2. Die Urmaterie.

[266] Die Welt der Erscheinungen befindet sich in einem beständigen Wechsel und Wandel; das unablässige Sichverändern (pariṇâma) ist ihre charakteristischste Eigenschaft. Die Umbildung der Dinge verläuft dabei oftmals im Kreise; z.B. wenn der verfaulende Baumwollenfaden zu Erde, die Erde zur Baumwollenstaude und diese wiederum zu Blüte, Frucht und Faden wird14. Unsere Weltanschauung nun würde einem regressus in infinitum verfallen, wenn wir nicht annähmen, daß dem materiellen Weltganzen ein einheitliches ursprüngliches Prinzip zugrunde liegt, das selbst nicht mehr aus einer anderen materiellen Ursache abgeleitet werden kann. Dieses Prinzip heißt in der Sâmkhya-Philosophie prakṛti ›Grundform‹ (im Gegensatz zu vikṛti ›Umformung‹15), mûla-prakṛti ›Wurzel-Grundform‹, pradhâna ›Grundbestand‹, mûla-kâraṇa ›Wurzelursache‹ oder avyakta ›das Unentfaltete‹ (im Gegensatz zu vyakta, der entfalteten Welt). Schon die etymologische Bedeutung dieser Termini lehrt, wie es auch weiterhin der Zusammenhang des ganzen Systems tut, daß[266] es sich hier um den Begriff der Urmaterie handelt, nicht um den der Natur, der häufig in jene Ausdrücke hineingetragen worden ist16. Die Sâmkhya-krama-dîpikâ führt in Nr. 7, nachdem sie im vorangehenden Paragraphen das Wesen der Urmaterie beschrieben hat, noch folgende Synonyma an: brahman ›die Allseele‹ (des Vedânta-Systems)17, pura ›Stadt, Wohnort, Behälter‹, dhruva ›das Beständige‹, pradhânaka (= pradhâna), akṣara ›das Unvergängliche‹, kṣetra ›Feld, Gebiet der Wirksamkeit‹, tamas (Name des dritten Guṇa), prasûta ›das Hervorbringende‹. Daß hiermit nicht wirkliche Synonyma geboten sind, ist für denjenigen, der die maßgebenden Sâmkhya-Texte gelesen hat, ohne weiteres klar; die Liste enthält zum Teil Epitheta der Urmaterie, zum Teil Worte, die infolge irgendwelcher Begriffsvermengung in Purâṇas oder in sonstiger apokrypher Literatur zur Bezeichnung der Urmaterie gebraucht sein mögen.

Betrachten wir nun zunächst die Schlußfolgerungen, durch welche die Sâmkhya-Philosophie zu dem Begriff der Urmaterie gelangt18. Sie geht von dem Grundsatze aus, daß alles Grobe aus etwas Feinerem gebildet ist. Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die grobe Materie oder die fünf groben Elemente (sthûla-bhûta), d.h. Erde, Wasser, Feuer,[267] Luft und Äther19, müssen also – selbst wenn man das kleinste mit unseren Sinnen festzustellende Teilchen ins[268] Auge faßt –, weil sie auch an jener Grenze noch ›grob‹ sind, aus Dingen hervorgegangen sein, welche die speziellen Characteristica eines jeden groben Elements besitzen. Das sind die sogenannten Grundstoffe (tanmâtra) oder feinen Elemente (sûkṣma-bhûta), die noch keine Vermischung miteinander eingegangen sind und jenseits der Wahrnehmung unserer Sinne stehen. Aber auch diese Grundstoffe noch sind begrenzt, und alles Begrenzte ist aus einem anderen hervorgegangen. Bevor wir jedoch sehen, welcher Art dieses weiter zu erschließende Prinzip ist, habe ich der Auffassung zu gedenken, daß die Sinne mit den fünf feinen Elementen auf derselben Stufe in dem Entwicklungsgang der Weit stehen. Die Sâmkhya-Philosophie lehrt, daß die Objekte der Wahrnehmung und Empfindung und die Organe, mit denen wir die Objekte wahrnehmen und empfinden, denselben Ursprung haben. Dasjenige Prinzip also, aus dem die Sinne entstanden sind, muß zugleich die Quelle der feinen Elemente sein. Es ist der Ahamkâra, der ›Ichmacher‹, d.h. die feine Substanz desjenigen inneren Organs, das die Funktion hat, die Dinge in Beziehung zu dem Ich (oder der Seele) zu setzen. Die Existenz einer solchen Substanz wird dadurch bewiesen, daß, ebenso wie die Wahrnehmungsfunktionen ihre materielle Basis in den Sinnen haben, auch solche Denkfunktionen wie »Ich bin dies und das; dieses gehört mir; dies ist von mir zu verrichten« eine materielle Basis haben müssen. Der Ahamkâra würde als Äquivalent unseres Selbstbewußtseins gelten können, wenn er nicht in der Sâmkhya-Philosophie etwas Ungeistiges, ein rein materielles Prinzip wäre. Da nun der Ahamkâra auf Objekte Bezug nimmt, ohne die er nicht funktionieren kann, so werden wir von[269] ihm aus auf ein höheres Prinzip hingeführt, das diese Objekte dem Ahamkâra bietet. Das ist die Buddhi, d.h. die Substanz desjenigen inneren Organs, das die Funktion der Feststellung, der Unterscheidung, des Urteils besitzt. Jedermann stellt zuerst ein Ding seinem Wesen nach fest und setzt es erst dann zu seiner Person in Beziehung. Daraus nun, daß diese beiden Tätigkeiten in dem Verhältnis von Ursache und Wirkung (oder Produkt) stehen, wird das gleiche Verhältnis für ihre Substrate, Buddhi und Ahamkâra, erschlossen20. Nun ist aber auch die Buddhi noch etwas Begrenztes und kann deshalb nicht die letzte Ursache der Dinge sein; der Urgrund der materiellen Welt muß ewig, unendlich, unbegrenzt sein21. Damit sind wir bei der Urmaterie angelangt, aus der die Sâmkhya-Philosophie die Buddhi unmittelbar entstehen läßt. Mit Ausnahme dieser Urmaterie sind alle materiellen Dinge Produkte und gehören in die Kategorie des Entfalteten. Es ist gleichgiltig, wie man dieses letzte erreichbare materielle Prinzip, das unentfaltet und kein Produkt ist, benennt; es kommt nur darauf an, daß mit ihm ein letztes Glied in der Reihe der zu erschließenden Prinzipien, ein Abschluß (paryavasâna) oder ein Haltepunkt (pariniṣṭhâ) gewonnen ist22. Dieses letzte Glied muß einerseits die Qualitäten besitzen, die zur Hervorbringung der ganzen Welt des Stoffes erforderlich sind, andererseits muß es sich auch von allen materiellen Produkten dadurch unterscheiden, daß ihm diejenigen Eigenschaften fehlen, die den Begriff des Produkts ausmachen. Diese letzteren Eigenschaften sind in Kârikâ 10 aufgezählt23. Alles Entfaltete oder Produzierte ist veranlaßt (oder durch eine Ursache bedingt), nicht-ewig, nicht-allgegenwärtig, sich bewegend, in der Vielheit existierend, auf etwas beruhend,[270] sich auflösend (liṅga)24, in Verbindung tretend und von einem anderen abhängig. In allen diesen Hinsichten ist die Urmaterie das Gegenteil von ihren Produkten. Auch die Bewegung, von der man meinen könnte, daß sie der Urmaterie als einer der Umwandlung unterliegenden Substanz mit den Produkten gemeinsam sei, darf ihr nicht zugeschrieben werden, da sie wegen ihrer Allgegenwart nicht ihre Stelle wechseln kann. Wenn der Urmaterie Bewegung zukäme, so ginge sie damit des Charakters der ersten Ursache verlustig. Allgegenwärtig ist sie deshalb, weil es keinen Punkt im Universum gibt, an dem nicht eine ihrer Umwandlungen – und sei es auch nur in Gestalt des Äthers – vorhanden ist. Die Urmaterie ist somit in allem Stofflichen enthalten und wirkt in allen Produkten25. Hieraus und aus der Sâmkhya- Lehre von der Identität der materiellen Ursache und des Produkts erklärt es sich, daß in den Sâmkhya-Schriften die Worte prakṛti und pradhâna (und die Adjectiva prâkṛta, prâkṛtika) auch zur Bezeichnung alles Materiellen gebraucht werden, so daß es nicht immer ganz leicht ist zu entscheiden, ob die unentfaltete Urmaterie gemeint ist oder ihre Entfaltungen.

Daß die Urmaterie nur auf dem Wege der Schlußfolgerung festzustellen ist und nicht sinnlich wahrgenommen werden kann, sollte selbstverständlich sein; ist doch selbst die dritte Stufe ihrer Evolution in der Gestalt der feinen Elemente nach der Meinung der Sâmkhyas nur für die übernatürlichen Sinne der Götter und der Yogins wahrnehmbar. Trotzdem wird die Unsichtbarkeit der Urmaterie in Kârikâ 8 ausdrücklich durch ihre ›Feinheit‹ begründet.

Die wichtigste von der Sâmkhya-Philosophie mit dem Begriff der Urmaterie verbundene Vorstellung ist diejenige, durch welche ihre Entfaltung und die Mannigfaltigkeit des Weltganzen erklärt wird; die Vorstellung nämlich, daß die[271] Urmaterie trotz ihrer Einheitlichkeit und Unteilbarkeit26 aus drei verschiedenen Substanzen besteht, deren Wesen uns in dem folgenden Kapitel beschäftigen soll.

14

Aniruddha zu Sûtra I. 121.

15

Das Wort prakṛti wird in den Sâmkhya-Texten vereinzelt (Kârikâ 3, Tattvasamâsa 1; s. auch die im Petersburger Wörterbuch aus dem Mahâbhârata und Bhâgavata Purâṇa s.v. 3 b angeführten Stellen) in seiner Grundbedeutung zur Bezeichnung der acht materiellen Prinzipien verwendet, aus denen ein neues Prinzip hervorgeht, d.h. der Urmaterie, der Buddhi, des Ahamkâra und der fünf feinen Elemente; dagegen habe ich die Angabe Aniruddhas (zu Sûtra I. 61), daß mit dem Worte auch jeder einzelne der drei Guṇas Sattva, Rajas und Tamas benannt werde, nirgends bestätigt gefunden.

16

Schon Nîlakaṇṭha-Hall, Rational Refutation, Preface IX, wenden sich gegen die Übersetzung von prakṛti als ›nature‹ und in einer Anmerkung dazu ist gesagt: »Originant« might answer, or »evolvent«; and »originate«, or »evolute« for vikṛti. – Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II. § 187 »Einiges zur Sanskritlitteratur« sagt: »Prakriti ist offenbar die natura naturans und zugleich die Materie an sich, d.h. ohne alle Form, wie sie nur gedacht, nicht angeschaut wird. Diese, so gefaßt, kann, sofern alles aus ihr sich gebiert, wirklich als identisch mit der natura naturans angesehen werden.«

17

Vgl. die Anm. zu meiner Übersetzung der Bhagavadgîtâ XIV. 3. – Auch Paramârtha und Gauḍapâda zu Sâmkhyakârikâ 22 nennen brahman als ein Synonymon von prakṛti.

18

Vgl. Kârikâ 15, 16, Sûtra I. 62-65, 103, 110, 135, 136; Colebrooke, Misc. Ess.2 I. 266, 267; Ballantyne, Lecture on the Sânkhya Philosophy Nr. 88, 89; Röer, Lecture 12, 13.

19

Um den Äther in die groben Elemente einreihen zu können, ist der Begriff des groben Elements dahin zu bestimmen, daß dessen Characteristicum (im Falle des Äthers der Ton) von einem Sinne wahrgenommen wird. Vijñ. zu Sûtra I. 62. Böhtlingk hat sich in den Berichten der Königl. Sachs. Gesellschaft der Wiss. Bd. 43, S. 80, Bd. 52, S. 149 fg. (ZDMG. 55, 518) gegen die Übersetzung von âkâśa mit ›Äther‹ ausgesprochen. Er schrieb mir ferner darüber vom 11. Mai 1894: »Ich gestehe, daß ich ein wenig verwundert war, wieder Äther für âkâśa zu finden. Was soll man sich darunter denken? Ich glaube, daß ich das Richtige getroffen, wenn ich in meinen Übersetzungen der Upanishaden das Wort durch die Leere (kurz für leerer Raum) wiedergebe. Auch avakâśa-dânena [s. in dem Index II. 1 dieses Buches] spricht für meine Auffassung. Es ist der leere Raum, der den Dingen gestattet einen Platz einzunehmen. Vgl. auch Chând. Up. 1. 9. 1. Es ist das śûnya der Buddhisten. Das vierte Element würde ich nicht durch Luft, sondern durch Wind wiedergeben.«

Die letzte Bemerkung ist insofern richtig, als vâyu natürlich die bewegte Luft bezeichnet. Für âkâśa aber ist – wenigstens im Sâmkhya, Vaiśeṣika und Nyâya – ›Äther‹ beizubehalten; denn der Raum (diś) ist hier eine Qualität der Materie (s. unten in diesem Abschnitt III.), während der âkâśa eine Umwandlung der Materie, also selbst Materie ist. Er gilt in unserem System für einen feinen unsichtbaren Stoff, der die Aufgabe hat, die Schallwellen fortzutragen. Das avakâśa-dâna in der Sâmkhya-krama-dîpikâ, einem ganz jungen Text, kann nicht gegen die in der ganzen Sâmkhya-Schule herrschende Vorstellung geltend gemacht werden.

Gegen diese Gründe hat Böhtlingk in einem Briefe vom 16. Mai 1894 folgendes geltend gemacht, was mich aber auch nicht zur Preisgabe meiner Übersetzung von âkâśa mit Äther veranlaßt hat: »Mit âkâśa glaube ich doch im Recht zu sein. Wenn die Inder die unbewegte Luft nicht kannten und also diese nicht mit dem Winde identifizieren konnten, blieb ihnen für die Verbreitung des Tones nichts anderes übrig als der leere Raum. Setzen Sie statt dessen Luftraum, wie das Wort sonst immer übersetzt wird, und urgieren Sie nicht das vorstehende Luft, so haben Sie das fünfte Element, das auch nach dem System materiell sein muß. Diś ist viel abstrakter als âkâśa. Berücksichtigen Sie auch die ursprüngliche Bedeutung vom Synonymen kha, das schließlich auch die Null bezeichnet ... Zum Schluß komme ich noch einmal auf âkâśa zurück. Der Luftraum, dem Inder der leere Raum, tritt uns täglich und stündlich, sozusagen, vor Augen, da alle Bewegungen in ihm vorgehen. Der Flug der Vögel, der Lauf der Gestirne sowie der Schall erwecken in uns beständig die Vorstellung vom Luftraum. Der Äther führt den Leser irre, der Luftraum erscheint ihm für den Augenblick nur sonderbar.«

Dies alles trifft nicht den Kern der Sache. Auch Suali, Introduzione 171, 172 gibt âkâśa durch ›Äther‹ wieder.

20

Vijñ. zu Sûtra I. 64, II. 16.

21

Sûtra I. 76.

22

Sûtra I. 68.

23

Vgl. auch Sûtra I. 124, 125, 129-132, 136.

24

Nach Vâcaspatimiśra ›ein Merkmal (zur Erschließung der Urmaterie)‹.

25

Sûtra VI. 35-37.

26

Sûtra V. 73.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 266-272.
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