II. Die unbewusste Vorstellung bei Ausführung der willkürlichen Bewegung

[62] Ich will meinen kleinen Finger heben, und die Hebung desselben findet statt. Bewegt etwa mein Wille den Finger direct? Nein, denn wenn der Armnerv durchschnitten ist, so kann der Wille ihn nicht bewegen. Die Erfahrung lehrt, dass es für jede Bewegung nur eine einzige Stelle giebt, nämlich die centrale Endigung der betreffenden Nervenfasern, welche im Stande ist, den Willensimpuls für diese bestimmte Bewegung dieses bestimmten Gliedes zu empfangen und zur Ausführung zu bringen. Ist diese eine Stelle beschädigt, so ist der Wille ebenso machtlos über das Glied, als wenn die Nervenleitung von dieser Stelle nach den betreffenden Muskeln unterbrochen ist. Den Bewegungsimpuls selbst können wir uns, abgesehen von der Stärke, für verschiedene zu erregende Nerven nicht füglich verschieden denken, denn da die Erregung in allen motorischen Nerven als gleichartig anzusehen ist, so ist es auch die Erregung am Centrum, von welcher der Strom ausgeht; mithin sind die Bewegungen nur dadurch verschieden, dass die centralen Endigungen verschiedener motorischer Fasern von dem Willensimpuls getroffen werden und dadurch verschiedene Muskelpartien zur Contraction genöthigt werden. Wir können uns also die centralen Endigungsstellen der motorischen Nervenfasern gleichsam als eine Claviatur im Gehirn denken; der Anschlag ist, abgesehen von der Stärke, immer derselbe, nur die angeschlagenen Tasten sind verschieden. Wenn ich also eine ganz bestimmte Bewegung, z.B. die Hebung des kleinen Fingers beabsichtige, so kommt es darauf an, dass ich diejenigen Muskeln zur Contraction nöthige, welche in ihrer combinirten Wirksamkeit diese Bewegung hervorbringen, und dass[62] ich zu dem Zweck denjenigen Accord auf der Claviatur des Gehirns mit dem Willen anschlage, dessen einzelne Tasten die betreffenden Muskeln in Bewegung setzen. Werden bei dem Accord eine oder mehrere falsche Tasten angeschlagen, so entsteht eine mit der beabsichtigten nicht correspondirende Bewegung, z.B. beim Versprechen, Verschreiben, Fehltreten, beim ungeschickten Greifen der Kinder u.s.w. Allerdings ist die Anzahl der centralen Faserendigungen im Gehirn bedeutend kleiner, als die der motorischen Fasern in den Nerven, indem durch eigenthümliche, in Cap. V. zu besprechende Mechanismen für die gleichzeitige Erregung vieler peripherischer Fasern durch Eine centrale Faser Sorge getragen ist; indessen ist doch die Anzahl der dem bewussten Willen unterworfenen, mithin vom Gehirn zu leitenden verschiedenen Bewegungen schon für jedes einzelne Glied durch tausend kleine Modificationen der Richtung und Combination gross genug, für den ganzen Körper aber geradezu unermesslich, so dass die Wahrscheinlichkeit unendlich klein sein würde, dass die bewusste Vorstellung vom Heben des kleinen Fingers ohne causale Vermittelung mit dem wirklichen Heben zusammenträfe. Unmittelbar kann offenbar die bloss geistige Vorstellung vom Heben des kleinen Fingers auf die centralen Nervenendigungen nicht wirken, da beide mit einander gar nichts zu thun haben; der blosse Wille als Bewegungsimpuls aber wäre absolut blind, und müsste daher das Treffen der richtigen Tasten dem reinen Zufall überlassen. Wäre überhaupt keine causale Verbindung da, so könnte die Hebung hierfür auch nicht das mindeste thun; denn niemand findet in seinem Bewusstsein eine Vorstellung oder ein Gefühl dieser unendlichen Menge von centralen Endigungen; also wenn zufällig einmal oder zweimal die bewusste Vorstellung des Fingerhebens mit der ausgeführten Bewegung zusammengetroffen wäre, so würde durchaus kein Anhalt für die Erfahrung des Menschen hieraus resultiren, und beim dritten Mal, wo er den Finger heben will, der Anschlag der richtigen Tasten ebensosehr dem Zufall überlassen bleiben, als in den früheren Fällen. Man sieht also, dass die Uebung nur dann für die Verknüpfung von Intention und Ausführung etwas thun kann, wenn eine causale Vermittelung beider vorhanden ist, bei welcher dann allerdings der Uebergang von einem zum andern Gliede durch Wiederholung des Processes erleichtert wird; es bleibt demnach unsere Aufgabe, diese causale Vermittelung zu finden; ohne dieselbe wäre Uebung ein leeres Wort. Ausserdem ist sie aber in den meisten Fällen gar nicht nöthig, nämlich bei fast allen Thieren,[63] die bei den ersten Versachen schon ebenso geschickt laufen und springen, als nach langer Hebung. Daraus geht auch zweitens hervor, dass alle Erklärungsversuche ungenügend sind welche eine solche causale Vermittelung einschieben, die nur durch zufällige Association von Vorstellung und Bewegung erkannt werden kann; z.B. das bewusste Muskelgefühl der intendirten Bewegung, das nur aus früheren Fällen gewonnen und dem Gedächtniss eingeprägt werden kann, könnte allenfalls für den Menschen als Erklärung gebraucht werden, aber nicht für den bei weitem grösseren Theil der Naturwesen, die Thiere, da sie vor jeder Erfahrung von Muskelgefühl schon die umfassendsten Bewegungscombinationen nach der bewussten Vorstellung des Zwecks mit staunenswerther Sicherheit ausführen; z.B. ein eben auskriechendes Insect, das seine sechs Beine so richtig in der Ordnung zum Gehen bewegt, als wenn es ihm gar nichts Neues wäre, oder eine eben auskriechende Brut Rebhühner die von einem Haushuhn im Stalle ausgebrütet, regelmässig trotz aller Vorsichtsmassregeln sofort die Bewegungsmuskeln ihrer Beine richtig dazu brauchen, um die Freiheit ihrer Eltern wieder zu erobern, auch ihren Schnabel vollständig so zum Aufpicken und Verzehren eines ihnen begegnenden Insects zu brauchen wissen, als ob sie dies schon hundert Mal gethan hätten.

Man könnte ferner daran denken, dass die Gehirnschwingungen der bewussten Vorstellung: »ich will den kleinen Finger heben«, an dem nämlichen Ort im Gehirn vor sich gehen, wo die Centralendigungen der betreffenden Nerven liegen; dies ist aber anatomisch falsch, da die bewussten Vorstellungen im grossen Gehirn, die motorischen Nervenendigungen aber im verlängerten Mark oder kleinen Gehirn liegen.A21 Ebenso wenig kann eine mechanische Fortleitung der Schwingungen der bewussten Vorstellung nach den Nervenenden eine Erklärung für das Anschlagen der richtigen Tasten bieten; man müsste denn gerade annehmen, dass die bewusste Vorstellung: »ich will meinen kleinen Finger heben«, an einer andern Stelle im grossen Gehirn vor sich geht, als die andere bewusste Vorstellung: »ich will meinen Zeigefinger beben«, und dass jede der Stellen des grossen Gehirns, welche einer besondern Vorstellung über irgend welche auszuführende Bewegung entspricht, durch einen angeborenen Mechanismus gerade nur mit der Centralendigung der zur Ausführung dieser Vorstellungen erforderlichen motorischen Nerven in Verbindung stehe. Die Consequenzen dieser sonderbaren Annahme wären noch sonderbarer; es müsste z.B. die bewusste Vorstellung: »ich[64] will die fünf Finger der rechten Hand heben« in den fünf Stellen des Grosshirns gleichzeitig vor sich gehen, welche den Einzelvorstellungen der fünf Fingerhebungen angehören, während man doch viel mehr geneigt sein dürfte, anzunehmen, dass die Vorstellungen, den oder die Finger Nr. so und so heben zu wollen, in dem materiellen Substrat des Denkens sich unter einander durch eine geringe Modification der Schwingungsform als durch fest abgegrenzte Bezirke unterscheiden werden. Wäre es ferner allein die Fortpflanzung der von einer solchen bewussten Vorstellung herrührenden Molecularschwingungen zu den Centralendigungen der motorischen Nerven, welche hinreichte, um die Bewegung auszulösen, so müsste eine solche bewusste Vorstellung: »ich will den kleinen Finger heben«, immer und allemal die Bewegung hervorrufen; nicht nur müsste bei solchem durch Fixirung und Isolirung der Leitungen hergestellten Mechanismus ein Fehlgreifen unmöglich sein, sondern es müsste dann auch jener unsagbare Impuls des Willens überflüssig sein, der, wie die Erfahrung lehrt, zu den Schwingungen jener bewussten Vorstellung erst noch hinzukommen muss, ehe eine Wirkung eintritt. Wo kein Fehlgreifen möglich wäre, wäre endlich auch kein sicherer- oder fester-Werden gleichviel durch welche Einflüsse denkbar, es könnte also auch die Hebung keinen Einfluss auf die causale Vermittelung zwischen bewusster Vorstellung und ausgeführter Bewegung haben. Diese Folgerung widerspricht aber der Erfahrung ebenso wie die Unmöglichkeit des Fehlgreifens, und discreditirt daher rückwärts die Hypothese eines Leitungsmechanismus. Gesetzt aber wirklich, es gäbe einen solchen Mechanismus, so würde der Materialismus weiter annehmen müssen, dass er ererbt, und in irgend welchen früheren Vorfahren allmählich durch Uebung und Gewohnheit entstanden sei. Bei dieser Entstehungsgeschichte aber würde bei dem jedesmal entstehenden Theil dieses Mechanismus das Problem der Möglichkeit einer causalen Verknüpfung zwischen bewusster Vorstellung und Ausführung der Bewegung doch wiederum in der Gestalt auftauchen, wie wir es jetzt vor uns haben, nämlich ohne Hülfe eines schon bestehenden Mechanismus für den gegebenen Fall. Die Theorie der Leitungsmechanismen würde also doch unser Problem nur nach rückwärts verschieben, nicht lösen, und die unten gegebene Lösung würde selbst dann, wenn jene Theorie richtig wäre, die einzig mögliche sein.

Um endlich noch einmal auf das Einschieben des Muskelgefühls der intendirten Bewegung aus der Erinnerung früherer Fälle von zufälliger[65] Association zurückzukommen, so zeigt sich diese Erklärung nicht nur einseitig und unzulänglich, weil sie höchstens den Anspruch machen könnte, die Möglichkeit der Uebung und Vervollkommnung bei einer bereits bestehenden causalen Verbindung, aber nicht diese selbst erklären zu wollen, sondern weil sie in der That auch nicht einmal jene erklärt, sondern auch nur das Problem um eine Stufe verschiebt. Vorher nämlich sah man nicht ein, wie das Treffen der richtigen Gehirntasten durch den Willensimpuls, durch die Vorstellung des Fingerhebens bewirkt werden soll; jetzt sieht man nicht ein, wie dasselbe durch die Vorstellung des Muskelgefühls im Finger und Unterarm bewirkt werden soll, da das Eine mit der Lage der motorischen Nervenendigungen im Gehirn so wenig etwas zu thun hat, wie das Andere; auf diese kommt es aber an, wenn der richtige Erfolg eintreten soll. Was soll eine Vorstellung, die sich auf den Finger bezieht, für die Auswahl des im Gehirn vom Willen anzuregenden Punctes für einen directen Nutzen haben? Dass die Vorstellung des Muskelgefühls bisweilen, aber verhältnissmässig selten, vorhanden ist, leugne ich keineswegs; dass sie, wenn sie vorhanden ist, eine vermittelnde Uebergangsstufe zur Bewegung sein kann, leugne ich ebenso wenig, aber das leugne ich, dass für das Verständniss der gesuchten Verbindung mit dieser Einschaltung etwas gewonnen ist, – das Problem ist nach wie vor da, nur um einen Schritt verschoben. Diese Einschaltung hat übrigens um so weniger Bedeutung, als in der grössten Zahl der Fälle, wo dies Muskelgefühl vor der Bewegung überhaupt existirt, es unbewusst existirt.A22

Fassen wir noch einmal zusammen, was wir über das Problem wissen, dann wird die Lösung sich von selbst aufdrängen. Gegeben ist ein Wille, dessen Inhalt die bewusste Vorstellung des Fingerhebens ist; erforderlich als Mittel zur Ausführung ein Willensimpuls auf den bestimmten Punct P im Gehirn; gesucht die Möglichkeit, wie dieser Willensimpuls gerade nur den Punct P und keinen andern treffe. Eine mechanische Lösung durch Fortpflanzung der Schwingungen erschien unmöglich, die Uebung vor der Lösung des Problems ein leeres, sinnloses Wort, die Einschaltung des Muskelgefühls als bewussten causalen Zwischengliedes einseitig und nichts erklärend. Aus der Unmöglichkeit einer mechanischen materiellen Lösung folgt, dass die Zwischenglieder geistiger Natur sein müssen, aus dem entschiedenen Nichtvorhandensein genügender bewusster Zwischenglieder folgt, dass dieselben unbewusst sein müssen. Aus der Nothwendigkeit eines Willensimpulses auf den Punct P folgt,[66] dass der bewusste Wille, den Finger zu heben, einen unbewussten Willen, den Punct P zu erregen, erzeugt, am durch das Mittel der Erregung von P den Zweck des Fingerhebens zu erreichen; und der Inhalt dieses Willens, P zu erregen, setzt wiederum die unbewusste Vorstellung des Punctes P voraus (vgl. Cap. A. IV). Die Vorstellung des Punctes P kann aber nur in der Vorstellung seiner Lage zu den übrigen Puncten des Gehirns bestehen, und hiermit ist das Problem gelöst: »jede willkürliche Bewegung setzt die unbewusste Vorstellung der Lage der entsprechenden motorischen Nervenendigungen im Gehirn voraus.« Jetzt ist auch begreiflich, wie den Thieren ihre Fertigkeit angeboren ist, es ist ihnen eben jene Kenntniss und die Kunst ihrer Anwendung angeboren, während der Mensch in Folge seines bei der Geburt noch unreifen und breiigen Gehirns erst allmählich durch längere Uebung dazu gelangt, die angeborene unbewusste Kenntniss zur sichern Fertigkeit der Innervation zu verwerthen. Jetzt ist auch verständlich, wie das Muskelgefühl bisweilen als Zwischenglied auftreten kann; es verhält sich nämlich die Erregung dieses Muskelgefühls zum Heben des Fingers auch wie Mittel zum Zweck, jedoch so, dass es der Vorstellung der Erregung des Punctes P schon eine Stufe näher steht, als die Vorstellung des Fingerhebens; es ist also ein Zwischenmittel, was eingeschoben werden kann, aber noch besser übersprungen wird.A23

Wir haben also als feststehendes Resultat zu betrachten, dass jede noch so geringfügige Bewegung, sei dieselbe aus bewusster oder unbewusster Intention entsprungen, die unbewusste Vorstellung der zugehörigen centralen Nervenendigungen und den unbewussten Willen der Erregung derselben voraussetzt. Hiermit sind wir zugleich über die Resultate des ersten Capitels weit hinaus gegangen. Dort (vgl. S. 59) war nur von relativ Unbewusstem die Rede; dort sollte der Leser nur an den Gedanken gewöhnt werden, dass geistige Vorgänge innerhalb seiner (als eines einheitlichen geistig-leiblichen Organismus) existiren, von denen sein Bewusstsein (d.h. sein Hirnbewusstsein) nichts ahnt; jetzt aber haben wir geistige Vorgänge angetroffen, die, wenn sie im Gehirn nicht zum Bewusstsein kommen, für die anderen Nervencentra des Organismus erst recht nicht bewusst werden können, wir haben also etwas für das ganze Individuum Unbewusstes gefunden.A24[67]

A21

S. 64 Z. 28. Wenn schon neuere Untersuchungen gezeigt haben, dass auch in gewissen Theilen der Grosshirnhemisphären motorische Nervenendigungen liegen, so werden dadurch doch die folgenden, für sich allein schwer genug wiegenden Argumente nicht alterirt.

A22

S. 66 Z. 25. Damit eine Bewegung correct, d.h. in dem richtigen Intensitätsverhältniss aller ihrer Componenten erfolgen könne, muss eine deutliche Empfindung von der Lage der betreffenden Körpertheile nicht nur beim Beginn der Bewegung, sondern auch während der auf einander folgenden Momente der Ausführung vorhanden sein; hierzu ist aber erforderlich, dass sowohl der Tastsinn als auch der Muskelsinn (oder das Muskelbewegungsgefühl) correct functioniren. Erst wenn die richtige Empfindung von der jeweiligen Lage der Theile gegeben ist (diese Empfindung braucht übrigens nicht im Grosshirn stattzufinden, sondern wird gewöhnlich nur im Kleinhirn, den Sehhügeln oder Streifenhügeln ihr materielles Substrat haben), erst dann kann der Grad der motorischen Innervation richtig bemessen, und durch Vergleich des wahrgenommenen Muskelbewegungsgefühls während der nahezu vollendeten Bewegung mit dem durch die Vorstellung anticipirten Muskelgefühl controlirt, d.h. während der Action verstärkt oder gehemmt oder modificirt werden. So kann allerdings das durch die Vorstellung anticipirte Muskelgefühl (aber nur durch den controlirenden Vergleich mit dem vor und während der Bewegung wahrgenommenen Muskelgefühl) als Regulator der Bewegung dienen, aber der Regulator ist etwas anderes als das erzeugende oder treibende Moment, und als dasjenige, was den Innervationsimpuls auf bestimmte Nervenendigungen lenkt, also die Qualität der Bewegung bestimmt. Maudsley nennt letzteres Moment »Bewegungsanschauung«, unterscheidet dieselbe (Physiologie und Pathologie der Seele, deutsch von Böhm, S. 183) ebensowohl von der bewussten Vorstellung der beabsichtigten Bewegung als von dem Muskelgefühl, und nimmt an, dass das receptive Muskelgefühl zwar zu ihrer Entstehung und Ausbildung nothwendig sei (beim Menschen vielleicht, bei Thieren gewiss nicht), dass es aber weder für die latente Existenz noch für die active Function der Bewegungsanschauung nothwendig sei, insofern die nothwendige Regulation an Stelle des Muskelsinns durch einen anderen Sinn, z.B. den Gesichtssinn, besorgt wird (vgl. oben im »Anhang« S. 410-411). Maudsley hält das Dazwischentreten der Bewegungsanschauungen für ebenso unerlässlich bei der auf eine Sinneswahrnehmung erfolgenden Reflexaction wie bei der willkürlichen Bewegung nach einer bewussten Vorstellung und betrachtet es als selbstverständlich, dass diese Bewegungsanschauungen unbewusste seien (Phys. u. Path. d. Seele S. 177 u. 187), er versteht aber unter den letzteren nur moleculare Prädispositionen, die ohne Bewusstsein functioniren, wenigstens ohne in das Bewusstsein der Grosshirnhemisphären zu fallen (S. 187). Dass solche Prädispositionen bei dem Zustandekommen der willkürlichen Bewegung an den verschiedensten Stellen der Centralorgane des Nervensystems mitwirken, ist natürlich nicht zu bestreiten; entfaltet doch bei der so complicirten Action einer Fingerhebung jede Nervenfaser und jede Ganglienzelle, welche von dem vom Grosshirn ausgehenden Innervationsstrom durchflossen wird, ihre eigenthümlichen ererbten oder erworbenen Molecularprädispositionen, – und erst durch solche Betheiligung der untergeordneten Nervencentra auch bei den willkürlichen Bewegungen wird es möglich, dass ein vom Grosshirn ausgehender einfacher Innervationsimpuls ein so complicirtes Resultat zweckmässig zusammengesetzter Muskelactionen auslösen kann. Die Hauptschwierigkeit bleibt nur immer die, wie die Vorstellungszellen in den grossen Hemisphären es anfangen, je nach dem idealen Inhalt der betreffenden Vorstellungen Innervationsimpulse auszusenden, welche nicht nur durch die Intensität und Qualität der Innervation, sondern auch durch die verschiedene Richtung der Aussendung sich unterscheiden, insofern nämlich die Endigungen der in jedem Fall zu treffenden Faserzüge an verschiedenen Stellen des Grosshirns zu suchen sind. Es ist der Umsatz des idealen Vorstellungsinhalts (der Worte: »kleiner Finger« oder »Zeigefinger«) in die mechanische Action, an der alle mechanistische Erklärung ewig scheitern wird.

A23

S. 67 Z. 16 v. u. Vgl. hierzu oben S. 387-391 und Theil III. S. 184-185, 190-191 (Anm. Nr. 95-99) und S. 504. Vgl. auch oben S. 119-120 und den Zusatz zu S. 120 Z. 12, S. 448-449.

A24

S. 67 letzte Z. Die Bedeutung dieses kleinen Capitels ist vielfach überschätzt worden, weil es zufällig nahe am Anfang steht. So wenig ich die Einwendungen der Gegner stichhaltig finden kann, so geringfügig scheint mir seine Beweiskraft. Bei dem Grade unserer Unkenntniss über die fraglichen Zusammenhänge wäre es offenbar das Einfachste gewesen, dieses kleine Capitel in den späteren Auflagen einfach zu streichen, wenn ich dadurch nicht dem im Vorwort zur siebenten Auflage entwickelten Grundsatz widersprochen hätte, nur Zusätze, aber keine Aenderungen vorzunehmen, damit der Leser jeder Auflage das ganze Material zur Hand hat. Am wenigsten hat dieses Capitel die Aufgabe, für sich allein die Existenz von absolut unbewussten Vorstellungen grundlegend zu beweisen, wenngleich ich die hier in Betracht kommenden Vorstellungen als das erste zufällig aufgestossene Beispiel von absolut unbewussten Vorstellungen gekennzeichnet habe. Die Nothwendigkeit der Hypothese von absolut unbewusster Geistesthätigkeit hinter der relativ unbewussten entspringt nicht aus einem einzelnen Beispiel, sondern aus dem ganzen Gange der Untersuchung. Sie verdunkelt sich am leichtesten in jenen mittleren Gebieten, wo das Individualbewusstsein schon eine gewisse Entfaltung erlangt hat; sie tritt dagegen am deutlichsten hervor einerseits auf den untersten Stufen des Seelenlebens (Protoplasma und Atom), wo das Bewusstsein noch zu unentwickelt ist, um ihm teleologische Leistungen zutrauen zu können, und andererseits auf der höchsten Stufe des absoluten Geistes, oder der Thätigkeit des all-einen Weltwesens.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 62-68.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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