A. Zufälligkeit oder formelle Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit

[202] 1. Die Wirklichkeit ist formell, insofern sie als erste Wirklichkeit nur unmittelbare, unreflektierte Wirklichkeit, somit nur in dieser Formbestimmung, aber nicht als Totalität der Form ist. Sie ist so weiter nichts als ein Sein oder Existenz überhaupt. Aber weil sie wesentlich nicht bloße unmittelbare Existenz, sondern als Formeinheit des Ansichseins oder der Innerlichkeit und der Äußerlichkeit ist, so enthält sie unmittelbar das Ansichsein oder die Möglichkeit. Was wirklich ist, ist möglich.

2. Diese Möglichkeit ist die in sich reflektierte Wirklichkeit. Aber dies selbst erste Reflektiertsein ist ebenfalls das Formelle[202] und hiermit überhaupt nur die Bestimmung der Identität mit sich oder des Ansichseins überhaupt.

Weil aber die Bestimmung hier Totalität der Form ist, ist dieses Ansichsein bestimmt als Aufgehobenes oder als wesentlich nur in Beziehung auf die Wirklichkeit, als das Negative von dieser, gesetzt als Negatives. Die Möglichkeit enthält daher die zwei Momente: erstlich das positive, daß es ein Reflektiertsein in sich selbst ist; aber indem es in der absoluten Form herabgesetzt ist zu einem Momente, so gilt das Re flektiertsein-in-sich nicht mehr als Wesen, sondern hat zweitens die negative Bedeutung, daß die Möglichkeit ein Mangelhaftes ist, auf ein Anderes, die Wirklichkeit, hinweist und an dieser sich ergänzt.

Nach der ersten, der bloß positiven Seite ist die Möglichkeit also die bloße Formbestimmung der Identität mit sich oder die Form der Wesentlichkeit. So ist sie der verhältnislose, unbestimmte Behälter für alles überhaupt. – Im Sinne dieser formellen Möglichkeit ist alles möglich, was sich nicht widerspricht, das Reich der Möglichkeit ist daher die grenzenlose Mannigfaltigkeit. Aber jedes Mannigfaltige ist in sich und gegen Anderes bestimmt und hat die Negation an ihm; überhaupt geht die gleichgültige Verschiedenheit in die Entgegensetzung über; die Entgegensetzung aber ist der Widerspruch. Daher ist alles ebensosehr ein Widersprechendes und daher Unmögliches.

Dies bloß formelle von etwas Aussagen »es ist möglich« ist daher ebenso flach und leer als der Satz des Widerspruchs und jeder in ihm aufgenommene Inhalt. A ist möglich heißt soviel als A ist A. Insofern man sich nicht auf die Entwicklung des Inhalts einläßt, so hat dieser die Form der Einfachheit, erst durch die Auflösung desselben in seine Bestimmungen kommt der Unterschied an ihm hervor. Indem man sich an jene einfache Form hält, so bleibt der In halt ein mit sich Identisches und daher ein Mögliches. Es ist aber damit ebenso nichts gesagt als mit dem formellen identischen Satze.

Das Mögliche enthält jedoch mehr als der bloß identische[203] Satz. Das Mögliche ist das reflektierte In-sich-Reflektiertsein oder das Identische schlechthin als Moment der Totalität, somit auch bestimmt, nicht an sich zu sein; es hat daher die zweite Bestimmung, nur ein Mögliches zu sein und das Sollen der Totalität der Form. Die Möglichkeit ohne dieses Sollen ist die Wesentlichkeit als solche; aber die absolute Form enthält dies, daß das Wesen selbst nur Moment [ist] und ohne Sein seine Wahrheit nicht hat. Die Möglichkeit ist diese bloße Wesentlichkeit, so gesetzt, daß sie nur Moment und der absoluten Form nicht gemäß ist. Sie ist das Ansichsein, bestimmt, als nur ein Gesetztes oder ebensosehr als nicht an sich zu sein. – Die Möglichkeit ist daher an ihr selbst auch der Widerspruch, oder sie ist die Unmöglichkeit.

Zunächst drückt sich dies so aus, daß die Möglichkeit als aufgehoben gesetzte Formbestimmung einen Inhalt überhaupt an ihr hat. Dieser ist als möglich ein Ansichsein, das zugleich ein aufgehobenes oder ein Anderssein ist. Weil er also nur ein möglicher ist, ist ebensosehr ein anderer und sein Gegenteil möglich. A ist A; ebenso – A ist – A. Diese beiden Sätze drücken jeder die Möglichkeit seiner Inhaltsbestimmung aus. Aber als diese identischen Sätze sind sie gleichgültig gegeneinander; es ist mit dem einen nicht gesetzt, daß auch der andere hinzukomme. Die Möglichkeit ist die vergleichende Beziehung beider; sie enthält es in ihrer Bestimmung, als eine Reflexion der Totalität, daß auch das Gegenteil möglich sei. Sie ist daher der beziehende Grund, daß darum, weil A = A, auch – A = – A ist; in dem möglichen A ist auch das mögliche Nicht-A enthalten, und diese Beziehung selbst ist es, welche beide als mögliche bestimmt.

Als diese Beziehung aber, daß in dem einen Möglichen auch sein Anderes enthalten ist, ist sie der Widerspruch, der sich aufhebt. Da sie nun ihrer Bestimmung nach das Reflektierte und, wie sich gezeigt hat, das sich aufhebende Reflektierte ist, so ist sie somit auch das Unmittelbare, und damit wird sie Wirklichkeit.[204]

3. Diese Wirklichkeit ist nicht die erste, sondern die reflektierte, gesetzt als Einheit ihrer selbst und der Möglichkeit. Das Wirkliche als solches ist möglich; es ist in unmittelbarer positiver Identität mit der Möglichkeit; aber diese hat sich bestimmt als nur Möglichkeit; somit ist auch das Wirkliche bestimmt als nur ein Mögliches. Und unmittelbar darum, weil die Möglichkeit in der Wirklichkeit unmittelbar enthalten ist, ist sie darin als aufgehobene, als nur Möglichkeit. Umgekehrt die Wirklichkeit, die in Einheit ist mit der Möglichkeit, ist nur die aufgehobene Unmittelbarkeit; – oder darum, weil die formelle Wirklichkeit nur unmittelbare erste ist, ist sie nur Moment, nur aufgehobene Wirklichkeit oder nur Möglichkeit.

Hiermit ist zugleich näher die Bestimmung ausgedrückt, inwiefern die Möglichkeit Wirklichkeit ist. Die Möglichkeit ist nämlich noch nicht alle Wirklichkeit – von der realen und absoluten Wirklichkeit ist noch nicht die Rede gewesen –, sie ist nur erst diejenige, welche zuerst vorkam, nämlich die formelle, die sich bestimmt hat, nur Möglichkeit zu sein, also die formelle Wirklichkeit, welche nur Sein oder Existenz überhaupt ist. Alles Mögliche hat daher überhaupt ein Sein oder eine Existenz.

Diese Einheit der Möglichkeit und Wirklichkeit ist die Zufälligkeit. – Das Zufällige ist ein Wirkliches, das zugleich nur als möglich bestimmt, dessen Anderes oder Gegenteil ebensosehr ist. Diese Wirklichkeit ist daher bloßes Sein oder Existenz, aber in seiner Wahrheit gesetzt, den Wert eines Gesetztseins oder der Möglichkeit zu haben. Umgekehrt ist die Möglichkeit als die Reflexion-in-sich oder das Ansichsein gesetzt als Gesetztsein; was möglich ist, ist ein Wirkliches in diesem Sinne der Wirklichkeit; es hat nur soviel Wert als die zufällige Wirklichkeit; es ist selbst ein Zufälliges.

Das Zufällige bietet daher die zwei Seiten dar; erstens insofern es die Möglichkeit unmittelbar an ihm hat oder, was dasselbe ist, insofern sie in ihm aufgehoben ist, ist es nicht Gesetztsein noch vermittelt, sondern unmittelbare Wirklichkeit;[205] es hat keinen Grund. – Weil auch dem Möglichen diese unmittelbare Wirklichkeit zukommt, so ist es sosehr als das Wirkliche bestimmt als zufällig und ebenfalls ein Grundloses.

Das Zufällige ist aber zweitens das Wirkliche als ein nur Mögliches oder als ein Gesetztsein, so auch das Mögliche ist als formelles Ansichsein nur Gesetztsein, Somit ist beides nicht an und für sich selbst, sondern hat seine wahrhafte Reflexion-in-sich in einem Anderen, oder es hat einen Grund.

Das Zufällige hat also darum keinen Grund, weil es zufällig ist; und ebensowohl hat es einen Grund, darum weil es zufällig ist.

Es ist das gesetzte, unvermittelte Umschlagen des Inneren und Äußeren oder des In-sich-Reflektiertseins und des Seins ineinander, – gesetzt dadurch, daß Möglichkeit und Wirklichkeit jede an ihr selbst diese Bestimmung hat, dadurch daß sie Momente der absoluten Form sind. – So ist die Wirklichkeit in ihrer unmittelbaren Einheit mit der Möglichkeit nur die Existenz und bestimmt als Grundloses, das nur ein Gesetztes oder nur Mögliches ist; – oder als reflektiert und bestimmt gegen die Möglichkeit, so ist sie von der Möglichkeit, von dem In-sich-Reflektiertsein getrennt und somit ebenso unmittelbar auch nur ein Mögliches. – Ebenso die Möglichkeit, als einfaches Ansichsein, [so] ist sie ein Unmittelbares, nur ein Seiendes überhaupt, – oder entgegengesetzt gegen die Wirklichkeit, ebenso ein wirklichkeitsloses Ansichsein nur ein Mögliches, aber eben darum wieder nur eine nicht in sich reflektierte Existenz überhaupt.

Diese absolute Unruhe des Werdens dieser beiden Bestimmungen ist die Zufälligkeit. Aber darum weil jede unmittelbar in die entgegengesetzte umschlägt, so geht sie in dieser ebenso schlechthin mit sich selbst zusammen, und diese Identität derselben, einer in der anderen, ist die Notwendigkeit.[206]

Das Notwendige ist ein Wirkliches, so ist es als Unmittelbares, Grundloses; es hat aber ebensosehr seine Wirklichkeit durch ein Anderes oder in seinem Grunde, aber ist zugleich das Gesetztsein dieses Grundes und die Reflexion desselben in sich; die Möglichkeit des Notwendigen ist eine aufgehobene. Das Zufällige ist also notwendig, darum weil das Wirkliche als Mögliches bestimmt, damit seine Unmittelbarkeit aufgehoben und in Grund oder Ansichsein und in Begründetes abgestoßen ist, als auch weil diese seine Möglichkeit, die Grundbeziehung, schlechthin aufgehoben und als Sein gesetzt ist. Das Notwendige ist, und dies Seiende ist selbst das Notwendige. Zugleich ist es an sich; diese Reflexion-in-sich ist ein Anderes als jene Unmittelbarkeit des Seins, und die Notwendigkeit des Seienden ist ein Anderes. Das Seiende selbst ist so nicht das Notwendige; aber dieses Ansichsein ist selbst nur Gesetztsein, es ist aufgehoben und selbst unmittelbar. So ist die Wirklichkeit in ihrem Unterschiedenen, der Möglichkeit, identisch mit sich selbst. Als diese Identität ist sie Notwendigkeit.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 6, Frankfurt a. M. 1979, S. 202-207.
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