a. Der Raum
§ 254

[41] Die erste oder unmittelbare Bestimmung der Natur ist die abstrakte Allgemeinheit ihres Außersichseins, – dessen vermittlungslose Gleichgültigkeit, der Raum. Er ist das ganz ideelle Nebeneinander, weil er das Außersichsein ist, und schlechthin kontinuierlich, weil dies Außereinander noch ganz. abstrakt ist und keinen bestimmten Unterschied in sich hat.

Es ist vielerlei über die Natur des Raums von je vorgebracht worden. Ich erwähne nur der Kantischen Bestimmung, daß er wie die Zeit eine Form der sinnlichen Anschauung[41] sei. Auch sonst ist es gewöhnlich geworden, zugrunde zu legen, daß der Raum nur als etwas Subjektives in der Vorstellung betrachtet werden müsse. Wenn von dem abgesehen wird, was in dem Kantischen Begriffe dem subjektiven Idealismus und dessen Bestimmungen angehört, so bleibt die richtige Bestimmung übrig, daß der Raum eine bloße Form, d.h. eine Abstraktion ist, und zwar die der unmittelbaren Äußerlichkeit. – Von Raumpunkten zu sprechen, als ob sie das positive Element des Raums ausmachten, ist unstatthaft, da er um seiner Unterschiedslosigkeit willen nur die Möglichkeit, nicht das Gesetztsein des Außereinanderseins und Negativen, daher schlechthin kontinuierlich ist; der Punkt, das Fürsichsein, ist deswegen vielmehr die und zwar in ihm gesetzte Negation des Raums. – Die Frage wegen der Unendlichkeit des Raums entscheidet sich gleichfalls hierdurch (§ 100 Anm.). Er ist überhaupt reine Quantität, nicht mehr nur dieselbe als logische Bestimmung, sondern als unmittelbar und äußerlich seiend. – Die Natur fängt darum nicht mit dem Qualitativen, sondern mit dem Quantitativen an, weil ihre Bestimmung nicht wie das logische Sein das Abstrakt-Erste und Unmittelbare, sondern wesentlich schon das in sich Vermittelte, Äußerlich- und Anderssein ist.
[42]

§ 255

Der Raum hat, als an sich Begriff, überhaupt dessen Unterschiede an ihm, [und zwar] α) unmittelbar in seiner Gleichgültigkeit als die bloß verschiedenen, ganz bestimmungslosen drei Dimensionen.

Die Notwendigkeit, daß der Raum gerade drei Dimensionen hat, zu deduzieren, ist an die Geometrie nicht zu fordern, insofern sie nicht eine philosophische Wissenschaft ist und ihren Gegenstand, den Raum mit seinen allgemeinen Bestimmungen, voraussetzen darf. Aber auch sonst wird an das Aufzeigen dieser Notwendigkeit nicht gedacht. Sie beruht auf der Natur des Begriffs, dessen Bestimmungen aber in dieser ersten Form des Außereinander, in der abstrakten Quantität, ganz nur oberflächlich und ein völlig leerer Unterschied sind. Man kann daher nicht sagen, wie sich Höhe, Länge und Breite voneinander unterscheiden, weil sie nur unterschieden sein sollen, aber noch keine Unterschiede sind, es ist völlig unbestimmt, ob man eine Richtung Höhe, Länge oder Breite nennt. – Die Höhe hat ihre nähere Bestimmung an der Richtung nach dem Mittelpunkte der Erde; aber diese konkretere Bestimmung geht die Natur des Raums für sich nichts an. Jene vorausgesetzt, ist es auch noch gleichgültig, dieselbe Richtung Höhe oder Tiefe zu nennen, so wie für Länge und für Breite, die man oft auch Tiefe heißt, nichts dadurch bestimmt ist.


§ 256

β) Aber der Unterschied ist wesentlich bestimmter, qualitativer Unterschied. Als solcher ist er 1. zunächst die Negation des Raums selbst, weil dieser das unmittelbare unterschiedslose Außersichsein ist, der Punkt. 2. Die Negation ist aber Negation des Raums, d.i. sie ist selbst räumlich; der Punkt als wesentlich diese Beziehung, d.i. als sich aufhebend, ist die Linie, das erste Anders –, d.i. Räumlichsein des Punktes; 3. die Wahrheit des Andersseins ist aber die Negation der[44] Negation. Die Linie geht daher in Fläche über, welche einerseits eine Bestimmtheit gegen Linie und Punkt, und so Fläche überhaupt, andererseits aber die aufgehobene Negation des Raums ist, somit Wiederherstellung der räumlichen Totalität, welche nunmehr das negative Moment an ihr hat; – umschließende Oberfläche, die einen einzelnen ganzen Raum absondert.

Daß die Linie nicht aus Punkten, die Fläche nicht aus Linien besteht, geht aus ihrem Begriffe hervor, da die Linie vielmehr der Punkt als außer sich seiend, nämlich sich auf den Raum beziehend und sich aufhebend, die Fläche ebenso die aufgehobene, außer sich seiende Linie ist. – Der Punkt ist hier als das Erste und Positive vorgestellt und von ihm ausgegangen worden. Allein ebenso ist umgekehrt, insofern der Raum in der Tat dagegen das Positive ist, die Fläche die erste Negation und die Linie die zweite, die aber, als die zweite, ihrer Wahrheit nach sich auf sich beziehende Negation, der Punkt ist; die Notwendigkeit des Übergangs ist dieselbe. An die Notwendigkeit dieses Übergangs wird nicht gedacht in dem äußerlichen Auffassen und Definieren des Punkts, der Linie usf.; doch vorgestellt, aber als etwas Zufälliges, wird jene erste Art des Übergehens in der Definitionsweise, daß, wenn der Punkt sich bewege, die Linie entstehe, usf. Die weiteren Figurationen des Raumes, welche die Geometrie betrachtet, sind fernere qualitative Begrenzungen einer Raumabstraktion, der Fläche, oder eines begrenzten ganzen Raums. Es kommen darin auch Momente der Notwendigkeit vor, daß z.B. das Dreieck die erste geradlinige Figur ist, daß alle anderen Figuren auf sie oder auf das Quadrat zurückgeführt werden müssen, wenn sie bestimmt werden sollen, und dergleichen. – Das Prinzip dieser Zeichnungen ist die Verstandesidentität, welche die Figurationen zur Regelmäßigkeit bestimmt und damit die Verhältnisse begründet, welche dadurch zu erkennen möglich wird.[45]

Im Vorbeigehen kann bemerkt werden, daß es ein sonderbarer Einfall Kants war, zu behaupten, die Definition der geraden Linie, daß sie der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten sei, sei ein synthetischer Satz; denn mein Begriff vom Geraden enthalte nichts von Größe, sondern nur eine Qualität. In diesem Sinne ist jede Definition ein synthetischer Satz; das Definitum, die gerade Linie, ist nur erst die Anschauung oder Vorstellung, und die Bestimmung, daß sie der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten sei, macht erst den Begriff aus (wie er nämlich in solchen Definitionen erscheint, s. § 229). Daß der Begriff nicht schon in der Anschauung vorhanden ist, ist der Unterschied von beiden, der die Forderung einer Definition herbeiführt. Daß aber jene Definition analytisch ist, erhellt leicht, indem die gerade Linie sich auf die Einfachheit der Richtung reduziert, die Einfachheit aber, in Beziehung auf Menge genommen, die Bestimmung der geringsten Menge, hier des kürzesten Weges, gibt.[46]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 9, Frankfurt a. M. 1979, S. 41-47.
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