Vorwort zur ersten Auflage

[3] (1899)


Die vorliegenden Studien über monistische Philosophie sind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit suchenden Gebildeten aller Stände bestimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des neunzehnten Jahrhunderts gehört das lebendige Wachstum des Strebens nach Erkenntnis der Wahrheit in weitesten Kreisen. Dasselbe erklärt sich einerseits durch die ungeheueren Fortschritte der wirklichen Naturerkenntnis in diesem merkwürdigsten Abschnitte der menschlichen Geschichte, andererseits durch den offenkundigen Widerspruch, in den dieselbe zur gelehrten Tradition der übernatürlichen »Offenbarung« geraten ist, und endlich durch die entsprechende Ausbreitung und Verstärkung des vernünftigen Bedürfnisses nach Verständnis der unzähligen neu entdeckten Tatsachen, nach klarer Erkenntnis ihrer Ursachen.

Den gewaltigen Fortschritten der empirischen Kenntnisse in unserem »Jahrhundert der Naturwissenschaft« entspricht keineswegs eine gleiche Klärung ihres theoretischen Verständnisses und jene höhere Erkenntnis des kausalen Zusammenhanges aller einzelnen Erscheinungen, die wir mit einem Worte Philosophie nennen. Vielmehr sehen wir, daß die abstrakte und größtenteils metaphysische Wissenschaft, welche auf unseren Universitäten seit Jahrhunderten als »Philosophie« gelehrt wird, weit davon entfernt ist, jene neu erworbenen Schätze der Erfahrungswissenschaft in sich aufzunehmen. Und mit[3] gleichem Bedauern müssen wir auf der anderen Seite zugestehen, daß die meisten Vertreter der sogenannten »exakten Naturwissenschaft« sich mit der speziellen Pflege ihres engeren Gebietes, der Beobachtung und dem Versuche begnügen, dagegen die tiefere Erkenntnis des allgemeinen Zusammenhanges der beobachteten Erscheinungen – d.h. eben Philosophie! – für überflüssig halten. Während diese reinen Empiriker »den Wald vor Bäumen nicht sehen«, begnügen sich jene Metaphysiker mit dem bloßen Begriffe des Waldes, ohne seine Bäume zu sehen. Der Begriff der »Naturphilosophie«, in welchem ganz naturgemäß jene beiden Wege der Wahrheitsforschung, die empirische und die spekulative Methode, zusammenlaufen, wird sogar noch heute in weiten Kreisen beider Richtungen mit Abscheu zurückgewiesen.

Dieser unnatürliche und verderbliche Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, zwischen den Ergebnissen der Erfahrung und des Denkens, wird unstreitig in weiten gebildeten Kreisen immer lebhafter und schmerzlicher empfunden. Das bezeugt schon der wachsende Umfang der ungeheueren populären »naturphilosophischen« Literatur, die im Laufe des letzten halben Jahrhunderts entstanden ist. Das bezeugt auch die erfreuliche Tatsache, daß trotz jener gegenseitigen Abneigung der beobachtenden Naturforscher und der denkenden Philosophen dennoch hervorragende Männer der Wissenschaft aus beiden Lagern sich gegenseitig die Hand zum Bunde reichen und vereinigt nach der Lösung jener höchsten Aufgaben der Forschung streben, die wir kurz mit einem Wort als »die Welträtsel« bezeichnen.

Die Untersuchungen über diese »Welträtsel«, welche ich in der vorliegenden Schrift gebe, können vernünftigerweise nicht den Anspruch erheben, eine vollständige Lösung derselben zu bringen; vielmehr sollen sie nur eine kritische Beleuchtung derselben für weitere gebildete Kreise geben und die Frage[4] zu beantworten suchen, wie weit wir uns gegenwärtig deren Lösung genähert haben. Welche Stufe in der Erkenntnis der Wahrheit haben wir am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wirklich erreicht? Welche Fortschritte nach diesem unendlich entfernten und doch so unvergleichlich wichtigem Ziele haben wir im Laufe desselben wirklich gemacht?

Die unermeßliche Ausdehnung, welche das menschliche Wissen infolge fortgeschrittener Arbeitsteilung in unserem Jahrhundert erlangt hat, läßt es schon heute unmöglich erscheinen, alle Zweige desselben mit gleicher Gründlichkeit zu umfassen und ihren inneren Zusammenhang einheitlich darzustellen. Selbst ein Genius ersten Ranges, der alle Gebiete der Wissenschaft gleichmäßig beherrschte und der die künstlerische Gabe ihrer einheitlichen Darstellung in vollem Maße besäße, würde doch nicht imstande sein, im Raume eines mäßigen Bandes ein umfassendes allgemeines Bild des ganzen »Kosmos« auszuführen. Mir selbst, dessen Kenntnisse in den verschiedenen Gebieten sehr ungleich und lückenhaft sind, konnte hier nur die Aufgabe zufallen, den allgemeinen Plan eines solchen Weltbildes zu entwerfen und die durchgehende Einheit seiner Teile nachzuweisen, trotz sehr ungleicher Ausführung derselben. Das vorliegende Buch über die Welträtsel trägt daher auch nur den Charakter eines »Skizzenbuches«, in welchem Studien von sehr ungleichem Werte zu einem Ganzen zusammengefügt sind. Da die Niederschrift derselben zum Teil schon in früheren Jahren, zum anderen Teil aber erst in der letzten Zeit erfolgte, ist die Behandlung leider oft ungleichmäßig; auch sind mehrfache Wiederholungen nicht zu vermeiden gewesen; ich bitte, dieselben zu entschuldigen.

Indem ich hiermit von meinen Lesern mich verabschiede, spreche ich die Hoffnung aus, daß ich durch meine ehrliche und gewissenhafte Arbeit – trotz ihrer mir wohl bewußten Mängel – ein kleines Scherflein zur Lösung der »Welträtsel« beigetragen[5] habe, und daß ich im Kampfe der Weltanschauungen manchem ehrlichem und nach reiner Vernunfterkenntnis ringenden Leser denjenigen Weg gezeigt habe, der nach meiner festen Überzeugung allem zur Wahrheit führt, den Weg der empirischen Naturforschung und der darauf gegründeten monistischen Philosophie.[6]

Quelle:
Ernst Haeckel: Gemeinverständliche Werke. Band 3, Leipzig und Berlin [o.J.], S. 3-7.
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