1. Die Realität der Erscheinungswelt.

[263] Schon in den vedischen Samhitâs und mehrfach in den älteren Upaniṣads wird das Verhältnis von Sein und Nichtsein erwogen; am besten in der berühmten Stelle Chândogya Up. VI. 2. 1, 2: »Seiend, o Lieber, war dieses am Anfang, nur eines, ohne ein zweites. Einige sagen zwar: ›Nichtseiend war dieses am Anfang, nur eines, ohne ein zweites; aus diesem Nichtseienden entstand das Seiende‹. Wie könnte es aber so sein, o Lieber? ... Wie könnte aus dem Nichtseienden das Seiende entstehen? Seiend vielmehr, o Lieber, war dieses am Anfang, nur eines ohne ein zweites!«1. Diese Frage hat dann in der Folgezeit das indische Denken mächtig bewegt, und für den Standpunkt der philosophischen Systeme ist die Art, wie das Verhältnis von Sein und Nichtsein aufgefaßt wurde, geradezu entscheidend. So sagt Vâcaspatimiśra2 in seiner Einleitung zu Sâmkhyakârikâ 9 kurz und bestimmt: »Nach der Ansicht der Buddhisten geht das Seiende aus dem Nichtseienden hervor, nach der der Vedântisten das scheinbar, aber nicht wirklich Seiende aus dem Seienden, nach der der[263] Vaiśeṣikas und Naiyâyikas das noch nicht Seiende aus dem Seienden, nach der der Sâmkhyas (ohne jede Einschränkung) das Seiende aus dem Seienden«. Nun hat zwar Vijñânabhikṣu an verschiedenen Stellen3 ausgeführt, daß Realität und Nichtrealität keine festen Begriffe seien: Traumbilder seien nicht real im Verhältnis zu den im Wachen gesehenen Dingen – aber auch die Traumbilder seien nicht absolut unwirklich, weil sie bestimmte Alterationen des inneren Organs voraussetzen4 –; die im Wachen gesehenen Dinge hinwiederum seien wegen ihrer Unbeständigkeit nicht real im Verhältnis zu der ewig unveränderlichen Seele. So läuft bei Vijñânabhikṣu die Betrachtung über die Relativität dieser beiden Begriffe stehend5 darauf hinaus, daß Realität im höchsten Sinne (pâramârthika-sattva) Unveränderlichkeit, dagegen Realität nach der landläufigen Auffassung (vyâvahârika-sattva) Veränderlichkeit bedeute6. Diese ganzen Erörterungen Vijñânabhikṣus, die offenbar aus seinem Streben, zwischen Sâmkhya und Vedânta zu vermitteln, erwachsen sind, haben für das Sâmkhya-System geringe Bedeutung. So wesentlich auch die Begriffe Veränderlichkeit und Unveränderlichkeit als solche sind, insofern sie einen der wichtigsten Unterschiede zwischen der Welt des Geistigen und der des Materiellen darstellen, so wenig sind sie doch für die Frage nach dem objektiven Dasein der Sinnenwelt entscheidend. Unreal sind für den Sâmkhya nur diejenigen Dinge, denen Vijñânabhikṣu absolute Nichtrealität (pâramârthikâ–'sattva oder atyantâsattva) zuschreibt und die überhaupt von keinem Menschen vorgestellt werden7: das Manneshorn, das Hasenhorn,[264] die Blume in der Luft, der Sohn der Unfruchtbaren und dergl. Die Wahrnehmung eines Objektes ist unter der Bedingung, daß die Sinne des Wahrnehmenden gesund sind, für den Sâmkhya ein Beweis für die Realität des Objektes; ebenso wie von ihm durch die sinnliche Wiedererkennung das Beharren eines Gegenstandes dargetan und die buddhistische Theorie von der momentanen Dauer aller Dinge widerlegt wird8. Außer den Hauptstellen für die Realität der materiellen Welt9 verdient hier die Widerlegung der abweichenden Lehren anderer Systeme Beachtung; vor allem die der Vedânta-Lehre von der alleinigen Existenz des Brahman oder technisch von seiner ›Zweitlosigkeit‹10, dann aber auch die zweier buddhistischer Sekten, der Yogâcâras, die alles mit Ausnahme des Denkens für illusorisch erklären11, und der Mâdhyamikas, denen das Nichts als die einzige Realität gilt12. Die Theorien dieser beiden buddhistischen Sekten werden im wesentlichen in materialistischer Weise durch Berufung auf die Perzeption bekämpft, die letztere auch durch das Sophisma: entweder gibt es kein Mittel, das Nichts zu beweisen; oder es gibt ein solches Mittel, und dann ist das Mittel selbst etwas Positives und damit ein Beweis gegen die Theorie von der alleinigen Existenz des Nichts.

Sehr bemerkenswert ist, daß die Sâmkhyakârikâ zwar die Lehre von der ewigen Realität der Produkte, d.h. von ihrer Realität vor und nach der Manifestation, behandelt13, im übrigen aber die Frage nach der Wirklichkeit der Erscheinungswelt gar nicht berührt. Diese galt zur Zeit der Kârikâ offenbar für den Sâmkhya noch als etwas Selbstverständliches, das keines Beweises bedurfte. Erst nachdem durch Śamkara im Anfange des neunten Jahrhunderts der[265] Vedânta zu seiner noch jetzt von ihm behaupteten überragenden Stellung erhoben und die Lehre Ton der kosmischen Illusion scharfsinnig begründet war, sahen sich die durch Śamkaras Wirken hart bedrängten und an Zahl stark verringerten Anhänger des Sâmkhya-Systems zu einer Verteidigung jenes grundlegenden Prinzips genötigt.

1

Ebenso Chând. Up. VI. 8. 4, umgekehrt III. 19. 1, Taitt. Up. II. 7. 1.

2

Und nach ihm Mâdhavâcârya im Sâmkhya-Kapitel des Sarvadarśana-samgraha (S. 224 der Übersetzung). Vgl. auch Sâmkhya-tattva-pradîpa im Paṇḍit IX, S. 117, 118, 240, 241.

3

Am deutlichsten zu Sûtra III. 26.

4

Vijñ. zu Sûtra II. 6.

5

S. seinen Kommentar zu Sûtra I. 26, 43, 79, II. 6, V. 54, 56, VI. 52.

6

Nach der Meinung unseres Kommentators ist diese Auffassung auch schon in Sûtra V. 56 ausgesprochen, was jedoch durch den Zusammenhang und die Erklärungen der anderen Kommentatoren sehr unwahrscheinlich gemacht wird.

7

Sûtra V. 52.

8

Sûtra I. 35.

9

Sûtra I. 79, VI. 52; vgl. auch I. 42, V. 26, 27.

10

Sûtra V. 61-65, VI. 46-48.

11

Sûtra I. 42, 43.

12

Sûtra I. 44-47.

13

Kârikâ 9.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 263-266.
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