c. Das universelle Urteil

[330] Die Allgemeinheit, wie sie am Subjekte des universellen Urteils ist, ist die äußere Reflexionsallgemeinheit, Allheit;[330] Alle sind alle Einzelnen; das Einzelne ist unverändert darin. Diese Allgemeinheit ist daher nur ein Zusammenfassen der für sich bestehenden Einzelnen; sie ist eine Gemeinschaftlichkeit, welche ihnen nur in der Vergleichung zukommt. – Diese Gemeinschaftlichkeit pflegt dem subjektiven Vorstellen zunächst einzufallen, wenn von Allgemeinheit die Rede ist. Als der zunächstliegende Grund, warum eine Bestimmung als eine allgemeine angesehen werden soll, wird angegeben, weil sie mehreren zukomme. In der Analysis schwebt vornehmlich auch dieser Begriff von Allgemeinheit vor, indem z.B. die Entwicklung einer Funktion an einem Polynomium für das Allgemeinere gilt als die Entwicklung derselben an einem Binomium, weil das Polynomium mehrere Einzelheiten darstellt als das Binomium. Die Forderung, daß die Funktion in ihrer Allgemeinheit dargestellt würde, verlangt eigentlich ein Pantonomium, die erschöpfte Unendlichkeit; aber hier stellt sich von selbst die Schranke jener Forderung ein, und die Darstellung der unendlichen Menge muß sich mit dem Sollen derselben und daher auch mit einem Polynomium begnügen. In der Tat aber ist in den Fällen das Binomium schon das Pantonomium, in denen die Methode oder Regel nur die Abhängigkeit eines Gliedes von einem anderen betrifft und die Abhängigkeit mehrerer Glieder von ihren vorhergehenden sich nicht partikularisiert, sondern eine und dieselbe Funktion zugrunde liegen bleibt. Die Methode oder Regel ist als das wahrhaft Allgemeine anzusehen; in der Fortsetzung der Entwicklung oder in der Entwicklung eines Polynomiums wird sie nur wiederholt; sie gewinnt somit durch die vergrößerte Mehrheit der Glieder nichts an Allgemeinheit. Es ist von der schlechten Unendlichkeit und deren Täuschung schon früher die Rede gewesen; die Allgemeinheit des Begriffs ist das erreichte Jenseits; jene Unendlichkeit aber bleibt mit dem Jenseits als einem Unerreichbaren behaftet, insofern sie der bloße Progreß ins Unendliche bleibt. Wenn bei der Allgemeinheit nur die Allheit vorschwebt, eine Allgemeinheit, welche in[331] den Einzelnen als Einzelnen erschöpft werden soll, so ist dies ein Rückfall in jene schlechte Unendlichkeit; oder aber es wird auch nur die Vielheit für Allheit genommen. Die Vielheit jedoch, so groß sie auch sei, bleibt schlechthin nur Partikularität und ist nicht Allheit. – Es schwebt aber dabei die an und für sich seiende Allgemeinheit des Begriffs dunkel vor; er ist es, der gewaltsam über die beharrliche Einzelheit, woran sich die Vorstellung hält, und über das Äußerliche ihrer Reflexion hinaustreibt und die Allheit als Totalität oder vielmehr das kategorische Anundfürsichsein unterschiebt.

Dies zeigt sich auch sonst an der Allheit, welche überhaupt die empirische Allgemeinheit ist. Insofern das Einzelne als ein Unmittelbares vorausgesetzt ist, daher vorgefunden und äußerlich aufgenommen wird, ist ihm die Reflexion, welche es zur Allheit zusammenfaßt, ebenso äußerlich. Weil aber das Einzelne als Dieses schlechthin gleichgültig gegen diese Reflexion ist, so können sich die Allgemeinheit und solches Einzelnes nicht zu einer Einheit vereinigen. Die empirische Allheit bleibt darum eine Aufgabe, ein Sollen, welches so nicht als Sein dargestellt werden kann. Ein empirisch-allgemeiner Satz – denn es werden deren doch aufgestellt – beruht nun auf der stillschweigenden Übereinkunft, daß, wenn nur keine Instanz des Gegenteils angeführt werden könne, die Mehrheit von Fällen für Allheit gelten solle oder daß die subjektive Allheit, nämlich die der zur Kenntnis gekommenen Fälle, für eine objektive Allheit genommen werden dürfe.

Näher nun das universelle Urteil, bei dem wir stehen, betrachtet, so hat das Subjekt, das, wie vorhin bemerkt worden, die anundfürsichseiende Allgemeinheit als vorausgesetzte enthält, dieselbe nun auch als gesetzte an ihm. »Alle Menschen« drückt erstlich die Gattung Mensch aus, zweitens diese Gattung in ihrer Vereinzelung, aber so, daß die Einzelnen[332] zugleich zur Allgemeinheit der Gattung erweitert sind; umgekehrt ist die Allgemeinheit durch diese Verknüpfung mit der Einzelheit ebenso vollkommen bestimmt als die Einzelheit; hierdurch ist die gesetzte Allgemeinheit der vorausgesetzten gleich geworden.

Eigentlich aber ist nicht auf das Vorausgesetzte zum voraus Rücksicht zu nehmen, sondern das Resultat an der Formbestimmung für sich zu betrachten. – Die Einzelheit, indem sie sich zur Allheit erweitert hat, ist gesetzt als Negativität, welche identische Beziehung auf sich ist. Sie ist damit nicht jene erste Einzelheit geblieben, wie z.B. die eines Cajus, sondern ist die mit der Allgemeinheit identische Bestimmung oder das absolute Bestimmtsein des Allgemeinen. – Jene erste Einzelheit des singulären Urteils war nicht die unmittelbare des positiven Urteils, sondern durch die dialektische Bewegung des Urteils des Daseins überhaupt entstanden; sie war schon bestimmt, die negative Identität der Bestimmungen jenes Urteils zu sein. Dies ist die wahrhafte Voraussetzung im Reflexionsurteil; gegen das an diesem sich verlaufende Setzen war jene erste Bestimmtheit der Einzelheit das Ansich derselben; was sie somit an sich ist, ist nun durch die Bewegung des Reflexionsurteils gesetzt, nämlich die Einzelheit als identische Beziehung des Bestimmten auf sich selbst. Dadurch ist jene Reflexion, welche die Einzelheit zur Allheit erweitert, eine ihr nicht äußerliche; sondern es wird dadurch nur für sich, was sie schon an sich ist. – Das Resultat ist somit in Wahrheit die objektive Allgemeinheit. Das Subjekt hat insofern die Formbestimmung des Reflexionsurteils, welche vom Diesen durch Einiges zur Allheit hindurchging, abgestreift; statt »alle Menschen« ist nunmehr zu sagen »der Mensch«.

Die Allgemeinheit, welche hierdurch entstanden ist, ist die Gattung, – die Allgemeinheit, welche an ihr selbst Konkretes ist. Die Gattung inhäriert dem Subjekte nicht oder ist nicht eine einzelne Eigenschaft, überhaupt nicht eine Eigenschaft desselben; sie enthält alle vereinzelte Bestimmtheit[333] in ihrer substantiellen Gediegenheit aufgelöst. – Sie ist darum, weil sie als diese negative Identität mit sich gesetzt ist, wesentlich Subjekt, aber ist ihrem Prädikate nicht mehr subsumiert. Hiermit verändert sich nun überhaupt die Natur des Reflexionsurteils.

Dasselbe war wesentlich Urteil der Subsumtion. Das Prädikat war als das ansichseiende Allgemeine gegen sein Subjekt bestimmt; seinem Inhalte nach konnte es als wesentliche Verhältnisbestimmung oder auch als Merkmal genommen werden, – eine Bestimmung, nach welcher das Subjekt nur eine wesentliche Erscheinung ist. Aber zur objektiven Allgemeinheit bestimmt, hört es auf, unter solche Verhältnisbestimmung oder zusammenfassende Reflexion subsumiert zu sein; solches Prädikat ist gegen diese Allgemeinheit vielmehr ein Besonderes. Das Verhältnis von Subjekt und Prädikat hat sich somit umgekehrt und das Urteil sich insofern zunächst aufgehoben.

Diese Aufhebung des Urteils fällt mit dem zusammen, was die Bestimmung der Kopula wird, die wir noch zu betrachten haben; die Aufhebung der Urteilsbestimmungen und ihr Übergang in die Kopula ist dasselbe. – Insofern nämlich das Subjekt sich in die Allgemeinheit erhoben hat, ist es in dieser Bestimmung dem Prädikate gleich geworden, welches als die reflektierte Allgemeinheit auch die Besonderheit in sich begreift; Subjekt und Prädikat sind daher identisch, d. i. sie sind in die Kopula zusammengegangen. Diese Identität ist die Gattung oder an und für sich seiende Natur eines Dings. Insofern dieselbe also sich wieder in ein Urteil dirimiert, ist es die innere Natur, wodurch sich Subjekt und Prädikat aufeinander beziehen, – eine Beziehung der Notwendigkeit, worin jene Urteilsbestimmungen nur unwesentliche Unterschiede sind. »Was allen Einzelnen einer Gattung zukommt, kommt durch ihre Natur der Gattung zu« – ist eine unmittelbare Konsequenz und der Ausdruck dessen, was sich vorhin ergab, daß das Subjekt, z.B. alle Menschen, seine Formbestimmung abstreift und der Mensch dafür zu[334] sagen ist. – Dieser an und für sich seiende Zusammenhang macht die Grundlage eines neuen Urteils aus, – des Urteils der Notwendigkeit.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 6, Frankfurt a. M. 1979, S. 330-335.
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