§ 272

[432] Die Verfassung ist vernünftig, insofern der Staat seine Wirksamkeit nach der Natur des Begriffs in sich unterscheidet und bestimmt, und zwar so, daß jede dieser Gewalten selbst in sich die Totalität dadurch ist, daß sie die anderen Momente in sich wirksam hat und enthält und daß sie, weil sie den Unterschied des Begriffs ausdrücken, schlechthin in seiner Idealität bleiben und nur ein individuelles Ganzes ausmachen.

Es ist über Verfassung wie über die Vernunft selbst in neueren Zeiten unendlich viel Geschwätze, und zwar in Deutschland das schalste durch diejenigen in die Welt gekommen, welche sich überredeten, es am besten und selbst mit Ausschluß aller anderen und am ersten der Regierungen zu verstehen, was Verfassung sei, und die unabweisliche Berechtigung darin zu haben meinten, daß die Religion und die Frömmigkeit die Grundlage aller dieser ihrer Seichtigkeiten sein sollte. Es ist kein Wunder, wenn dieses Geschwätze die Folge gehabt hat, daß vernünftigen Männern die Worte Vernunft, Aufklärung, Recht usf. wie Verfassung und Freiheit ekelhaft geworden sind und man sich schämen möchte, noch über politische Verfassung auch mitzusprechen. Wenigstens aber mag man von diesem Überdrusse die Wirkung hoffen, daß die Überzeugung allgemeiner werde, daß eine philosophische Erkenntnis solcher Gegenstände nicht aus dem Räsonnement, aus Zwecken, Gründen und Nützlichkeiten, noch viel weniger aus dem Gemüt, der Liebe und der Begeisterung, sondern allein aus dem Begriffe hervorgehen könne und daß diejenigen, welche das Göttliche für unbegreiflich und die Erkenntnis des Wahren für ein nichtiges Unternehmen[432] halten, sich enthalten müssen, mitzusprechen. Was sie aus ihrem Gemüte und ihrer Begeisterung an unverdautem Gerede oder an Erbaulichkeit hervorbringen, beides kann wenigstens nicht die Prätention auf philosophische Beachtung machen.

Von den kursierenden Vorstellungen ist, in Beziehung auf den § 269, die von der notwendigen Teilung der Gewalten des Staats zu erwähnen, – einer höchst wichtigen Bestimmung, welche mit Recht, wenn sie nämlich in ihrem wahren Sinne genommen worden wäre, als die Garantie der öffentlichen Freiheit betrachtet werden konnte, – einer Vorstellung, von welcher aber gerade die, welche aus Begeisterung und Liebe zu sprechen meinen, nichts wissen und nichts wissen wollen; denn in ihr ist es eben, wo das Moment der vernünftigen Bestimmtheit liegt. Das Prinzip der Teilung der Gewalten enthält nämlich das wesentliche Moment des Unterschiedes, der realen Vernünftigkeit; aber wie es der abstrakte Verstand faßt, liegt darin teils die falsche Bestimmung der absoluten Selbständigkeit der Gewalten gegeneinander, teils die Einseitigkeit, ihr Verhältnis zueinander als ein Negatives, als gegenseitige Beschränkung aufzufassen. In dieser Ansicht wird es eine Feindseligkeit, eine Angst vor jeder, was jede gegen die andere als gegen ein Übel hervorbringt, mit der Bestimmung, sich ihr entgegenzusetzen und durch diese Gegengewichte ein allgemeines Gleichgewicht, aber nicht eine lebendige Einheit zu bewirken. Nur die Selbstbestimmung des Begriffs in sich, nicht irgend andere Zwecke und Nützlichkeiten, ist es, welche den absoluten Ursprung der unterschiedenen Gewalten enthält und um derentwillen allein die Staatsorganisation als das in sich Vernünftige und das Abbild der ewigen Vernunft ist. – Wie der Begriff und dann in konkreter Weise die Idee sich an ihnen selbst bestimmen und damit ihre Momente abstrakt der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit setzen, ist aus der Logik – freilich nicht der sonst gang und gäben –[433] zu erkennen. Überhaupt das Negative zum Ausgangspunkt zu nehmen und das Wollen des Bösen und das Mißtrauen dagegen zum Ersten zu machen und von dieser Voraussetzung aus nun pfiffigerweise Dämme auszuklügeln, die als [Bedingung ihrer] Wirksamkeit nur gegenseitiger Dämme bedürfen, charakterisiert dem Gedanken nach den negativen Verstand und der Gesinnung nach die Ansicht des Pöbels (s. oben § 244) – Mit der Selbständigkeit der Gewalten, z.B. der, wie sie genannt worden sind, exekutiven und der gesetzgebenden Gewalt, ist, wie man dies auch im großen gesehen hat, die Zertrümmerung des Staats unmittelbar gesetzt oder, insofern der Staat sich wesentlich erhält, der Kampf, daß die eine Gewalt die andere unter sich bringt, dadurch zunächst die Einheit, wie sie sonst beschaffen sei, bewirkt und so allein das Wesentliche, das Bestehen des Staats rettet.


§ 273

[434] Der politische Staat dirimiert sich somit in die substantiellen Unterschiede:

a) die Gewalt, das Allgemeine zu bestimmen und festzusetzen, – die gesetzgebende Gewalt,

b) die Subsumtion der besonderen Sphären und einzelnen Fälle unter das Allgemeine, – die Regierungsgewalt,

c) die Subjektivität als die letzte Willensentscheidung, – die fürstliche Gewalt, in der die unterschiedenen Gewalten zur individuellen Einheit zusammengefaßt sind, die also die Spitze und der Anfang des Ganzen, der konstitutionellen Monarchie, ist.

Die Ausbildung des Staats zur konstitutionellen Monarchie ist das Werk der neueren Welt, in welcher die substantielle Idee die unendliche Form gewonnen hat. Die Geschichte dieser Vertiefung des Geistes der Welt in sich oder, was dasselbe ist, diese freie Ausbildung, in der die Idee ihre Momente – und nur ihre Momente sind es – als[435] Totalitäten aus sich entläßt und sie eben damit in der idealen Einheit des Begriffs enthält, als worin die reelle Vernünftigkeit besteht, – die Geschichte dieser wahrhaften Gestaltung des sittlichen Lebens ist die Sache der allgemeinen Weltgeschichte.

Die alte Einteilung der Verfassungen in Monarchie, Aristokratie und Demokratie hat die noch ungetrennte substantielle Einheit zu ihrer Grundlage, welche zu ihrer inneren Unterscheidung (einer entwickelten Organisation in sich) und damit zur Tiefe und konkreten Vernünftigkeit noch nicht gekommen ist. Für jenen Standpunkt der alten Welt ist daher diese Einteilung die wahre und richtige; denn der Unterschied als an jener noch substantiellen, nicht zur absoluten Entfaltung in sich gediehenen Einheit ist wesentlich ein äußerlicher und erscheint zunächst als Unterschied der Anzahl (Enzyklop. der philos. Wissensch., § 82) derjenigen, in welchen jene substantielle Einheit immanent sein soll. Diese Formen, welche auf solche Weise verschiedenen Ganzen angehören, sind in der konstitutionellen Monarchie zu Momenten herabgesetzt; der Monarch ist Einer, mit der Regierungsgewalt treten Einige und mit der gesetzgebenden Gewalt tritt die Vielheit überhaupt ein. Aber solche bloß quantitative Unterschiede sind, wie gesagt, nur oberflächlich und geben nicht den Begriff der Sache an. Es ist gleichfalls nicht passend, wenn in neuerer Zeit soviel vom demokratischen, aristokratischen Elemente in der Monarchie gesprochen worden ist; denn diese dabei gemeinten Bestimmungen, eben insofern sie in der Monarchie stattfinden, sind nicht mehr Demokratisches und Aristokratisches. – Es gibt Vorstellungen von Verfassungen, wo nur das Abstraktum von Staat oben hingestellt ist, welches regiere und befehle, und es unentschieden gelassen und als gleichgültig angesehen wird, ob an der Spitze dieses Staates Einer oder Mehrere oder [436] Alle stehen. – »Alle diese Formen«, sagt so Fichte in seinem Naturrecht, 1. Teil, S. 196, »sind, wenn nur ein Ephorat (ein von ihm erfundenes, sein sollendes Gegengewicht gegen die oberste Gewalt) vorhanden ist, rechtsgemäß und können allgemeines Recht im Staate hervorbringen und erhalten.« – Eine solche Ansicht (wie auch jene Erfindung eines Ephorats) stammt aus der vorhin bemerkten Seichtigkeit des Begriffes vom Staate. Bei einem ganz einfachen Zustande der Gesellschaft haben diese Unterschiede freilich wenig oder keine Bedeutung, wie denn Moses in seiner Gesetzgebung für den Fall, daß das Volk einen König verlange, weiter keine Abänderung der Institutionen, sondern nur für den König das Gebot hinzufügt, daß seine Kavallerie, seine Frauen und sein Gold und Silber nicht zahlreich sein solle (5. Mose 17, 16 ff.). – Man kann übrigens in einem Sinne allerdings sagen, daß auch für die Idee jene drei Formen (die monarchische mit eingeschlossen, in der beschränkten Bedeutung nämlich, in der sie neben die aristokratische und demokratische gestellt wird) gleichgültig sind, aber in dem entgegengesetzten Sinne, weil sie insgesamt der Idee in ihrer vernünftigen Entwicklung (§ 272) nicht gemäß sind und diese in keiner derselben ihr Recht und Wirklichkeit erlangen könnte. Deswegen ist es auch zur ganz müßigen Frage geworden, welche die vorzüglichste unter ihnen wäre; – von solchen Formen kann nur historischerweise die Rede sein. – Sonst aber muß man auch in diesem Stücke, wie in so vielen anderen, den tiefen Blick Montesquieus in seiner berühmt gewordenen Angabe der Prinzipien dieser Regierungsformen anerkennen, aber diese Angabe, um ihre Richtigkeit anzuerkennen, nicht mißverstehen. Bekanntlich gab er als Prinzip der Demokratie die Tugend an; denn in der Tat beruht solche Verfassung[437] auf der Gesinnung als der nur substantiellen Form, in welcher die Vernünftigkeit des an und für sich seienden Willens in ihr noch existiert. Wenn Montesquieu aber hinzufügt, daß England im siebzehnten Jahrhundert das schöne Schauspiel gegeben habe, die Anstrengungen, eine Demokratie zu errichten, als ohnmächtig zu zeigen, da die Tugend in den Führern gemangelt habe, – und wenn er ferner hinzusetzt, daß, wenn die Tugend in der Republik verschwindet, der Ehrgeiz sich derer, deren Gemüt desselben fähig ist, und die Habsucht sich aller bemächtigt und der Staat alsdann, eine allgemeine Beute, seine Stärke nur in der Macht einiger Individuen und in der Ausgelassenheit aller habe, – so ist darüber zu bemerken, daß bei einem ausgebildeteren Zustande der Gesellschaft, und bei der Entwicklung und dem Freiwerden der Mächte der Besonderheit, die Tugend der Häupter des Staats unzureichend und eine andere Form des vernünftigen Gesetzes als nur die der Gesinnung erforderlich wird, damit das Ganze die Kraft, sich zusammenzuhalten und den Kräften der entwickelten Besonderheit ihr positives wie ihr negatives Recht angedeihen zu lassen, besitze. Gleicherweise ist das Mißverständnis zu entfernen, als ob damit, daß in der demokratischen Republik die Gesinnung der Tugend die substantielle Form ist, in der Monarchie diese Gesinnung für entbehrlich oder gar für abwesend erklärt, und vollends, als ob Tugend und die in einer gegliederten Organisation gesetzlich bestimmte Wirksamkeit einander entgegengesetzt und unverträglich wäre. – Daß in der Aristokratie die Mäßigung das Prinzip sei, bringt die hier beginnende Abscheidung der öffentlichen Macht und des Privatinteresses mit sich, welche zugleich sich so unmittelbar berühren, daß diese Verfassung in sich auf dem Sprunge steht, unmittelbar zum härtesten Zustande der Tyrannei oder Anarchie (man sehe die römische Geschichte) zu werden und sich zu vernichten. – Daß Montesquieu die Ehre als das Prinzip der Monarchie erkennt, daraus ergibt sich[438] für sich schon, daß er nicht die patriarchalische oder antike überhaupt, noch die zu objektiver Verfassung gebildete, sondern die Feudalmonarchie, und zwar insofern die Verhältnisse ihres inneren Staatsrechts zu rechtlichem Privateigentume und Privilegien von Individuen und Korporationen befestigt sind, versteht. Indem in dieser Verfassung das Staatsleben auf privilegierter Persönlichkeit beruht, in deren Belieben ein großer Teil dessen gelegt ist, was für das Bestehen des Staats getan werden muß, so ist das Objektive dieser Leistungen nicht auf Pflichten, sondern auf Vorstellung und Meinung gestellt, somit statt der Pflicht nur die Ehre das, was den Staat zusammenhält.

Eine andere Frage bietet sich leicht dar: wer die Verfassung machen soll. Diese Frage scheint deutlich, zeigt sich aber bei näherer Betrachtung sogleich sinnlos. Denn sie setzt voraus, daß keine Verfassung vorhanden, somit ein bloßer atomistischer Haufen von Individuen beisammen sei. Wie ein Haufen, ob durch sich oder andere, durch Güte, Gedanken oder Gewalt, zu einer Verfassung kommen würde, müßte ihm überlassen bleiben, denn mit einem Haufen hat es der Begriff nicht zu tun. – Setzt aber jene Frage schon eine vorhandene Verfassung voraus, so bedeutet das Machen nur eine Veränderung, und die Voraussetzung einer Verfassung enthält es unmittelbar selbst, daß die Veränderung nur auf verfassungsmäßigem Wege geschehen könne. – Überhaupt aber ist es schlechthin wesentlich, daß die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist.
[439]


§ 274

Da der Geist nur als das wirklich ist, als was er sich weiß, und der Staat, als Geist eines Volkes, zugleich das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz, die Sitte und das Bewußtsein seiner Individuen ist, so hängt die Verfassung eines bestimmten Volkes überhaupt von der Weise und Bildung des Selbstbewußtseins desselben ab; In diesem liegt seine subjektive Freiheit und damit die Wirklichkeit der Verfassung.

Einem Volke eine, wenn auch ihrem Inhalte nach mehr oder weniger vernünftige Verfassung a priori geben zu wollen, – dieser Einfall übersähe gerade das Moment, durch welches sie mehr als ein Gedankending wäre. Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört.[440]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 7, Frankfurt a. M. 1979, S. 432-441.
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