Schlußbetrachtung

[390] Die Zahl der Welträtsel hat sich durch die angeführten Fortschritte der wahren Naturerkenntnis im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universalrätsel zurückgeführt, auf das Substanzproblem. Was ist denn nun eigentlich im tiefsten Grunde dieses allgewaltige Weltwunder, welches der realistische Naturforscher als Natur oder Universum verherrlicht, der idealistische Philosoph als Substanz oder Kosmos, der fromme Gläubige als Schöpfer oder Gott? Können wir heute behaupten, daß die wunderbaren Fortschritte unserer modernen Kosmologie dieses »Substanzrätsel« gelöst oder auch nur, daß sie uns dessen Lösung sehr viel näher gebracht haben?

Die Antwort auf diese Schlußfrage fällt natürlich sehr verschieden aus, entsprechend dem Standpunkte des fragenden Philosophen und seiner empirischen Kenntnis der wirklichen Welt. Wir geben von vornherein zu, daß wir dem Innersten Wesen der Natur heute vielleicht noch ebenso fremd und verständnislos gegenüberstehen, wie Anaximander und Empedokles vor 2400 Jahren, wie Spinoza und Newton vor 200 Jahren, wie Kant und Goethe vor 100 Jahren. Ja, wir müssen sogar eingestehen, daß uns dieses eigentliche Wesen der Substanz immer wunderbarer und rätselhafter wird, je tiefer wir in die Erkenntnis ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindringen, je gründlicher wir ihre unzähligen Erscheinungsformen und deren Entwicklung kennen lernen. Was als »Ding an sich« hinter den erkennbaren Erscheinungen[390] steckt, das wissen wir auch heute noch nicht Aber was geht uns dieses mystische »Ding an sich« überhaupt an, wenn wir keine Mittel zu seiner Erforschung besitzen, wenn wir nicht einmal klar wissen, ob es existiert oder nicht? Überlassen wir daher das unfruchtbare Grübeln über dieses ideale Gespenst den »reinen Metaphysikern« und erfreuen wir uns statt dessen als »echte Physiker« an den gewaltigen realen Fortschritten, welche unsere monistische Naturphilosophie tatsächlich errungen hat.

Da überragt alle anderen Fortschritte und Entdeckungen des verflossenen »großen Jahrhunderts« das gewaltige, allumfassende Substanzgesetz, das »Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes«. Die Tatsache, daß die Substanz überall einer ewigen Bewegung und Umbildung unterworfen ist, stempelt dasselbe zugleich zum universalen Entwicklungsgesetz. Indem dieses höchste Naturgesetz festgestellt und alle anderen ihm untergeordnet wurden, gelangten wir zur Überzeugung von der universalen Einheit der Natur und der ewigen Geltung der Naturgesetze. Aus dem dunklen Substanzproblem entwickelte sich das klare Substanzgesetz. Der Monismus des Kosmos, den wir darauf begründen, lehrt uns die ausnahmslose Geltung der »ewigen, ehernen, großen Gesetze« im ganzen Universum. Damit zertrümmert derselbe aber zugleich die drei großen Zentraldogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens.

Viele von uns sehen gewiß mit lebhaftem Bedauern oder selbst mit tiefem Schmerze dem Untergange der Götter zu, welche unseren teueren Eltern und Voreltern als höchste geistige Güter galten. Wir trösten uns aber mit dem Worte des Dichters:

»Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,

Und neues Leben blüht aus den Ruinen!«

Die alte Weltanschauung des Idealdualismus mit ihren mystischen und anthropistischen Dogmen versinkt[391] in Trümmer; aber über diesem gewaltigen Trümmerfelde steigt hehr und herrlich die neue Sonne unseres Realmonismus auf, welche uns den wunderbaren Tempel der Natur voll erschließt. In dem reinen. Kultus des »Wahren, Guten und Schönen«, welcher den Kern unserer neuen monistischen Religion bildet, finden wir reichen Ersatz für die verlorenen anthropistischen Ideale von »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit«.

In der vorliegenden Behandlung der Welträtsel habe ich meinen konsequenten monistischen Standpunkt scharf betont und den Gegensatz zu der dualistischen, heute noch herrschenden Weltanschauung klar hervorgehoben. Ich stütze mich dabei auf die Zustimmung von fast allen modernen Naturforschern, welche überhaupt Neigung und Mut zum Bekenntnis einer abgerundeten philosophischen Überzeugung besitzen. Ich möchte aber von meinen Lesern nicht Abschied nehmen, ohne versöhnlich darauf hinzuweisen, daß dieser schroffe Gegensatz bei konsequentem und klarem Denken sich bis zu einem gewissen Grade mildert, ja selbst bis zu einer erfreulichen Harmonie gelöst werden kann. Bei völlig folgerichtigem Denken, bei gleichmäßiger Anwendung der höchsten Prinzipien auf das Gesamtgebiet des Kosmos – der organischen und anorganischen Natur - , nähern sich die Gegensätze des Theismus und Pantheismus, des Vitalismus und Mechanismus bis zur Berührung. Aber freilich, konsequentes Denken bleibt eine seltene Naturerscheinung! Die große Mehrzahl aller Philosophen möchte mit der rechten Hand das reine, auf Erfahrung begründete Wissen ergreifen, kann aber gleichzeitig nicht den mystischen, auf Offenbarung gestützten Glauben entbehren, den sie mit der linken Hand festhält. Charakteristisch für diesen widerspruchsvollen Dualismus bleibt der Konflikt zwischen der reinen und der praktischen Vernunft in der kritischen Philosophie des höchstgestellten neueren Denkers, des großen Immanuel Kant. Dagegen ist immer die Zahl derjenigen Denker[392] klein gewesen, welche diesen Dualismus tapfer überwanden und sich dem reinen Monismus zuwendeten. Das gilt ebensowohl für die konsequenten Idealisten und Theisten, wie für die folgerichtig denkenden Realisten und Pantheisten. Die Verschmelzung der anscheinenden Gegensätze, und damit der Fortschritt zur Lösung des fundamentalen Welträtsels, wird uns aber durch das stetig zunehmende Wachstum der Naturerkenntnis mit jedem Jahr näher gelegt. So dürfen wir uns denn der frohen Hoffnung hingeben, daß das zwanzigste Jahrhundert jene Gegensätze immer mehr ausgleichen und durch Ausbildung des reinen Monismus die ersehnte Einheit der Weltanschauung in weiten Kreisen verbreiten wird. Unser größter Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, hat dieser Einheitsphilosophie schon im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts den vollendetsten poetischen Ausdruck gegeben in seinen unsterblichen Dichtungen: Faust, Prometheus, Gott und Welt!


»Nach ewigen, ehernen

Großen Gesetzen

Müssen wir alle

Unseres Daseins

Kreise vollenden.«[393]

Quelle:
Ernst Haeckel: Gemeinverständliche Werke. Band 3, Leipzig und Berlin [o.J.], S. 390-394.
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