Verhältniss ist erklärt worden aus den inneren Möglichkeitsgesetzen eines Wissens, als solchen: eine innere, lediglich formale Gesetzgebung im Wissen, beruhend auf dem Sichvollziehen oder Nichtvollziehen einer formalen Freiheit, mit ersterem schlechthin sich vollziehend, unter letzterer Bedingung in blosser Möglichkeit bleibend: in ihr ist Denken, Anschauen, Mannigfaltigkeit, Zeit, Raum – ja beinahe Alles, was wir bis jetzt abgeleitet haben, gegründet.

3) Aber bei dieser bloss formalen Gesetzgebung würde das Wissen, als ein unendliches Quantitiren, in Nichts zerfliessen, – es würde nie zu einem Wissen und so auch nicht zur Anwendung jener formalen Gesetzgebung kommen, wenn nicht das Wissen auf irgend eine Weise in jener Unendlichkeit angehalten wäre, und zwar unmittelbar, wie es zu einem Wissen kommt, – keinesweges innerhalb eines schon zu Stande gekommenen Wissens; denn ohne jene Grundbedingung kommt gleichfalls kein Wissen zu Stande.

4) Dieses soeben ausgesprochene Gesetz gehört daher nicht mehr in das System der Gesetzgebung in Betreff jener mannigfachen Reflexionen oder Objectivirungen innerhalb des Wissens; denn diese setzt das Wissen seinem Seyn nach schon voraus und bestimmt es nur formaliter in diesem Seyn; jenes aber macht dieses Seyn selbst erst möglich: möglich nur, noch nicht wirklich. Dieses ist daher eigentlich das Resultat einer Wechselwirkung zwischen dem absolut wirklich werdenden Seyn und einem, der Wissenschaftslehre nach, im Wissen rein gedachten und jedem Wissen, dem möglichen, wie dem wirklichen, vorauszusetzenden Absoluten Seyn. – Dies wird gesetzt, um das Folgende vorzubereiten. Denn:

5) jenes Gehaltenseyn innerhalb der Quantität ist in gewisser[133] Rücksicht – und welcher, wird sich zeigen, – immer ein bestimmtes, unter anderen möglichen. Es ist also da ein Gesetz der Bestimmung, und davon liegt der Grund sichtbar nicht im Wissen, in keiner möglichen Bedeutung desselben, sondern im absoluten Seyn. Dieses Gesetz der Bestimmung wird sich nun im reinen Denken zeigen, als sittliches Gesetz. Wie aber zeigt es sich, wo es zu keinem reinen Denken kommt? Dies ist wieder die eben aufgeworfene Frage.

Bedenken wir hierzu Folgendes:

a. Das Wissen durchdringt und erreicht sich selbst nie, weil es reflectirend sich objectivirt und scheidet. Die Scheidung der höchsten Reflexion ist die in ein absolutes Denken und Anschauen, während das absolute Wissen jenseits derselben weder Anschauen noch Denken, sondern die Identität beider ist.

b. In der vom Wissen durchaus unabtrennlichen Anschauung ist das Anschauen demnach in sich selbst verloren und begreift sich selbst durchaus nicht. Im Denken zwar begreift es sich, dann aber ist es nicht mehr anschauend, sondern denkend. Die Unendlichkeit und mit ihr der daher fliessende Realismus der Anschauung fällt ganz weg, und es tritt als ihr Stellvertreter ein totalisirendes Schematisiren der Unendlichkeit ein. Lassen wir daher dieses Denken ganz ruhen.

c. Das sich selbst erfassende Wissen, wie wir eben unter a und b gedacht haben. – denkt die Anschauung als unabtrennbaren Antheil des Wissens, und eben darum als sich nicht begreifendes. Es denkt daher und begreift sehr wohl die absolute Unbegreiflichkeit und Unendlichkeit als Bedingung alles Wissens, – die Form, das Dass derselben. (Dies ist bedeutend.)

d. In dieser also aufgefassten Unbegreiflichkeit überhaupt –, der Sinnenwelt, – objectiv, nicht formal angesehen, – lässt von Bestimmtheit oder Nichtbestimmtheit sich gar nicht reden. Denn alle Bestimmtheit gründet sich eben auf ein Begreifen und Denken; hier wird aber durchaus nicht begriffen, noch, gedacht; das Angeschaute ist eben gesetzt als die absolute Unbegreiflichkeit selbst.

[134] Folgerungen: a) Der Ausdruck Sinnenwelt involvirt der Strenge nach einen Widerspruch. Es ist hier, in der Anschauung, in der That kein Universum und keine Totalität, sondern die schwimmende, unbestimmte Unendlichkeit, die nie gefasst wird. Universum ist nur fürs Denken, dann aber ists schon ein sittliches Universum. Man kann hiernach gewisse Theorien über die Natur beurtheilen.

b) Alle Fragen über die beste Welt, über die Unendlichkeit der möglichen Welten u. dergl. zerfallen mithin in Nichts. Zur Sinnenwelt in ihrer Vollendung und Geschlossenheit käme es nur nach Vollendung der Zeit, welches sich widerspricht; es kommt also in keiner Zeit zu ihr. Die sittliche Welt aber, die vor aller Zeit und Grund aller Zeit ist, ist nicht die beste, sondern sie ist die einzig mögliche und durchaus nothwendige Welt, d.h. die schlechthin gute.

e. Wohl aber ist innerhalb der Anschauung in jedem Zeitmomente ein Bestimmtes der Qualität und durch Schematismus (indem das Denken die Unendlichkeit darauf bezieht) ein Bestimmtes der Quantität; versteht sich, für ein schlechthin objectives und empirisches, und wie das Wissen sich aufgeht, also sich findendes Denken. Dies der Begriff eines Objectes der blossen Wahrnehmung. – Wo liegt der Grund dieser Bestimmtheit? Nun erst stehen wir gerade vor unserer Frage. – Offenbar in einem a priori durchaus unbegreiflichen und nur factisch, in den Zeitmomenten, zu begreifenden absoluten Gesetze des empirischen Zeitdenkens überhaupt.

Es ist ein a priori unbegreifliches, haben wir gesagt: denn wenn es begreiflich wäre durch freies Schematisiren und Zusammennehmen der Zeit, so wäre das Ich nicht an sich gebunden und es käme überhaupt zu keinem Wissen. Es ist sonach eine durchaus unmittelbare Bestimmung durch das absolute, nur formaliter denkbare, Seyn selbst, das Gesetz einer Zeitfolge, das durchaus ausser aller Zeit liegt. Jeder einzelne Moment trägt nemlich, wie wir schon zeigten, alle künftigen bedingend in sich.

Resultat: Es ist ein – keinesweges ein Wissen an sich erzwingendes, aber, wenn ein Wissen ist, dasselbe seiner Beschaffenheit[135] nach absolut erzwingendes Gesetz, zufolge dessen jedem in einem jeden Momente eine sinnliche und sinnlich so beschaffene Erfahrung vorschwebt. Das Gesetz ist eben unmittelbar an des Wissens und schmiegt unmittelbar an das Wissen sich an. Dass es so ist, und wenn es überall zu einem Wissen kommen soll, so seyn muss, kann jeder begreifen: über das Materiale der Bestimmung aber, und die Weise wie das Wissen selbst entspringt und jenes Gesetz sich daran anschmiegt, kann Nichts begriffen werden; denn eben dies Nichtbegreifen ist ja die Bedingung zur Wirklichkeit des Wissens. Alles vermeintliche Darüberhinausgehen sind leere Träume, die man weder versteht, noch als wahr begründen könnte. – Hinter die sittliche Bedeutung der Natur kann man wohl kommen; aber nicht hinter eine noch andere und höhere Naturbedeutung; denn die reine Natur ist nie mehr und bedeutet nie mehr, als eben das, was sie ist.

Wer da sagt: es giebt durchaus eine so beschaffene Sinnenwelt, wie ich sie sehe, höre, fasse, denke, der spricht eben seine Wahrnehmung aus und hat daran Recht. Wenn er dagegen sagt: sie wirkt ein auf mich, als ein an sich Seyendes, bringt Sensationen, Vorstellungen u.s.w. in mir hervor, so spricht er nicht mehr seine Wahrnehmung aus, sondern einen erklärenden Gedanken, – an welchem zuvörderst durchaus kein Menschenverstand ist. – dann aber sagt er Etwas aus, das über die Möglichkeit des Wissens hinausliegt. Er kann nur sagen: wenn ich meine äusseren Sinne aufthue, so finde ich sie eben so bestimmt: Weiteres weiss er Nichts; aber jeder kann begreifen, dass ein weiteres Wissen das Wissen aufheben würde. (Dies sind die immanenten, strengen Beweise für den transcendentalen Idealismus.)

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 2, Berlin 1845/1846, S. 132-136.
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