3. Die drei Guṇas.

[272] Schon mehrfach habe ich die merkwürdige Theorie der drei Guṇas27 berühren müssen, die zwar in ihren ersten schattenhaften Anfängen in höhere Zeit hinaufreicht, aber erst im Sâmkhya-System ihre philosophische Bedeutung erlangt hat. Für das Sâmkhya ist diese Lehre so charakteristisch, daß es ohne sie nicht gedacht werden kann. Beruht doch die ganze Evolutionstheorie des Systems auf der Lehre von den drei Guṇas. Wo etwa in den Schriften anderer Schulen eine Inhaltsangabe des Sâmkhya ohne Erwähnung der drei Guṇas sich findet, da liegt eine oberflächliche und ungenaue Skizze vor28. Jacobi ist anderer Meinung29. Er hält es unter Verweisung auf die Verwendung der Lehre von den[272] Guṇas in systematischen Lehrbüchern des Vedânta für möglich, daß diese Lehre vielleicht nicht spezifisch Kapilaïsch sei. Wo die Lehre von den Guṇas in jungen Vedânta-Schriften erwähnt ist, da ist sie eben aus dem Sâmkhya-System übernommen worden, ebenso wie in modernen Werken anderer Philosophenschulen und in weltlicher Literatur. Keinem anderen indischen System außer dem Sâmkhya gehört diese Lehre wesentlich an; denkt man sie aus dem Sâmkhya fort, so fällt es in sich zusammen.

Ein Hauptgrund gegen die früher geläufige Übersetzung des Wortes mit ›Qualität‹ ist, daß diese sekundäre Bedeutung erst lange nach der Begründung der Sâmkhya-Philosophie nachweisbar ist. In der Zeit, als das Sâmkhya-System entstand und die Lehre von den drei Guṇas ausgebildet wurde, hatte das Wort noch keine andere als seine alte ursprüngliche Bedeutung ›Bestandteil‹ (vgl. dviguṇa und caturguṇa im Śata-patha Brâhmaṇa). Daß auch in unseren Sâmkhya-Texten das Wort, wenn es sich um die drei Guṇas handelt, in dieser Bedeutung gebraucht ist, läßt sich unschwer erweisen30. Das Sâmkhyasûtra VI. 39 lautet: »Sattva usw. sind nicht Qualitäten (oder Attribute) [der Urmaterie], weil sie dieselbe bilden«. Und Vijñânabhikṣu sagt zu Sûtra I. 61: »Sattva und die [beiden] anderen [Guṇas] sind Substanzen (dravyâṇi), nicht Qualitäten im Sinne der Vaiśeṣikas« und begründet dies hauptsächlich damit, daß sie nach der Reihe die Eigenschaften des Leicht-, Beweglich- und Schwerseins haben, was man unmöglich von Qualitäten aussagen könne. In demselben Sinne, nur etwas ausführlicher, äußert er sich darüber im Kommentar zu I. 127: »Die Guṇas, d.h. die drei Substanzen Sattva usw., unterscheiden sich qualitativ voneinander durch Freude, Schmerz usf.; denn man beobachtet diese Unterschiedsmerkmale an den Produkten. ...[273] Daraus, daß hier Wohlbehagen und andere [Zustände] als Eigenschaften der Konstituenten angeführt sind und daß im folgenden Sûtra Leichtigkeit und anderes von ihnen ausgesagt werden wird, folgt, daß Sattva und die beiden [anderen Guṇas] Substanzen sind. Wenn aber die Guṇas mit Freude usw. [d.h. mit ihren Eigenschaften] identifiziert werden, so erklärt sich das einfach aus der Nichtverschiedenheit der Eigenschaft und des Trägers der Eigenschaft31«. Ferner erklärt Vijñânabhikṣu zu Sûtra I. 126: »In der Urmaterie ruhen Sattva und die [beiden] anderen in der Form der Vereinigung dreier Bestandteile (guṇa), geradeso wie die Bäume sich in dem Walde befinden [den sie bilden]«, und mit Anwendung desselben Gleichnisses im Sâmkhyasâra I. 332: »Der Ausdruck ›die Guṇas der Urmaterie‹ ist so zu verstehen, als wenn wir von den Bäumen des Waldes sprechen«.

Ich glaube nach keinen weiteren Belegstellen suchen zu brauchen, um zu beweisen, daß die auf die etymologische Bedeutung von Sattva, Rajas und Tamas ›Güte, Leidenschaft und Finsternis‹ sich gründende Übersetzung von trayo guṇâḥ mit ›drei Qualitäten‹ falsch ist und daß ich recht getan habe, in meinen Bearbeitungen der Sâmkhya-Texte anstatt dessen ›die drei Konstituenten [der Urmaterie‹] zu sagen33.

Windisch, der sich in seiner Rezension meiner Übersetzung des Sâmkhya-pravacana-bhâṣya34 mit dieser meiner[274] Auffassung noch nicht befreunden konnte, glaubte einen Ausweg in der Annahme zu finden, daß nach der Anschauung der Sâmkhyas die Urmaterie entsprechend ihrem transzendenten Charakter ›aus als Materie gedachten Qualitäten bestehe‹. So hatte schon früher Colebrooke35 gesagt: »These three qualities are not mere accidents of nature, but are of its essence and enter into its composition«; und Johaentgen36 hatte die drei »Qualitäten« geradezu als »Urstoffe« bezeichnet! In derselben Richtung bewegt sich auch Jacobis Anschauung. Schon in den Philosophischen Monatsheften XIII. 419 unten hatte Jacobi trayo guṇâḥ nicht »die drei Qualitäten«, sondern »die drei Aspekte« übersetzt. Wie wenig treffend aber dieser Ausdruck ist, der die drei Guṇas als etwas rein Subjektives erscheinen läßt, ergibt sich schon daraus, daß Jacobi gleich darauf genötigt ist, von dem »Gleichgewicht der drei Aspekte« zu sprechen. Er hat dann seine Anschauung ausführlicher in der Rezension der ersten Auflage dieses Buches dargelegt37, in geistreicher, aber doch nicht überzeugender Art, und zudem unter Nichtbeachtung des von mir oben angeführten Grundes, daß nämlich ›Bestandteil‹ die alte ursprüngliche Bedeutung von guṇa ist. Jacobi spricht seine Ansicht dahin aus, daß die Konzeption der drei Guṇas in eine Zeit zurückgehe, in der im Bewußtsein der Inder die Kategorie der Eigenschaft noch nicht scharf von der der Substanz gesondert gewesen sei; denn es könne nicht bezweifelt werden, daß in einem Entwicklungsstadium des menschlichen Denkens die Kategorie der Substanz derart dominierte, daß mit ihr sozusagen alles apperzipiert wurde. Das ist subjektive und auf die Art, wie Jacobi meint, nicht beweisbare Auffassung. Aber ich kann ihre Richtigkeit als möglich zugeben, muß aber ihre[275] Anwendbarkeit auf das Sâmkhya-System bestreiten. Wenn sie ja einmal vorhanden war, so war sie unklar und unlogisch, so daß wir sie dem Begründer und den Vertretern der Sâmkhya-Philosophie, des manana-śâstra (d.h. des auf logischer Erwägung und Begründung beruhenden Systems) κατ' ἐξοχήν nicht mehr zuschreiben dürfen. Wer überhaupt das Wort guṇa, wenn es zur Bezeichnung von Sattva, Rajas und Tamas dient, sachgemäß übersetzen will, wird sich der »Konstituenten« oder eines ähnlichen Ausdrucks bedienen müssen38.

Weder die etymologische39 noch irgendeine andere Übersetzung der Namen dieser drei Guṇas, Sattva, Rajas und Tamas, kann meines Erachtens den Anspruch erheben, auch nur irgendwie das Wesen der bezeichneten Dinge zu treffen. Dieses läßt sich nicht einmal in der Form einer[276] Definition beschreiben, sondern bedarf einer näheren Erläuterung. Der Begründer der Sâmkhya-Philosophie erkannte als die für den Menschen wichtigsten Eigenschaften aller Dinge, daß sie entweder Freude, Schmerz oder Gleichgiltigkeit (Apathie) erwecken. Jeder dieser drei Begriffe koordinierte sich in seiner Vorstellung mit anderen: die Freude mit Licht und Leichtheit40, der Schmerz mit Anregung und Beweglichkeit (Tätigkeit), die Apathie mit Schwere und Hemmung. Kapila folgerte nun, daß alles Materielle aus drei unterschiedenen Substanzen bestehe, deren jede sich vorzugsweise in den genannten Richtungen äußere. Diese drei Substanzen sind für ihn in jedem zu der Welt des Stoffes gehörigen Dinge enthalten, aber in ungleicher und wechselvoller Mischung; denn sie haben die Eigenschaft »sich gegenseitig zu unterdrücken, anzuregen, hervorzubringen und zu paaren«41. Je nachdem es nun einer oder zweien gelingt, an einem bestimmten Orte die dritte oder die beiden anderen zu unterdrücken, bringen sie ihr Wesen mehr oder weniger rein zur Geltung. »Aus dem mannigfaltigen Ergebnis des Kampfes der Guṇas geht die Mannigfaltigkeit der Produkte [d.h. der ganzen empirischen Welt] hervor«42; eben daraus wird auch die Fülle der verschiedenartigen Eindrücke erklärt. Die drei Guṇas bilden jede für sich wegen der Verschiedenheit ihrer Einzelformen (vyakti) eine unendliche Vielheit, und diese Einzelformen sind je nachdem von der größten, von geringerer oder von unendlich kleiner Ausdehnung43.[277]

Das Zusammenwirken der drei Substanzen wird von Vâcaspatimiśra zu Kârikâ 13: »Sattva gilt als leicht und erleuchtend, Rajas als anregend und beweglich, Tamas als schwer und hindernd« mit folgenden Worten veranschaulicht: »Die Qualität Leichtheit, die der Schwere entgegenwirkt, ist die Ursache für das Entstehen der Produkte. Dieselbe Leichtheit, infolge deren das Feuer aufwärts flackert, ist die Ursache für die wagerechte Bewegung mancher Dinge, wie z.B. des Windes. Ebenso ist die Leichtheit die Ursache dafür, daß die Organe für ihre Funktionen befähigt sind; denn wenn sie schwer wären, so würden sie träge und unfähig sein. Aus diesem Grunde [nämlich weil die inneren Organe und die Sinnesorgane erleuchten, d.h. die Erkenntnis hervorrufen,] ist das Sattva als erleuchtend bezeichnet Sattva und Tamas, die beide nicht von selbst tätig und deshalb nicht zur Ausübung ihrer eignen Geschäfte fähig sind, werden vom Rajas angeregt, d.h. von ihrer Unfähigkeit befreit und zur Wirksamkeit angetrieben ... Obwohl nun aber das Rajas seiner Beweglichkeit wegen allerwärts alle drei Guṇas [also auch sich selbst] in Belegung setzt, wirkt es doch nur hier und da wegen [des Einflusses] des schweren und hindernden Tamas, das dessen Tätigkeit bald hier bald dort hemmt. Deshalb wird das Tamas, weil es [das Rajas] von diesem und jenem abhält, als hindernd bezeichnet.«

Stellen wir nun die Eigenschaften und Wirkungen der drei Guṇas im einzelnen fest44.[278]

Das Sattva äußert sich, wenn es in dem Kampf mit den beiden anderen Guṇas zur freien Entfaltung kommt, in der Welt der Objekte, wie wir schon sahen, durch Licht und Leichtheit; im Subjekt dagegen als Tugend, Selbstbeherrschung, Gemütsruhe, Wohlwollen, Freundlichkeit des Wesens, Reinheit, Glück, Heiterkeit, Zufriedenheit, als Tätigkeit der Sinnesorgane und des Verstandes, als Erreichung der übernatürlichen Kräfte. Es dominiert deshalb in den Welten der Götter.

Bei dieser Gelegenheit muß ich die schon oben S. 226 angedeutete Vorstellung zur Sprache bringen, daß die Freude nicht nur als Empfindung in dem Innern des Individuums, sondern auch als etwas objektiv Reales in den Außendingen existiere. Dasselbe gilt im Prinzip natürlich auch von den Hauptwirkungen der beiden anderen Guṇas, dem Schmerz und der Apathie; doch wird dies nur beiläufig erwähnt. Die objektive Realität der Freude wird von Vijñânabhikṣu zu Sûtra V. 27 auf seine Weise syllogistisch bewiesen, und mehrfach45 führt er aus, daß wir ebenso wie von der Topffarbe (ghaṭa-rûpa), so auch von der Frauen-, Blumenkranz- oder Sandelholz-Freude (strî-, srak-, candana-sukha) sprechen und mithin annehmen müssen, daß die Freude und dergl.[279] den Objekten innewohne. Hall46 bemerkt hierzu: »Vijñâna is here a victim to phraseology on which, plainly enough, he did not reflect with sufficient attention. For ›jar-colour‹ means ›the colour of a jar‹; whereas ›sandal-pleasure‹ means ›the pleasure derived from the use of sandal‹«. Wenn auch Hall darin Recht hat, daß »such fallacies far from uncommon among the Pandits« sind, so darf doch die in Frage kommende Vorstellung weder auf eine mißverstandene Wortbildung zurückgeführt noch als individuelle Anschauung eines einzelnen Sâmkhya-Lehrers angesehen werden. Vielmehr liegt dieser Vorstellung der Gedanke zugrunde, daß das Wirken eines Guṇa – in unserem Falle des Freude erweckenden Sattva – in dem inneren Organ des Subjekts ein Korrelat in dem ebenfalls aus den drei Guṇas bestehenden Objekt haben müsse. Da gewisse Dinge bei allen Wesen entweder Freude oder Schmerz oder Bestürzung erregen, so konnte der an die Theorie der drei Guṇas Glaubende kaum umhin, das Vorwalten des betreffenden Guṇa in dem Objekte selbst anzunehmen.

Das Rajas äußert sich, wenn es die beiden anderen Guṇas unterdrückt, in der Welt der Objekte in Kraft und Bewegung; im Subjekt als jede Art von Schmerz, als Kummer, Sorge, Angst, Ärger, Unzufriedenheit, Abhängigkeit, als Eifersucht, Neid, Unstätheit, Aufregung, Leidenschaft, Begierde, Liebe und Haß, als Bosheit, Streit- und Tadelsucht, Ungestüm, Wildheit und Unfreundlichkeit des Benehmens, aber auch als Ehrgeiz, Streben und Tätigkeit. Es dominiert in der Menschenwelt.

Wenn das Tamas überwiegt, so kommt es in der Welt der Objekte als Schwere, Starrheit und Dunkel zur Geltung; im Subjekt als Niedergeschlagenheit, Furcht, Bestürzung, Verzweiflung, Teilnahmlosigkeit, Unentschlossenheit, Betörung, Stumpfsinn, Unwissenheit, Trunkenheit, Wahnsinn, Ekel, Trägheit, Nachlässigkeit, Bewußtlosigkeit, Schlaf und Ohnmacht,[280] als Hartherzigkeit, Schamlosigkeit, Liederlichkeit, Unreinheit, Schlechtigkeit im allgemeinen und Nihilismus47. Es dominiert im Tier-, Pflanzen- und Mineralreich48.

Die merkwürdigste Seite dieser ganzen Theorie ist, wie man sieht, die Zurückführung der menschlichen Individualität auf physische Ursachen. Das Verhältnis der drei Guṇas zu dem Glauben, der Gesinnung, der Lebens- und Handlungsweise des Menschen ist in dem siebzehnten und achtzehnten Gesänge der Bhagavadgîtâ geschildert, die wahrscheinlich eine spätere Zutat des Gedichts sind; doch würde ein näheres Eingehen auf diese Dinge zu weit von der Darstellung des eigentlichen Systems abführen.


Zu diesem ganzen Anschauungskreis stimmt auch die Lehre von der Entstehung der Farben durch die verschiedenartige Mischung der drei Guṇas. Wenn ich auch diese Theorie nicht aus der eigentlichen Literatur des Sâmkhya-Systems, sondern nur aus Nîlakaṇṭhas Kommentar zum Mahâbhârata nachweisen kann, so macht sie doch nicht den Eindruck einer späteren Erfindung. Nîlakaṇṭha sagt zu Mbh. XII. 10058: »Wenn das Tamas überwiegt, das Sattva gering ist und das Rajas die Mitte hält, so ergibt sich die Farbe Schwarz; bei Umkehrung des Verhältnisses von Sattva und Rajas Grau; wenn das Rajas überwiegt, das Sattva gering ist und das Tamas die Mitte hält, so ergibt sich Blau; bei Umkehrung des Verhältnisses von Sattva und Tamas Rot; wenn das Sattva überwiegt, das Rajas gering ist und das Tamas die Mitte hält, so ergibt sich[281] Gelb; bei Umkehrung des Verhältnisses von Rajas und Tamas Weiß«49.

Jede Erscheinung, jeder Vorgang in der materiellen Welt hat also seinen Grund in dem Wirken eines oder mehrerer Guṇas. Trotz der unendlichen Verschiedenheit der zahllosen Modifikationen läßt sich doch alles durch die Eigenschaften dieser drei Substanzen erklären. Wenn nun aber Sattva, Rajas und Tamas sich in allen materiellen Produkten befinden, so müssen sie nach dem Grundsatz, daß das Produkt nichts anderes als die materielle Ursache in einem bestimmten Entwicklungsstadium ist, auch bereits in dieser Ursache, d.h. in der Urmaterie vorhanden gewesen sein. Da schon der ersten Entfaltung der Urmaterie – d.h. der Buddhi – Freude, Schmerz und Apathie als charakteristische Eigentümlichkeiten angehören, so muß auch der Stoff, aus dem die Buddhi hervorgegangen ist, ebenso die charakteristischen Eigentümlichkeiten der Freude, des Schmerzes und der Apathie (in latentem Zustande) besitzen; denn die Qualitäten des Produkts müssen sich in Übereinstimmung mit den Qualitäten der materiellen Ursache befinden50.

Wenn also in den Sâmkhya-Schriften – was oftmals der Fall ist – die drei Guṇas in der Form der Ursache (kâraṇa-rûpa) den drei Guṇas in der Form des Produkts (kârya-rûpa) gegenübergestellt werden, so ist das so zu verstehen, daß Sattva, Rajas und Tamas in der ersten Form die unentfaltete Urmaterie, in der zweiten die entfaltete Welt bilden. Wie kann nun aber die unbegrenzte Urmaterie, deren Einheitlichkeit so entschieden betont wird, aus Teilen bestehen, aus drei begrenzten Substanzen? Darauf ist zunächst[282] zu erwidern, daß die drei Guṇas nur insofern begrenzt (parimita, paricchinna) sind, als das ganze Sattva, Rajas und Tamas sich nicht überall befindet; sie sind aber nicht in demselben Sinne begrenzt, wie ›Töpfe und dergleichen Produkte‹; denn es gibt keinen Punkt im Universum, an dem nicht wenigstens ein Minimum von jeder dieser drei Substanzen vorhanden ist, oder technisch ausgedrückt: »Sattva, Rajas und Tamas fallen nicht unter einen allgemeinen Begriff, der sie als positive Gegenstücke zu einem lokalen Nichtsein charakterisiert (daiśikâ–'bhâva-pratiyogitâ–'vacchedaka-jâti)«51. »Wenn jeder der drei Guṇas« – sagt Vijñânabhikṣu in seiner Einleitung zu Sûtra I. 128 – »eine geschlossene Einheit bildete, so könnte bei ihnen von einem Zu- und Abnehmen oder [von dem Siege des einen und dem Unterliegen der anderen] keine Rede sein, und ebensowenig wäre dann, da bei der Begrenztheit [der Guṇas] auch die durch ihre Vereinigung gebildete Urmaterie begrenzt sein müßte, die ... Lehre berechtigt, daß gleichzeitig zahllose Welten [und innerhalb dieser Welten zahllose verschiedenartige Dinge aus der Urmaterie hervorgehen].« Der Einwand, daß die einheitliche unteilbare Urmaterie überhaupt nicht aus drei Teilen bestehen könne, wird durch den Vergleich mit drei Flüssen, die nach ihrer Vereinigung einen einheitlichen Strom bilden, abgelehnt52. Ein europäischer Autor53 gebraucht anstatt dessen das Bild von dem einfachen farblosen Sonnenlicht, das durch die Vereinigung der farbigen Lichtstrahlen gebildet wird, die ihre Eigenart in dem von uns wahrgenommenen Licht verlieren oder nicht entfalten.

Die Urmaterie ist also im Sâmkhya-System »der Zustand des Gleichgewichts (sâmyâ–'vasthâ) von Sattva, Rajas und Tamas«54, d.h. der Zustand, in dem keiner der drei Guṇas[283] weniger oder mehr ist als jeder der beiden anderen, in dem sie in vollster Gleichmäßigkeit und ohne Beziehung zueinander verharren. Solange dieser Zustand des Gleichgewichts nicht gestört ist, bleibt die Urmaterie eine feine unterschiedslose Masse, in der alle die Kräfte und Eigenschaften, die in der entfalteten Welt zur Erscheinung kommen, keimartig ohne Betätigung ruhen.

Es ist klar, daß diese ganze Theorie der drei Guṇas eine reine Hypothese ist, die mit sehr vielen anderen philosophischen Hypothesen das Schicksal teilt, vor dem modernen Standpunkt der Naturwissenschaft nicht bestehen zu können; aber sie ist immerhin ein interessanter Erklärungsversuch, der für die Inder eine so überzeugende Kraft besessen hat, daß der Gedanke noch heute den allgemeinen philosophischen Vorstellungskreis beherrscht. Obwohl Śamkara die Lehre von den drei Guṇas mit der Begründung abgewiesen hat, daß es diesen »an einem bewegenden Prinzip fehlt, das sie aus der vorweltlichen sâmyâ–'vasthâ zum Zustande des vaiṣamya [der Gleichgewichtslosigkeit] treibt«55, hat sich doch der neuere Vedânta mit der Theorie vollständig befreundet.

27

Ihre frühesten Erwähnungen finden sich im Atharvaveda X. 8. 43, in Yâskas Nirukta XIV. 3 (im Pariśiṣṭa) und in den ersten der S. 32 aufgezählten Upaniṣads. Vgl. auch P. Regnaud, Matériaux pour servir à l'histoire de la philosophie de l'Inde II. 123-129.

28

Windisch hat (Lit. Centralblatt 1894, 1205, Buddhas Geburt 83) Wert darauf gelegt, daß in der Darstellung der Sâmkhyalehre, die Aśva-ghoṣa im XII. Adhyâya des Buddhacarita dem Ârâḍa Kâlâma in den Mund legt, die drei Guṇas nicht vorkommen. Er knüpft daran die Bemerkung, der ich nicht beipflichten kann: »An und für sich wäre auch ein Sâmkhyasystem ohne die drei Guṇas denkbar«; er schränkt jedoch diesen Satz in richtiger Weise ein: »Aber aus dem Umstände, daß sie im Buddhacarita nicht erwähnt werden, ist es noch nicht mit Gewißheit zu erschließen. Aśvaghoṣa hat nur angeführt, was er für seinen Zweck brauchte.« Vgl. dazu Oldenberg, Die Lehre der Upanishaden usw. 220 Anm. 1 am Schluß: »Daß ... die Spur einer alten Gestalt der Sâmkhyalehre ohne Guṇas in dem bekannten poetischen Bericht des Aśvaghosha über die Doktrin von Buddhas Lehrer Ârâḍa Kâlâma vorliege, muß ich ... durchaus bezweifeln.«

29

Gött. gel. Anz. 1895, 206.

30

In poetischen Werken, insbesondere in der Purâṇa-Literatur, scheint dagegen bei der Erwähnung der drei Guṇas hie und da die Bedeutung ›Qualität‹ mit der philosophisch-technischen zusammengeflossen zu sein.

31

Vgl. oben S. 217.

32

S. 12, Z. 2 von Halls Ausgabe.

33

Über die Entstehung dieser Bezeichnung aus dem Bilde des Strickes und seiner Strähnen s. oben S. 223. Die ältesten Belege für den Gebrauch des Wortes guṇa im Sinne von ›Qualität‹ sind nach dem PW. Lâṭyâyana Śrauta I. 1. 8 und Śâṅkhâyana Gṛhya I. 2. Also erst in der jüngeren Sûtra-Literatur tritt die Bedeutung ›Qualität‹ auf; bis dahin heißt guṇa durchaus ›Teil, Bestandteil, Strähne usw.‹

34

Lit. Centralblatt 1891, 955. In seiner Rezension der ersten Auflage des vorliegenden Werkes, ebendas. 1894, 1204, aber sagt er: »Man muß wohl zugeben, daß die Übersetzung ›Qualitäten‹ ihr Bedenkliches hat, und daß G.s Ausdruck ›die Konstituenten‹ glücklicher gewählt ist.«

35

Misc. Ess.2 I. 261.

36

Über das Gesetzbuch des Manu 39, 40.

37

Gött. gel. Anz. 1895, 203, 204.

38

In diesem Sinne haben sich übrigens schon mehrere Forscher, die sich mit dem Sâmkhya-System eingehender beschäftigt haben, ausgesprochen. H.H. Wilson, Sânkhya Kârikâ S. 52, 53 bemerkt: »In speaking of qualities, however, the term guṇa is not to be regarded as an insubstantial or accidental attribute, but as a substance discernible by soul through the medium of the faculties. It is, in fact, nature, or prakṛiti, in one of its three constituent parts or conditions, unduly prominent ... ›Ingredients or constituents of nature‹, therefore, would be a preferable term perhaps to ›quality‹.« (Vgl. hierzu Ballantyne, Christianity contrasted with Hindū philosophy 132 fg.) Ebenso Nîlakaṇṭha-Hall, Rational Refutation 43, 44: »And here it should be borne in mind, that it is not the goodness, passion, and darkness, popularly reckoned qualities or particular states of the soul, that are intended in the Sánkhya. In it they are unintelligent substances. Otherwise, how could they be the material cause of earth and like gross things?« Noch bestimmter drückt sich John Davies, Sânkhya Kârikâ, S. 36 aus: »They [d.h. the three guṇas] are not qualities, ... but the constituent elements of Nature (Prakṛiti)« und spricht mehrfach in der Folge von den »constituent or formative elements of Nature«. P. Markus in seiner Abhandlung über die Yoga-Philosophie sagt ›Essenzen‹, was zwar viel besser und richtiger ist als ›Qualitäten‹, aber doch nicht die eigentliche Stellung der drei Guṇas im System der Sâmkhya-Philosophie zur Vorstellung bringt.

39

S. oben S. 274.

40

Diese Koordinierung von Freude, Licht und Leichtheit scheint, nach einem in unseren Sâmkhya-Texten geläufigen Beispiel zu schließen, darauf zu beruhen, daß diese drei Eigenschaften gleichzeitig an der Feuerflamme zu beobachten sind, die 1. den Frierenden erwärmt, also Freude erzeugt, 2. leuchtet, 3. nach oben züngelt, also Leichtheit manifestiert.

41

Kârikâ 12.

42

Vijñ. zu Sûtra I. 127.

43

Vijñ. zu Sûtra I. 127, V. 90.

44

S. Maitrî Upaniṣad III. 5, das Pañcaśikha-Fragment bei Vijñ. zu Sûtra I 127, Kârikâ, 12, 13 und Sûtra I. 127, 128 nebst den dazu gehörigen Kommentaren, Sâmkhya-krama-dîpikâ (in Ballantynes Lecture) Nr. 39-41, 50-53; Colebrooke, Misc. Ess.2 I. 261, 267; P. Markus, Die Yoga-Philosophie 21, 22. Im zwölften Buch des Mahâbhârata werden mehrfach, aber nicht in übereinstimmender Art, die Eigenschaften der drei Guṇas aufgezählt: Mbh. XII. 7956-61, 8992-98, 11623-34. An der letztgenannten Stelle werden 30 Qualitäten des Sattva genannt, dagegen heißt dieses v. 13141 ›mit 18 Eigenschaften begabt‹ (aṣṭâdaśa-guṇa), was im Kommentar des Nîlakaṇṭha folgendermaßen erläutert wird: aṣṭâdaśa-guṇam sattvam ||

prîtiḥ prâkâśyam udreko laghutâ sukham eva ca |

akârpaṇyam asamrambhaḥ samtoṣaḥ śraddadhânatâ ||

kṣamâ dhṛtir ahimsâ ca śaucam akrodha eva ca |

ârjavam samatâ satyam anasûyâ tathai 'va ca ||

iti tat-tad-guṇo–'pâdhiḥ prîty-âdi-śabdito bhavatî 'ti gauṇa-nâma-nirva-canam. Die beiden Ślokas sind wohl Zitat (vgl. Mbh. XII. 11623 fg.). Auffallend ist, daß die Zahl 18 auch herauskommt, wenn man oben im Text die den Schriften des Sâmkhya-Systems entnommenen Eigenschaften des Sattva zusammenzählt. Die Eigenschaften selbst standen im einzelnen nicht ganz fest, aber die Zahl 18 scheint auf alter Tradition zu beruhen.

45

Zu Sûtra I. 65, 127 und im Sâmkhyasâra I. 3 (S. 16 der Ausgabe von Hall).

46

Rational Refutation 80 Anm.

47

nâstikya Maitr. Up. III. 5 und Sâmkhya-krama-dîpikâ Nr. 41 ist sowohl von Cowell als auch von Ballantyne fälschlich mit ›atheism‹ übersetzt worden; danach würde die Sâmkhya-Philosophie ein Erzeugnis des Tamas sein! Übrigens sind in der Stelle der Maitr. Up. verschiedene Eigenschaften als Äußerungen des Tamas genannt, die im System zu denen des Rajas gehören: Hunger, Durst, Zorn, Hochmut, Neid und Unbeständigkeit.

48

Kârikâ 54, Sûtra III. 48-50.

49

Yadâ tamasa âdhikyam sattva-rajasor nyûnatva-samatve, tadâ kṛṣṇo varṇaḥ, antyayor vaiparîtye dhûmraḥ; tathâ rajasa âdhikye sattva-tamasor nyûnatva-samatve nîla-varṇaḥ, antyayor vaiparîtye madhyam madhyamo varṇaḥ, tac ca raktam ..., sattvasyâ 'dhikye rajas-tamasor nyûnatva-samatve hâridraḥ pîta-varṇaḥ ..., antyayor vaiparîtye śuklam.

50

Vijñ. zu Sûtra I. 65; vgl. auch Kârikâ 11.

51

Vijñ. zu Sûtra I. 76, 130.

52

Vijñ. zu I. 61 Schluß.

53

John Davies, Sânkhya Kârikâ S. 37.

54

Sûtra I. 61, VI. 42; vgl. auch Vâcaspatimiśra zu Kârikâ 3 und Śamkara zum Brahmasûtra II. 2. 8.

55

Deussen bei Weber, Indische Studien XVII. 160.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 272-284.
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