Zweites Kapitel
Die Erscheinung

[147] Die Existenz ist die Unmittelbarkeit des Seins, zu der sich das Wesen wiederhergestellt hat. Diese Unmittelbarkeit ist an sich die Reflexion des Wesens in sich. Das Wesen ist als Existenz aus seinem Grunde heraufgetreten, der selbst in sie[147] übergegangen ist. Die Existenz ist diese reflektierte Unmittelbarkeit, insofern sie an ihr selbst die absolute Negativität ist. Sie ist nunmehr auch als dies gesetzt, indem sie sich als Erscheinung bestimmt hat.

Die Erscheinung ist daher zunächst das Wesen in seiner Existenz; das Wesen ist unmittelbar an ihr vorhanden. Daß sie nicht als unmittelbare, sondern die reflektierte Existenz ist, dies macht das Moment des Wesens an ihr aus; oder die Existenz als wesentliche Existenz ist Erscheinung.

Es ist etwas nur Erscheinung, – in dem Sinne, daß die Existenz als solche nur ein Gesetztes, nicht an und für sich Seiendes ist. Dies macht ihre Wesentlichkeit aus, an ihr selbst die Negativität der Reflexion, die Natur des Wesens zu haben. Es ist dies nicht eine fremde, äußerliche Reflexion, welcher das Wesen zugehörte und die durch Vergleichung desselben mit der Existenz diese für Erscheinung erklärte. Sondern, wie sich ergeben hat, ist diese Wesentlichkeit der Existenz, Erscheinung zu sein, die eigene Wahrheit der Existenz. Die Reflexion, wodurch sie dies ist, gehört ihr selbst an.

Wenn aber gesagt wird, Etwas sei nur Erscheinung in dem Sinne, als ob dagegen die unmittelbare Existenz die Wahrheit wäre, so ist vielmehr die Erscheinung die höhere Wahrheit; denn sie ist die Existenz, wie sie als wesentliche, dahingegen die [unmittelbare] Existenz die noch wesenlose Erscheinung ist, weil sie nur das eine Moment der Erscheinung, nämlich die Existenz als unmittelbare, noch nicht ihre negative Reflexion an ihr hat. Wenn die Erscheinung wesenlos genannt wird, so wird an das Moment ihrer Negativität so gedacht, als ob das Unmittelbare dagegen das Positive und Wahrhafte wäre; aber vielmehr enthält dies Unmittelbare die wesentliche Wahrheit noch nicht an ihm. Die Existenz hört vielmehr auf, wesenlos zu sein, darin, daß sie in Erscheinung übergeht.

Das Wesen scheint zunächst in ihm selbst, in seiner einfachen Identität; so ist es die abstrakte Reflexion, die reine Bewegung[148] von nichts durch nichts zu sich selbst zurück. Das Wesen erscheint, so ist es nunmehr realer Schein, indem die Momente des Scheins Existenz haben. Die Erscheinung ist, wie sich ergeben hat, das Ding als die negative Vermittlung seiner mit sich selbst; die Unterschiede, welche es enthält, sind selbständige Materien, die der Widerspruch sind, ein unmittelbares Bestehen zu sein und zugleich nur in fremder Selbständigkeit, also in der Negation der eigenen ihr Bestehen zu haben, und wieder eben darum auch nur in der Negation jener fremden oder in der Negation ihrer eigenen Negation. Der Schein ist dieselbe Vermittlung, aber seine haltlosen Momente haben in der Erscheinung die Gestalt unmittelbarer Selbständigkeit. Dagegen ist die unmittelbare Selbständigkeit, die der Existenz zukommt, ihrerseits zum Momente herabgesetzt. Die Erscheinung ist daher Einheit des Scheins und der Existenz.

Die Erscheinung bestimmt sich nun näher. Sie ist die wesentliche Existenz; die Wesentlichkeit derselben unterscheidet sich von ihr als unwesentlicher, und diese beiden Seiten treten in Beziehung miteinander. – Sie ist daher zuerst einfache Identität mit sich, die zugleich verschiedene Inhaltsbestimmungen enthält, welche sowohl selbst als deren Beziehung das im Wechsel der Erscheinung sich Gleichbleibende ist, – das Gesetz der Erscheinung.

Zweitens aber geht das in seiner Verschiedenheit einfache Gesetz in den Gegensatz über; das Wesentliche der Erscheinung wird ihr selbst entgegengesetzt, und der erscheinenden Welt tritt die an sich seiende Welt gegenüber.

Drittens geht dieser Gegensatz in seinen Grund zurück; das Ansichseiende ist in der Erscheinung, und umgekehrt ist das Erscheinende bestimmt als in sein Ansichsein aufgenommen; die Erscheinung wird Verhältnis.[149]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 6, Frankfurt a. M. 1979, S. 147-150.
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