a. Die Art des Bedürfnisses und der Befriedigung
§ 190

[347] Das Tier hat einen beschränkten Kreis von Mitteln und Weisen der Befriedigung seiner gleichfalls beschränkten Bedürfnisse.[347] Der Mensch beweist auch in dieser Abhängigkeit zugleich sein Hinausgehen über dieselbe und seine Allgemeinheit, zunächst durch die Vervielfältigung der Bedürfnisse und Mittel und dann durch Zerlegung und Unterscheidung des konkreten Bedürfnisses in einzelne Teile und Seiten, welche verschiedene partikularisierte, damit abstraktere Bedürfnisse werden.

Im Rechte ist der Gegenstand die Person, im moralischen Standpunkt das Subjekt, in der Familie das Familienglied, in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt der Bürger (als bourgeois) – hier auf dem Standpunkte der Bedürfnisse (vgl. § 123 Anm.) ist es das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt; es ist also erst hier und auch eigentlich nur hier vom Menschen in diesem Sinne die Rede.


§ 191

Ebenso teilen und vervielfältigen sich die Mittel für die partikularisierten Bedürfnisse und überhaupt die Weisen[348] ihrer Befriedigung, welche wieder relative Zwecke und abstrakte Bedürfnisse werden, – eine ins Unendliche fortgehende Vervielfältigung, welche in eben dem Maße eine Unterscheidung dieser Bestimmungen und Beurteilung der Angemessenheit der Mittel zu ihren Zwecken, – die Verfeinerung ist.


§ 192

Die Bedürfnisse und die Mittel werden als reelles Dasein ein Sein für andere, durch deren Bedürfnisse und Arbeit die Befriedigung gegenseitig bedingt ist. Die Abstraktion, die eine Qualität der Bedürfnisse und der Mittel wird (s. vorherg. §), wird auch eine Bestimmung der gegenseitigen Beziehung der Individuen aufeinander; diese Allgemeinheit als Anerkanntsein ist das Moment, welches sie in ihrer Vereinzelung und Abstraktion zu konkreten, als gesellschaftlichen, Bedürfnissen, Mitteln und Weisen der Befriedigung macht.


§ 193

Dies Moment wird so eine besondere Zweckbestimmung für die Mittel für sich und deren Besitz sowie für die Art und[349] Weise der Befriedigung der Bedürfnisse. Es enthält ferner unmittelbar die Forderung der Gleichheit mit den anderen hierin; das Bedürfnis dieser Gleichheit einerseits und das Sichgleichmachen, die Nachahmung, wie andererseits das Bedürfnis der darin ebenso vorhandenen Besonderheit, sich durch eine Auszeichnung geltend zu machen, wird selbst eine wirkliche Quelle der Vervielfältigung der Bedürfnisse und ihrer Verbreitung.


§ 194

Indem im gesellschaftlichen Bedürfnisse, als der Verknüpfung vom unmittelbaren oder natürlichen und vom geistigen Bedürfnisse der Vorstellung, das letztere sich als das Allgemeine zum Überwiegenden macht, so liegt in diesem gesellschaftlichen Momente die Seite der Befreiung, daß die strenge Naturnotwendigkeit des Bedürfnisses versteckt wird und der Mensch sich zu seiner, und zwar einer allgemeinen Meinung und einer nur selbstgemachten Notwendigkeit, statt nur zu äußerlicher, zu innerer Zufälligkeit, zur Willkür, verhält.

Die Vorstellung, als ob der Mensch in einem sogenannten Naturzustande, worin er nur sogenannte einfache Naturbedürfnisse hätte und für ihre Befriedigung nur Mittel gebrauchte, wie eine zufällige Natur sie ihm unmittelbar gewährte, in Rücksicht auf die Bedürfnisse in Freiheit lebte, ist – noch ohne Rücksicht des Moments der Befreiung, die in der Arbeit liegt, wovon nachher – eine unwahre Meinung, weil das Naturbedürfnis als solches und dessen unmittelbare Befriedigung nur der Zustand der in die Natur versenkten Geistigkeit und damit der Roheit und Unfreiheit wäre und die Freiheit allein in der Reflexion des Geistigen irr sich, seiner Unterscheidung von dem Natürlichen und seinem Reflexe auf dieses liegt.


§ 195

Diese Befreiung ist formell, indem die Besonderheit der Zwecke der zugrunde liegende Inhalt bleibt. Die Richtung des gesellschaftlichen Zustandes auf die unbestimmte Vervielfältigung[350] und Spezifizierung der Bedürfnisse, Mittel und Genüsse, welche, so wie der Unterschied zwischen natürlichem und ungebildetem Bedürfnisse, keine Grenzen hat, – der Luxus – ist eine ebenso unendliche Vermehrung der Abhängigkeit und Not, welche es mit einer den unendlichen Widerstand leistenden Materie, nämlich mit äußeren Mitteln von der besonderen Art, Eigentum des freien Willens zu sein, dem somit absolut Harten zu tun hat.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 7, Frankfurt a. M. 1979, S. 347-351.
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