3. Die Aufgabe der Seele.

[371] Bei seiner Besprechung der Lehre von der Seele sagt Barthélemy Saint-Hilaire folgendes16: »Si c'est la nature qui s'enchaîne et se délivre, si ce n'est plus l'âme; si c'est la nature qui agit, et si l'âme est si parfaitement inerte, j'avoue que je ne comprends plus pourquoi Kapila n'a pas complétement supprimé l'âme.« Barthélemy ist mithin nicht zum Verständnis der überaus wichtigen Aufgabe gelangt, die nach der Sâmkhya-Philosophie die Seele in dem empirischen Dasein des Individuums zu erfüllen hat; und merkwürdigerweise ist dies auch nicht einem so scharfsinnigen Forscher gelungen wie Fitz-Edward Hall17. Der Leser weiß[371] schon aus früheren Andeutungen, um was es sich handelt. Kapilas Auffassung der Seele bezweckt die Beantwortung[372] einer Frage, die vielleicht wissenschaftlich nie befriedigend beantwortet werden wird: wie entsteht und worauf beruht das Bewußtsein? Die Sâmkhya-Philosophie hat die Lösung dieses Problems in den von ihr angenommenen Beziehungen der Seele zu dem Innenorgan zu finden gemeint. Wenn das Innenorgan die von der Außenwelt dargebotenen Objekte durch Vermittlung der Sinne empfängt, so nimmt es die Form dieser Objekte an (arthâkâra, viṣayâkâra); es entsteht also ein Bild der Objekte in unserem Innern. Dies hat die verschiedenartigsten Folgen; es kann dadurch ein in dem inneren Organ ruhender Eindruck angeregt und so die Erinnerung an früher Erlebtes geweckt werden; die Bilder der Außenobjekte und die Erinnerung zusammen können abstrakte Schlußfolgerungen bewirken, aber auch Zuneigung, Abneigung, Freude, Schmerz, Begierde und andere Leidenschaften hervorrufen; diese hinwiederum können den Willen, die Entschließung zum Handeln rege machen und in eine bestimmte Richtung drängen. Alle diese mannigfaltigen Prozesse bestehen – ebenso wie einfache Wahrnehmungen – in Veränderungen oder Modifikationen (vikâra, pariṇâma) des Innenorgans, so daß dieses in jedem Augenblick eine andere Form annimmt. Die beständige Umgestaltung, die so an dem Innenorgan durch Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Wollen bewirkt wird, ist nun im Prinzip nichts anderes als der Wechsel und Wandel, der sich unablässig in der Außenwelt vollzieht; hier wie dort handelt es sich um rein materielle Veränderungen. Die Verschiedenheit der inneren Alterationen aber von allen anderen stofflichen Umgestaltungen beruht darin, daß sie einen scheinbar geistigen Charakter durch das auf sie fallende Licht des Bewußtseins erhalten. Zunächst könnte man denken, daß[373] das in der Buddhi befindliche und diese vorzugsweise bildende Sattva der Träger dieses Lichtes sei; ist doch das Wesen des Sattva als lichtartig oder erleuchtend (prakâśaka) geschildert. Diese Voraussetzung aber ist ein Irrtum: das Licht des Sattva ist nicht geistiger Natur, sondern nur eine Eigenschaft der Materie, zur Hervorbringung der mechanischen Denkfunktionen (jñâna-vṛtti) geeignet und berufen, aber unfähig das Bewußtsein hineinzutragen. Die Buddhi ist – um das unvermeidliche Beispiel unserer Texte zu gebrauchen – ebenso rein materiell (jaḍa) ›wie Töpfe und dergleichen‹, also ein Objekt18, dessen sich wohl ein anderer, das sich aber nicht seiner selbst bewußt werden kann. Das ›Aufleuchten‹19 der Buddhi muß mithin von einer anderen Stelle aus bewirkt werden, d.h., wie wir schon S. 368 sahen, von der Seele; denn das Objekt bedarf eines Subjekts, die Wahrnehmungs- und Denkfunktionen eines Zeugen (sâkṣin) oder Zuschauers (draṣṭṛ)20, die Gefühle und Affekte eines Genießers oder Empfinders (bhoktṛ)21.

Die Seele bringt also den jeweiligen Zustand der inneren Organe dadurch ins Bewußtsein, daß sie ›vermöge ihres bloßen Naheseins‹ ihr Licht auf sie wirft22. Welcher Art nun aber ist die Lichthaftigkeit der Seele? Sie ist ›ein mit Worten nicht zu beschreibendes Merkmal‹ (akhaṇḍopâdhi), sagt Vijñânabhikṣu23 mit Benutzung eines Ausdrucks der Nyâya-Philosophie; doch bietet er selbst uns ausführlichere Auslassungen, mit denen wir etwas weiter kommen. Sûtra I. 146 lehrt, daß das Licht nicht eine Eigenschaft der Seele sei, weil diese qualitätlos ist24. Hierzu gibt Vijñânabhikṣu folgende Erläuterungen: »Wenn [gefragt wird:] ›Welchen[374] Grund gibt es denn für die Qualitätlosigkeit [der Seele]?‹ so antworten wir: Erstens können die Wünsche und [Wahrnehmungen] der Seele nicht ewig angehören, weil man sieht, daß sie erzeugt werden; und wenn man [der Seele] erzeugte [also zeitweilige] Qualitäten zuschreiben wollte, so wäre damit die Veränderlichkeit [der Seele] gegeben25... Und wenn [die Seele] gelegentlich – durch eine Veränderung in den Zustand der Blindheit – der Möglichkeit ausgesetzt wäre, nicht-erkennend zu sein, so würde sich ein Zweifel hinsichtlich [der Wirklichkeit] der Erkenntnisakte, Wünsche usw. erheben.« Man hat also einen Beweis für die Beharrlichkeit des seelischen Lichtes in der Erwägung gefunden, daß wir gar keine Bürgschaft für die Wirklichkeit der Wahrnehmungen und inneren Vorgänge haben würden, wenn das Leuchten der Seele jemals eine Unterbrechung erleiden könnte. Dieser Gedanke wird von Vijñânabhikṣu noch näher an einer anderen Stelle26 ausgeführt, die ich der Wichtigkeit des Gegenstandes halber gleichfalls hierher setze:

»Die Unveränderlichkeit der Seele wird daraus erschlossen, daß diese zu jeder Zeit die [ihr von dem Innenorgan dargebotenen] Objekte erkennt. Denn also verhält es sich: gleichwie nur die Farbe das Objekt des Gesichtssinnes ist, [aber] nicht – auch bei gleicher Nähe – der Geschmack oder etwas anderes, ebenso ist das Objekt der Seele nur die Affektion des ihr zugehörigen Innenorgans ... Alles andere wird für die Seele zum Gegenstand des Genusses [d.h. der bewußten Erkenntnis oder Empfindung] nur dadurch, daß es in das affizierte Innenorgan Eingang findet, [aber] nicht von selbst; denn [sonst] müßte alles immerdar zur Erkenntnis gelangen. Diese Affektionen des Innenorgans nun bleiben niemals unerkannt [von der Seele];[375] denn wenn man annimmt, daß Denkprozesse, Wünschen, Freude u. dgl. [zuweilen] unerkannt bleiben [d.h. nicht zum Bewußtsein kommen] können, so würde hinsichtlich dieser [Vorgänge] geradeso gut wie z.B. bei einem [nicht deutlich wahrgenommenen] Topfe, ein Zweifel oder [Irrtum] folgender Art obwalten können: ›Erkenne ich oder nicht? freue ich mich oder nicht? usw.‹«

Es gibt also nach der Sâmkhya-Lehre keine unbewußt bleibenden inneren Vorgänge, weder Denkprozesse, noch Empfindungen oder Affekte; die Theorie des Unbewußten beschränkt sich auf die noch nicht zum Leben erweckten Eindrücke, die in der Buddhi hinterlassen sind, und die auf ihnen beruhenden Dispositionen27.

Wenn die Lichthaftigkeit keine Eigenschaft, kein Attribut der Seele sein kann, so bleibt nur die Annahme übrig, daß das Licht die Seele selbst sei, d.h. ihr Wesen ausmache28. Es ist dabei ohne weiteres klar, daß die Sâmkhya-Philosophie unter der Seele nicht eine wirklich leuchtende Substanz versteht, sondern daß sie sich nur eines Bildes – und zwar eines ganz vortrefflichen – bedient, um den Begriff des Geistes zu veranschaulichen29. Der Gebrauch dieses Bildes wird durchkreuzt durch den eines anderen, das in gleicher Weise die Unberührtheit des Geistes durch die inneren Affektionen und den eigenartigen Zusammenhang beider verdeutlichen soll. Die Seele wird nämlich auch einem Spiegel verglichen, in dem die inneren Organe reflektieren. Für beide Gleichnisse kommen dieselben Worte zur Verwendung: sowohl das Licht, das von der Seele auf die inneren Organe fällt, wie die Spiegelung der inneren Organe in der Seele wird mit den Worten ›Reflex, Abbild‹ (châyâ, pratibimba)[376] bezeichnet30. Das bewußte Erkennen, Empfinden, Wollen ist also – um in dieser Bildersprache zu reden – nichts anderes als der Reflex der betreffenden Innenorganaffektionen in der Seele, oder umgekehrt der Reflex der Seele in dem Innenorgan. Eines solchen Reflexes bedarf es auch zur Erkenntnis der Seele selbst, da diese ohne Hilfe des Innenorgans nichts erkennen kann. Wie bei der Wahrnehmung der Außendinge das Innenorgan ein Bild der Objekte in sich aufnimmt, so nimmt es in diesem Falle unter Ausschließung alles anderen ein Bild der Seele in sich auf Wenn die Seele sich so in dem Innenorgan abspiegelt bringt sie ihren Reflex und damit sich selbst zur bewußten Erkenntnis31.

Dieser Reflex oder dieses Reflektieren (châyâ–'patti, pratibimbana) gilt für illusorisch (mithyâ), womit nicht die Existenz geleugnet, sondern nur gesagt werden soll, daß der Vorgang nicht das ist, was er zu sein scheint, nämlich eine Affektion der Seele selbst. Wenn das Gleichnis von der roten Färbung des Kristalls durch eine ihm nahe gebrachte Hibiscus-Blüte gebraucht wird, so heißt diese Färbung (uparâga) gleichfalls ›illusorisch‹, weil sie nicht eine Veränderung in dem Kristall ist, die sie dem naiven Betrachter zu sein scheint32. Die gelegentlich gebrauchten Ausdrucke Assimilation der Seele an die Affektion des Innenorgans (puruṣe vṛtti-sârûpya)33 und ›Eintreten des Geistes in das Innenorgan‹ (cid-âveśa)34 sind nach allem dem nicht mehr mißzuverstehen: es gibt ebensowenig eine Materialisierung des Geistes wie eine Vergeistigung der Materie; beides ist scheinbar (iva)35. Der kurze Sinn der zahlreichen und ausführlichen Erläuterungen, die unsere Texte dem Verhältnis zwischen Seele und Innenorgan widmen, ist also, daß von[377] der geistigen Natur der Seele eine anregende, das Bewußtsein erzeugende Kraft aus strömt, ohne daß die Seele selbst dabei irgend etwas wirkt oder leidet.

16

Premier Mémoire 449, 450.

17

Rational Refutation 54 heißt es: »Attention should be paid to the circumstance that, in the Sânkhya, the term ›cognition‹ (jñana) denotes two distinct things. One of them is that which we all so denominate. This is really the apprehending of objects; and, to us, this alone deserves the name it bears ... But, again, the Sânkhyas apply the appellation of cognition to the soul itself, which they also style intelligence, the intelligent one, etc. Here, however, cognition is so but nominally, as it is not one with apprehension of objects. Cognition as denoting soul, it is laid down, is eternal ... That this cognition, by which the soul itself is intended, is cognition only in name etc.«

Es ist richtig, daß in unseren Sâmkhya-Texten mit dem Worte jñâna zwei verschiedene Dinge bezeichnet werden, 1. die unter dem Einfluß der Objekte entstehenden mechanischen Erkenntnisfunktionen der inneren Organe und 2. die objektlose Erkenntnis oder das Wesen der Seele, das gewöhnlich durch die Worte cit, citi, cetana, caitanya oder prakâśa benannt ist. Mißverständnisse sind übrigens dabei ausgeschlossen, da durch den Zusammenhang in jedem Falle vollkommen klar ist, in welcher der beiden Bedeutungen jñâna verstanden werden muß. Aber Hall befindet sich im Irrtum, wenn er meint, daß die objektive Erkenntnis nur eine nominelle Erkenntnis sei, bei der man sich gar nichts denken könne. Ich will es auf sich beruhen lassen, ob der indische Ausdruck (nirviṣaya jñâna) glücklich gewählt ist; aber darüber, was mit ihm gemeint ist, kann kein Zweifel sein. Die ewige objektlose Erkenntnis, die identisch ist mit dem Begriff der Seele, ist das Prinzip, das die an sich unbewußten vergänglichen Denkfunktionen zu bewußten macht; jñâna 1 wird erst durch jñâna 2 zu dem, was wir Erkenntnis nennen.

Ich sehe mich genötigt, noch auf eine andere Stelle der Rational Refutation einzugehen, an der ebenfalls die Unkenntnis der Aufgabe, die das Sâmkhya-System der Seele zuschreibt, zu einem völligen Mißverständnis der Terminologie und zur Erhebung eines unberechtigten Vorwurfs geführt hat. Wir lesen S. 99: »First, however, I must bestow a few words on the great error, committed by the Sânkhyas, of distinguishing between happiness and the like, and their experiences. Who is conscious of any such distinction? From experience of happiness deduct experience: can one then form any idea what happiness is by itself? Not at all. Consequently, all the qualities of the soul, to wit, cognition, will, activity, happiness, and so on, ought to be regarded as so many different sorts of experience; as was previously exemplified, in the case of will. Or, should there be some very nice distinction between happiness, or the like, and the experience of it, the two, at all events, are inseparable. It follows, that there is no foundation for the theory of separating cognition etc. from their experiences, on which the doctrine depends, that the internal organ is the subject of happiness and so forth, and that the soul is their experiencer.« Die Verhältnisse liegen hier genau so wie bei dem eben besprochenen Punkt, und der Unterschied, der zwischen Freude, Schmerz usw. einerseits und deren Empfindung (experience, bhoga) andererseits gemacht wird (z.B. bei Vijñ. zu I. 106), ist in dem Dualismus des Sâmkhya-Systems begründet. Unter Freude, Schmerz und dgl. sind die mechanischen Affektionen der inneren Organe, die als die materielle Basis solcher Gefühle gelten, zu verstehen; mit der Empfindung ist das Bewußtsein dieser Affektionen gemeint, das durch den Einfluß der Seele erklärt wird. Es handelt sich also in der Tat um zwei verschiedene Begriffe, und es wäre ein Mangel, wenn diese Verschiedenheit nicht so, wie es in den Sâm khya-Texten geschieht, zum Ausdruck gebracht würde.

18

Kârikâ 11.

19

S. in den Indices zu meinen Textausgaben unter bhâna, bhâs, pra-kâś und den Ableitungen von diesen beiden Wurzeln.

20

Kârikâ 19, Sûtra I. 161.

21

Kârikâ 17, Sûtra I. 143; vgl. auch oben S. 357.

22

Vijñ. zu Sûtra I. 17, 19, 99, II. 29 und sonst.

23

Zu I. 88, 145.

24

Vgl. S. 359.

25

Die Unveränderlichkeit der Seele wird auch zu II. 44 als Grund dafür angegeben, daß die Denkfunktionen der Seele selbst nicht angehören können.

26

Zu VI. 2; vgl. ferner seinen Kommentar zu I. 75, auch Yogasûtra IV. 17 (Bhojarâja, 18 Vyâsa) und P. Markus, Die Yoga-Philosophie 10.

27

S. oben S. 331 fg.

28

Sûtra I. 145 und oben S. 129 Anm. 2.

29

Daraus, daß diese Metapher nicht in der Kârikâ nachzuweisen ist, darf man kaum schließen, daß sie Îśvarakṛṣṇa noch nicht geläufig war. Die Kârikâ ist ein so kurzes Kompendium, daß naturgemäß nicht alle Einzelheiten in ihr erwähnt werden konnten.

30

S. die Indices zu meinen Textausgaben.

31

Sûtra VI. 49, 50.

32

Vijñ. zu Sûtra I. 1, 58, 87, 99, 104; Nîlakaṇṭha-Hall, Rational Refutation 51-66.

33

Vijñ. zu Sûtra I. 148.

34

Vijñ. zu Sûtra I. 99.

35

Kârikâ 20, Sûtra I. 164.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 371-378.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Samkhya-Philosophie
Die Samkhya-Philosophie; Eine Darstellung Des Indischen Rationalismus
Die Samkhya-Philosophie; Eine Darstellung Des Indischen Rationalismus
Die Samkhya-Philosophie; Eine Darstellung Des Indischen Rationalismus
Die Samkhya-Philosophie: Eine Darstellung des indischen Rationalismus

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.

226 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon