Zehnte Vorlesung

[538] [Erfassung des ganzen abgehandelten Gegenstandes aus seinem tiefsten Standpuncte. – Das in der Form der Selbstständigkeit des Ich, als der Reflexionsform, schlechthin sich selbst von sich selbst ausstossende Seyn hänge, jenseits aller Reflexion, allein durch die Liebe mit der Form zusammen. Diese Liebe sey die Schöpferin des leeren Begriffs von Gott; die Quelle aller Gewissheit, das das Absolute unmittelbar und ohne alle Modification durch den Begriff im Leben erfassende; das die Reflexion, in deren Form nur die Möglichkeit der Unendlichkeit liege, wirklich zur Unendlichkeit ausdehnende; endlich die Quelle der Wissenschaft. In der lebendigen und realen Reflexion tritt diese Liebe unmittelbar heraus in der Erscheinung des moralischen Handelns Charakteristik der Menschenliebe des moralisch Religiösen. Bild seiner Seligkeit.]


Ehrwürdige Versammlung,


Fassen Sie heute nochmals die ganze hier vor Ihren Augen erzeugte Abhandlung, jetzt, da wir sie zu beschliessen gedenken, in Einem Blicke zusammen.

Das Leben an sich ist Eines, bleibt ohne alle Wandelbarkeit sich selbst gleich, und ist, da es die vollendete Ausfüllung der in ihm ruhenden Liebe des Lebens ist, vollendete Seligkeit. Dieses wahre Leben ist im Grunde allenthalben, wo irgend eine Gestalt und ein Grad des Lebens angetroffen wird; nur kann es durch Beimischung von Elementen des Todes und des Nichtseyns verdeckt werden, und sodann drängt es durch Qual und Schmerz und durch Abtödtung dieses unvollkommenen Lebens seiner Entwickelung sich entgegen. Wir haben diese Entwickelung des wahren Lebens aus dem unvollkommenen und Scheinleben, womit es anfangs verdeckt seyn kann, mit unsern Augen begleitet, und gedenken heute dieses Leben einzuführen in seinen Mittelpunct, und es Besitz nehmen zu lassen von aller seiner Glorie. Wir Charakterisirten in der letzten Rede das höchste wirkliche Leben – d.h. – da die Wirklichkeit durchaus in einer Reflexionsform stehen bleibt, die absolut unaustilgbare Form aber der Reflexion die Unendlichkeit ist, – dasjenige Leben, das in der unendlichen Zeit abfliesset und das persönliche Daseyn des Menschen zu seinem Werkzeuge gebraucht, und darum als ein Handeln erscheinet – unter der Benennung der höheren Moralität. Wir mussten freilich gestehen, dass, wegen der durch das Reflexionsgesetz unabänderlich gesetzten Trennung des Einen göttlichen Wesens in mehrere Individuen, jedes besondern Individuums[538] Handeln nicht umhin könne, einen von ihm allein nicht abhängenden Erfolg ausser sich in der übrigen Welt der Freiheit anzustreben; dass jedoch auch durch das Aussenbleiben dieses Erfolges die Seligkeit dieses Individuums nicht gestört werde, falls es nur zum wahren Verständnisse dessen, was es eigentlich unbedingt und zur Unterscheidung dieses ersten von dem, was es nur unter Bedingung anstrebe, als zu der eigentlichen Religiosität, sich erhebe. Besonders der letzte Punct war es, über welchen ich auf unsere heutige Rede verwies, und in dieser eine tiefere Erörterung desselben versprach.

Ich vorbereite diese Erörterung durch Erfassung unseres ganzen Gegenstandes aus seinem tiefsten Standpuncte.

Das Seyn – ist da; und das Daseyn des Seyns ist nothwendig Bewusstseyn oder Reflexion, nach bestimmten, in der Reflexion selber liegenden und aus ihr zu entwickelnden Gesetzen: dieses ist der von allen Seiten nunmehr sattsam auseinandergesetzte Grund unserer ganzen Lehre. Das Seyn allein ist es, das da ist in dem Daseyn, und durch dessen Seyen in ihm allein das Daseyn ist, und das da ewig bleibet in ihm, wie es in sich selber ist, und ohne dessen Seyn in ihm das Daseyn in nichts schwände; niemand zweifelt daran, und niemand, der es nur versteht, kann daran zweifeln. In dem Daseyn aber als Daseyn, oder in der Reflexion, wandelt schlechthin unmittelbar das Seyn seine durchaus unerfassbare, höchstens als reines Leben und That zu beschreibende Form in ein Wesen in eine stehende Bestimmtheit; wie wir uns denn auch über das Seyn nie anders ausgesprochen haben, und nie jemand sich anders darüber aussprechen wird, als so, dass wir von seinem inneren Wesen redeten. Ob nun gleich an sich unser Seyn ewigfort das Seyn des Seyns ist und bleibt, und nie etwas anderes werden kann, so ist doch das, was wir selbst und für uns selbst sind, haben und besitzen, – in der Form unserer selbst, des Ich, der Reflexion im Bewusstseyn, – niemals das Seyn an sich, sondern das Seyn in unserer Form als Wesen. Wie hängt denn nun das, in die Form schlechthin nicht rein eintretende Seyn dennoch mit der Form zusammen?[539] stösst dieselbe nicht unwiederbringlich aus von sich, und stellt nicht hin ein zweites, durchaus neues Seyn, welches neue und zweite Seyn eben durchaus unmöglich ist? Antwort: Setze nur statt alles Wie ein blosses Dass. Sie hängt schlechthin zusammen: es giebt schlechthin ein solches Band, welches, höher denn alle Reflexion, aus keiner Reflexion quellend und keiner Reflexion Richterstuhl anerkennend – mit und neben der Reflexion ausbricht. In dieser Begleitung der Reflexion ist dieses Band – Empfindung; und, da es ein Band ist, Liebe, und, da es das Band des reinen Seyns ist und der Reflexion, die Liebe Gottes. In dieser Liebe ist das Seyn und das Daseyn, ist Gott und der Mensch Eins, völlig verschmolzen und verflossen (sie ist der Durchkreuzungspunct des obengenannten A und B); des Seyns Tragen und Halten seiner selbst in dem Daseyn, ist seine Liebe zu sich; die wir nur nicht als Empfindung zu denken haben, da wir sie überhaupt nicht zu denken haben. Das Eintreten dieses seines sich selbst Haltens neben der Reflexion, d.h. die Empfindung dieses seines sich selbst Haltens, ist unsere Liebe zu Ihm; oder, nach der Wahrheit, seine eigne Liebe zu sich selber in der Form der Empfindung; indem wir ihn nicht zu lieben vermögen, sondern nur er selbst es vermag, sich zu lieben in uns.

Diese, nicht die seinige, noch die unsrige, sondern diese erst uns beide zu zweien scheidende, so wie zu Einem bindende Wechselliebe, ist nun zuvörderst die Schöpferin unseres oft erwähnten leeren Begriffs eines reinen Seyns oder eines Gottes. Was ist es denn, das uns hinausführt über alles erkennbare und bestimmte Daseyn, und über die ganze Welt der absoluten Reflexion? Unsere durch kein Daseyn auszufüllende Liebe ist es. Der Begriff thut dabei nur dasjenige, was er eben allein kann, er deutet und gestaltet diese Liebe, rein ausleerend ihren Gegenstand, der nur durch ihn zu einem Gegenstande wird, von allem, was diese Liebe nicht befriedigt, nichts ihm lassend, als die reine Negation aller Begreiflichkeit, nebst der ewigen Geliebtheit. Was ist es denn, das uns Gottes gewiss macht, ausser die schlechthin auf sich selbst ruhende und über allen nur in der Reflexion möglichen Zweifel[540] erhabene Liebe? Und was macht diese Liebe auf sich selber ruhen, ausser das, dass sie unmittelbar das Sichtragen und Sichzusammenhalten des Absoluten selber ist? – Nicht die Reflexion, E. V., welche vermöge ihres Wesens sich in sich selber spaltet, und so mit sich selbst sich entzweit; nein, die Liebe ist die Quelle aller Gewissheit, und aller Wahrheit und aller Realität.

Der eben dadurch zu einem inhaltleeren Begriffe ausfallende Begriff von Gott deutet die Liebe überhaupt, sagte ich. Im lebendigen Leben hingegen, – ich bitte dieses zu bemerken, – ist diese Liebe nicht gedeutet, sondern sie ist, und sie hat und hält das Geliebte keinesweges etwa im Begriffe, der ihr nie nachkommt, sondern oben unmittelbar in der Liebe, und zwar also, wie es in sich selber ist, weil sie ja nichts anderes ist, als das Sichselbsthalten des absoluten Seyns. Dieser Gehalt und Stoff der Liebe nun ist es, welchen die Reflexion des Lebens zuvörderst zu einem stehenden und objectiven Wesen macht, sodann, dieses also entstandene Wesen in die Unendlichkeit fort wiederum spaltet und anders gestaltet, und so ihre Welt erschafft. Ich frage: was giebt denn für diese Welt, an der die Form des Wesens und die Gestalt offenbar das Product der Reflexion sind, den eigentlichen Grundstoff her? Offenbar die absolute Liebe; die absolute: – wie Sie nun sagen wollen – Gottes zu seinem Daseyn, oder – des Daseyns zum reinen Gotte. Und was bleibt der Reflexion? – ihn objectiv hinzustellen und ins unendliche fortzugestalten. Aber selbst in Absicht des letzteren, was ist es, das die Reflexion nirgends stillstehen lässt, sondern sie unaufhaltsam forttreibt von jedem Reflectirten, bei dem sie angekommen ist, zu einem folgenden, und von diesem zu seinem folgenden? Die unaustilgbare Liebe ist es zu dem, der Reflexion nothwendig entfliehenden, hinter aller Reflexion sich verbergenden, und darum nothwendig in alle Unendlichkeit hinter aller Reflexion aufzusuchenden, reinen und realen Absoluten; diese ist es, welche sie forttreibt durch die Ewigkeit, und sie ausdehnt zu einer lebenden Ewigkeit. Die Liebe daher ist höher, denn alle Vernunft, und sie ist selbst die Quelle der Vernunft und die Wurzel[541] der Realität, und die einzige Schöpferin des Lebens und der Zeit; und ich habe dadurch, E. V., den höchsten realen Gesichtspunct einer Seyns- und Lebens- und Seligkeitslehre, d. i. der wahren Speculation, zu welchem wir bis jetzt hinaufstiegen, endlich klar ausgesprochen.

(Endlich, die Liebe ist, so wie überhaupt Quelle der Wahrheit und Gewissheit, ebenso auch die Quelle der vollendeten Wahrheit in dem wirklichen Menschen und seinem Leben. Vollendete Wahrheit ist Wissenschaft: das Element aber der Wissenschaft ist die Reflexion. So wie nun diese letztere sich selbst klar wird als Liebe des Absoluten, und dasselbe, wie sie nun nothwendig muss, erfasset als schlechthin über alle Reflexion hinausliegend und derselben in jeder möglichen Form unzugänglich, geht sie erst ein in die reine, objective Wahrheit; so wie sie eben dadurch allein auch fähig wird, die Reflexion, die sich ihr vorher noch immer mit der Realität vermischte, rein auszuscheiden und aufzufassen, und alle Producte derselben an der Realität erschöpfend aufzustellen und so eine Wissenslehre zu begründen. – Kurz, die zu göttlicher Liebe gewordene und darum in Gott sich selbst rein vernichtende Reflexion ist der Standpunct der Wissenschaft; welchen ich bei dieser schicklichen Gelegenheit im Vorbeigehen mit angeben wollte.)

Um dies in einer leicht zu behaltenden Form Ihnen zu geben und an schon geläufiges anzuknüpfen – Schon zweimal haben wir die Johanneischen Worte: Im Anfang war das Wort u.s.w., in unsern, im unmittelbaren Gebrauche befindlichen Ausdruck umgesetzt: zuerst also: im Anfange und schlechthin bei dem Seyn war das Daseyn; sodann, nachdem wir die mannigfaltigen innern Bestimmungen des Daseyns näher erkannt und dieses Mannigfaltige unter der Benennung Form zusammengefasst hatten, also: im Anfange, und schlechthin bei Gott oder dem Seyn, war die Form. Jetzt, nachdem wir das uns vorher für das wahre Daseyn gegoltene Bewusstseyn mit seiner ganzen mannigfaltigen Form nur als das Daseyn aus der zweiten Hand und die blosse Erscheinung desselben; das wahre aber und absolute Daseyn in seiner eigenthümlichen[542] Form als Liebe erkennen: sprechen wir jene Worte also aus: im Anfange: höher denn alle Zeit und absolute Schöpferin der Zeit, ist die Liebe, und die Liebe ist in Gott, denn sie ist sein Sichselbsterhalten im Daseyn: und die Liebe ist selbst Gott, in ihr ist er und bleibet er ewig, wie er in sich selbst ist. Durch sie, aus ihr, als Grundstoff, sind vermittelst der lebendigen Reflexion alle Dinge gemacht, und ohne sie ist nichts gemacht, was gemacht ist; und sie wird ewig fort in uns und um uns herum Fleisch, und wohnet unter uns, und es hängt bloss von uns selbst ab, ihre Herrlichkeit, als eine Herrlichkeit des ewigen und nothwendigen Ausflusses der Gottheit, immerfort vor Augen zu erblicken.

Das lebendige Leben ist die Liebe, und hat und besitzt, als Liebe, das Geliebte, umfasst und durchdrungen, verschmolzen und verflossen mit ihm: ewig die Eine und dieselbe Liebe. Nicht die Liebe ist es, welche dasselbe äusserlich vor sich hinstellt und es zerspaltet, sondern das thut nur die Reflexion. Inwiefern daher der Mensch die Liebe ist, – und dies ist er in der Wurzel seines Lebens immer und kann nichts anderes seyn, obwohl er die Liebe seiner selbst seyn kann; – und inwiefern insbesondere er die Liebe Gottes ist, bleibt er immer und ewig das Eine, Wahre, Unvergängliche, so wie Gott selbst, und bleibet Gott selbst; und es ist nicht eine kühne Metapher, sondern es ist buchstäbliche Wahrheit, was derselbe Johannes sagt: wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott, und Gott in ihm. Seine Reflexion nur ist es, welche dieses sein eignes, keinesweges ein fremdes Seyn ihm erst entfremdet, und in der ganzen Unendlichkeit zu ergreifen sucht dasjenige, was er selbst, immer und ewig und allgegenwärtig, ist und bleibt. Es ist daher nicht sein inneres Wesen, sein eigenes, ihm selbst, keinem fremden angehöriges, das da ewig sich verwandelt, sondern nur die Erscheinung dieses Wesens, welches im Wesen der Erscheinung ewig unerschwinglich bleibt, ist es, was sich verwandelt. Das Auge des Menschen verdeckt ihm Gott und spaltet das reine Licht in farbige Strahlen, haben wir zu seiner Zeit gesagt; jetzt sagen wir: Gott wird durch des Menschen Auge ihm verdeckt, lediglich darum, weil[543] er selbst sich durch dieses sein Auge verdeckt wird, und weil sein Sehen nie an sein eigenes Seyn zu reichen vermag. Was er sieht, ist ewig er selber; wie wir auch schon oben sagten: nur sieht er sich nicht so wie er selber ist, denn sein Seyn ist Eins, sein Sehen aber ist unendlich.

Die Liebe tritt nothwendig ein in der Reflexion und erscheinet unmittelbar als ein Leben, das eine persönlich sinnliche Existenz zu seinem Werkzeuge macht, also als ein Handeln des Individuums; und zwar als ein Handeln in einer durchaus ihr eignen, über alle Sinnlichkeit hinaus liegenden Sphäre, in einer völlig neuen Welt. Wo die göttliche Liebe ist, da ist nothwendig diese Erscheinung; denn so erscheint die erstere durch sich, ohne ein dazwischentretendes neues Princip; und wiederum, wo diese Erscheinung nicht ist, da ist auch die göttliche Liebe nicht. Es ist durchaus vergeblich, dem, der nicht in der Liebe ist, zu sagen: handle moralisch; denn nur in der Liebe geht die moralische Welt auf, und ohne sie giebt es keine; und ebenso überflüssig ist es, dem, der da liebt, zu sagen, handle: denn seine Liebe lebet schon durch sich selbst, und das Handeln, und das moralische Handeln, ist bloss die stille Erscheinung dieses seines Lebens. Das Handeln ist gar nichts an und für sich selbst, und es hat kein eignes Princip; sondern es entfliesst still und ruhig der Liebe, so wie das Licht der Sonne zu entfliessen scheint, und so wie der innern Liebe Gottes zu sich selbst die Welt wirklich entfliesst. So jemand nicht handelt, so liebt er auch nicht; und wer da glaubt zu lieben, ohne zu handeln, dessen Phantasie bloss ist durch ein von aussen an ihn gebrachtes Bild der Liebe in Bewegung gesetzt, welchem Bilde keine innere, in ihm selbst ruhende Realität entspricht. Wer da sagt, ich liebe Gott, sagt derselbe Johannes, und, – nachdem er die Bruderliebe, in einem gewissen sehr richtigen Sinne, selbst als die höhere Moralität aufgestellt hatte, – und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner; oder wie wir unsrer Zeit angemessener, jedoch gar nicht milder sagen würden, der ist ein Phantast, – und hat nicht die Liebe Gottes in ihm bleibend – bleibend, realiter,[544] sie ist nicht die Wurzel seines wahren Lebens, sondern er mag sie sich höchstens nur vorbilden.

Die Liebe ist ewig ganz und in sich gedrungen, sagten wir; und sie hat in sich, als Liebe, ewig die Realität ganz; bloss und lediglich die Reflexion ist es, welche theilt und spaltet. Darum ist auch – hierdurch kommen wir zu dem Puncte zurück, bei welchem wir in der vorigen Rede stehen blieben, – darum ist auch die Spaltung des Einen göttlichen Lebens in verschiedene Individuen keinesweges in der Liebe, sondern sie ist lediglich in der Reflexion. Das sich unmittelbar als handelnd erscheinende Individuum sonach und alle ausser ihm erscheinende Individuen sind lediglich die Erscheinung der Einen Liebe, keinesweges aber die Sache selbst. In seinem eigenen Handeln soll die Liebe erscheinen, ausserdem wäre sie nicht da: das moralische Handeln anderer aber ist nicht die ihm unmittelbar zugängliche Erscheinung der Liebe; desselben Ermangeln beweiset gar nicht unmittelbar die Abwesenheit der Liebe; darum wird, wie wir schon in der vorigen Rede uns ausdrückten, die Moralität und Religiosität anderer nicht unbedingt gewollt, sondern mit der Bescheidung in die Freiheit anderer; und die Abwesenheit dieser allgemeinen Moralität stört nicht den Frieden der durchaus auf sich selber ruhenden Liebe.

Die Moralität und Religiosität des ganzen übrigen Geisterreichs hängt mit dem Handeln jedes besondern Individuums zunächst zusammen, wie zu bewirkendes mit seiner Ursache. Der moralisch Religiöse will Moralität und Religion allgemein verbreiten. Die Absonderung aber zwischen seiner und der andern Religiosität ist lediglich eine Absonderung in der Reflexion. Seine Affection durch den Erfolg oder Nichterfolg muss daher nach dem Gesetze der Reflexion erfolgen. Aber wie wir schon oben bei einer andern Gelegenheit ersehen haben, der eigenthümliche Affect der Reflexion ist Billigung oder Misbilligung, welche freilich nicht eben kalt seyn muss, sondern die um so leidenschaftlicher wird, je liebender der Mensch überhaupt ist. Einen Affect aber führt die Reflexion auf die Moralität anderer allerdings bei sich; denn diese Reflexion ist[545] die allerhöchste für den Religiösen und die eigentliche Wurzel der ganzen, mit Affect zu umfassenden Welt ausser ihm, welche letztere für ihn rein und lediglich eine Geisterwelt ist.

Das soeben gesagte liefert uns die Principien, um die Gesinnung des Religiösen gegen andere, oder dasjenige, was man seine Menschenliebe nennen würde, tiefer zu charakterisiren, als es in der vorigen Rede geschehen konnte.

Zuvörderst ist von dieser religiösen Menschenliebe nichts entfernter, als jenes gepriesene gut seyn und immer gut seyn und alles gut seyn Lassen. Die letzte Denkart, weit entfernt die Liebe Gottes zu seyn, ist vielmehr die in einer frühern Rede sattsam geschilderte absolute Flachheit und innere Zerflossenheit eines Geistes, der weder zu lieben vermag, noch zu hassen. – Den religiösen Menschen kümmert nicht – es sey denn sein besonderer Beruf, für eine würdige Subsistenz der Menschen Sorge zu tragen, – die sinnliche Glückseligkeit des Menschengeschlechts, und er will kein Glück für dasselbe ausser in den Wegen der göttlichen Ordnung. Durch die Umgebungen sie selig machen zu wollen, kann er nicht begehren, ebensowenig, als es Gott begehren kann: denn Gottes Wille und Rathschluss, auch über sein verbrüdertes Geschlecht, ist immer der seinige. So wie Gott will, dass keiner Friede und Ruhe finde, ausser bei ihm, und dass jeder bis zur Vernichtung seiner selbst und der Einkehrung in Gott, immerfort geplagt und genagt sey: so will es auch der Gott ergebene Mensch. Wiederfindend ihr Seyn in Gott, wird er ihr Seyn lieben; ihr Seyn ausser Gott hasset er innig, und dies ist eben seine Liebe zu ihrem eigentlichen Seyn, dass er ihr beschränkendes Seyn hasset. Ihr wähnet, sagt Jesus, ich sey gekommen, Frieden zu bringen auf Erden, – Frieden: eben jenes Gutseynlassen alles dessen, was da ist; – nein, da ihr nun einmal seyd, wie ihr seyd, bringe ich euch das Schwert. Auch ist der religiöse Mensch weit entfernt von dem gleichfalls bekannten und oft empfohlenen Bestreben derselben erwähnten Flachheit, sich über die Zeitumgebungen etwas aufzubinden, damit man eben in jener behaglichen Stimmung bleiben könne; sie umzudeuten und ins Gut, eins Schöne hierüber zu erklären. Er will sie[546] sehen, wie sie sind in der Wahrheit, und er sieht sie so, denn die Liebe schärft auch das Auge; er urtheilt streng und scharf, aber richtig, und dringt in die Principien der herrschenden Denkart.

Sehend auf das, was die Menschen seyn könnten, ist sein herrschender Affect eine heilige Indignation über ihr unwürdiges und ehrloses Daseyn: sehend darauf, dass sie im tiefsten Grunde doch alle ihr Göttliches tragen, nur dass es in ihnen nicht bis zur Erscheinung hindurchdringt; betrachtend, dass sie durch alles, was man ihnen verargt, doch sich selbst den allergrössten Schmerz zufügen, und dass dasjenige, was man geneigt ist, ihre Bosheit zu nennen, doch nur der Ausbruch ihres eigenen tiefen Elendes ist; bedenkend, dass sie nur ihre Hand ausstrecken dürften nach dem immerfort sie umgebenden Guten, um im Augenblick würdig und selig zu seyn, überfällt ihn die innigste Wehmuth und der tiefste Jammer. Seinen eigentlichen Hass erregt lediglich der Fanatismus der Verkehrtheit, welcher sich nicht damit begnügt, selbst in seiner eignen Person nichtswürdig zu seyn, sondern, soweit er zu reichen vermag, alles ebenso nichtswürdig zu machen strebt, als er selbst ist, und den jeder Anblick eines Bessern ausser ihm innig empört und zum Hasse aufreizt. Denn – indess das erstbeschriebene nur armes Sünderwerk ist, ist das letzte Werk des Teufels; denn auch der Teufel hasset das Gute, nicht schlechthin darum, weil es gut ist wodurch derselbe völlig undenkbar würde: sondern aus Neid, und weil er selbst es nicht an sich zu bringen vermag. So wie, unserer neulichen Schilderung zufolge, der von Gott Begeisterte will, dass ihm und allen seinen Brüdern, von allen Seiten und in allen Richtungen, ewig fort nur Gott entgegenstrahle, wie er ist in ihm selber: so will umgekehrt der von sich selbst Begeisterte, dass ihm und allen seinen Mitmenschen, von allen Seiten und in allen Richtungen, ewig fort nur das Bild seiner eigenen Nichtswürdigkeit entgegenstrahle. Er überschreitet durch dieses Heraustreten aus seiner Individualität die natürliche und menschliche Grenze des Egoismus, und macht sich zum allgemeinen[547] Ideale und Gotte; welches alles eben also der Teufel auch thut.

Endlich, ganz entschieden, unveränderlich und ewig sich gleich bleibend, offenbaret im Religiösen die Liebe zu seinem Geschlechte sich dadurch, dass er schlechthin nie und unter keiner Bedingung es aufgiebt, an ihrer Veredlung zu arbeiten, und, was daraus folgt, schlechthin nie und unter keiner Bedingung, die Hoffnung von ihnen aufgiebt. Sein Handeln ist ja die nothwendige Erscheinung seiner Liebe; wiederum aber geht sein Handeln nothwendig nach aussen und setzt ein Aussen für ihn, und setzt seinen Gedanken, dass in diesem Aussen etwas wirklich werden solle. Ohne Vertilgung jener Liebe in ihm kann weder dieses Handeln, noch dieser sein nothwendiger Gedanke beim Handeln jemals wegfallen. So oft er auch abgewiesen werde von aussen, ohne den gehofften Erfolg, wird er in sich selbst zurückgetrieben, schöpfend aus der in ihm ewig fortfliessenden Quelle der Liebe neue Lust und Liebe, und neue Mittel; und wird fortgetrieben von ihr zu einem neuen Versuche, und wenn auch dieser mislänge, abermals zu einem neuen; jedesmal voraussetzend, was bisher nicht gelungen sey, könne diesmal gelingen, oder auch das nächstemal, oder doch irgend einmal, und falls auch ihm überhaupt nicht, doch etwa, durch seine Beihülfe und zufolge seiner Vorarbeiten, einem folgenden Arbeiter. So wird ihm die Liebe eine ewig fortrinnende Quelle von Glauben und Hoffnung; nicht an Gott oder auf Gott: denn Gott hat er allgegenwärtig in sich lebend, und er braucht nicht erst an ihn zu glauben, und Gott giebt sich ihm ewig fort ganz, so wie er ist; und er hat darum nichts von ihm zu hoffen, sondern von Glauben an Menschen und Hoffnung auf Menschen. Dieser unerschütterliche Glaube nun und diese nie ermüdende Hoffnung ist es, durch welche er sich über alle die Indignation oder den Jammer, mit denen die Betrachtung der Wirklichkeit ihn erfüllen mag, hinwegsetzen kann, sobald er will, und den sichersten Frieden und die unzerstörbarste Ruhe einladen kann in seine Brust, sobald er ihrer begehrt. Blicke er hinaus über die Gegenwart in die Zukunft! – und er hat ja für diesen[548] Blick die ganze Unendlichkeit vor sich, und kann Jahrtausende über Jahrtausende, die ihm nichts kosten, daran setzen, so viele er will.

Endlich – und wo ist denn das Ende? – endlich muss doch alles einlaufen in den sichern Hafen der ewigen Ruhe und Seligkeit; endlich einmal muss doch heraustreten das göttliche Reich, und seine Gewalt und seine Kraft und seine Herrlichkeit.

Und so hätten wir denn die Grundzüge zu dem Gemälde des seligen Lebens, soweit ein solches Gemälde möglich ist, in einen Punct vereinigt. Die Seligkeit selbst besteht in der Liebe und in der ewigen Befriedigung der Liebe, und ist der Reflexion unzugänglich: der Begriff kann dieselbe nur negativ ausdrücken, so auch unsere Beschreibung, die in Begriffen einhergeht. Wir können nur zeigen, dass der Selige des Schmerzes, der Mühe, der Entbehrung frei ist; worin seine Seligkeit selbst positiv bestehe, Lässt sich nicht beschreiben, sondern nur unmittelbar fühlen.

Unselig macht der Zweifel, der uns hierhin reisset und dorthin, die Ungewissheit, welche eine undurchdringliche Nacht, in der unser Fuss keinen sichern Pfad findet, vor uns her verbreitet. Der Religiöse ist der Möglichkeit des Zweifels und der Ungewissheit auf ewig entnommen. In jedem Augenblicke weiss er bestimmt, was er will und wollen soll; denn ihm strömt die innerste Wurzel seines Lebens, sein Wille unverkennbar ewig fort unmittelbar aus der Gottheit: ihr Wink ist untrüglich, und für das, was ihr Wink sey, hat er einen untrüglichen Blick. In jedem Augenblicke weiss er bestimmt, dass er in alle Ewigkeit wissen wird, was er wolle und solle, dass in alle Ewigkeit die in ihm aufgebrochene Quelle der göttlichen Liebe nicht versiegen, sondern unfehlbar ihn festhalten und ihn ewig fortleiten werde. Sie ist die Wurzel seiner Existenz; sie ist ihm nun einmal klar aufgegangen, und sein Auge ist mit inniger Liebe auf sie geheftet; wie könnte jene vertrocknen, wie könnte dieses wo andershin sich wenden! Ihn befremdet nichts, was irgend um ihn herum vorgeht. Ob er es begreife, oder nicht; dass es in der Welt Gottes ist, und[549] dass in dieser nichts seyn kann, das nicht zum Guten abzwecke, weiss er sicher.

In ihm ist keine Furcht über die Zukunft, denn ihn führt das absolut Selige ewig fort derselben entgegen; keine Reue über das Vergangene, denn inwiefern er nicht in Gott war, war er nichts, und dies ist nun vorbei, und erst seit seiner Einkehr in die Gottheit ist er zum Leben geboren; inwiefern er aber in Gott war, ist recht und gut, was er gethan hat. Er hat nie etwas sich zu versagen, oder sich nach etwas zu sehnen, denn er besitzt immer und ewig die ganze fülle alles dessen, das er zu fassen vermag. Für ihn ist Arbeit und Anstrengung verschwunden, seine ganze Erscheinung fliesst lieblich und leicht aus seinem Innern, und löset sich ab von ihm ohne Mühe. Um es mit den Worten eines unsrer grossen Dichter zu sagen:


Ewigklar, und spiegelrein und eben,

Fliesst das zephyrleichte Leben

Im Olymp den Seligen dahin.

Monde wechseln und Geschlechter fliehen –

Ihrer Götterjugend Rosen blühen,

Wandellos im ewigen Ruin


So viel E. V., habe ich Ihnen in diesen Vorlesungen über das wahre Leben und über die Seligkeit desselben mittheilen wollen. Es ist sehr wahr, dass man über diesen Gegenstand noch lange fortreden könnte, und dass es besonders sehr interessant seyn würde, den moralisch-religiösen Menschen, nachdem man ihn im Mittelpuncte seines Lebens kennen gelernt hat, von da aus zu begleiten in das gewöhnliche Leben, bis auf die gemeinsten Angelegenheiten und Umgebungen, und da ihn anzuschauen in seiner ganzen, wahrhaft rührenden Liebenswürdigkeit und Heiterkeit. Aber ohne eine gründliche Erkenntniss jener ersten Grundpuncte zerfliesst eine solche Beschreibung dem Zuhörer gar leicht, entweder in eine leere Declamation, oder in ein nur ästhetisch gefallendes, über keinen wahren Grund seines Bestehens in sich tragendes Luftgebilde: und dies ist der Grund, warum wir der Fortsetzung uns lieber[550] enthalten. Für die Principien haben wir genug, vielleicht sogar zu viel gesagt.

Um dem ganzen Werke seinen angemessenen Schluss anzufügen lade ich Sie nur noch auf Eine Stunde ein.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 5, Berlin 1845/1846, S. 538-551.
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