Vierzehnter Einwand
Zur fünften Meditation: Über das Wesen der materiellen Dinge

[181] »Stelle ich mir beispielsweise ein Dreieck vor: so mag vielleicht eine solche Figur nirgends außerhalb meines Denkens in der Welt existieren oder je existiert haben, gleichwohl hat sie eine ganz bestimmte unveränderliche und ewige Natur oder Wahrheit oder Form, die weder von mir willkürlich hervorgebracht ist, noch überhaupt von meinem Geist abhängt, was schon daraus erhellt, daß verschiedene Eigenschaften dieses Dreiecks bewiesen werden können.«

Wenn das Dreieck nirgends in der Welt existiert, so verstehe ich nicht, wie es eine Natur haben soll; denn was nirgend ist, ist überhaupt nicht, hat also kein Sein, noch irgendeine Natur. Ein Dreieck entsteht im Geist aus einem Dreieck, das man gesehen oder gesehenen Dreiecken nachgebildet hat. Haben wir aber das Ding, von dem die Idee des Dreiecks nach unserer Meinung stammt, mit dem Namen Dreieck bezeichnet, so wird der Name bleiben, auch wenn das Dreieck selbst zugrunde geht. Und ebenso verhält es sich mit dem Satz, daß die Summe der Dreieckswinkel gleich zwei Rechten ist; haben wir ihn erst einmal gedanklich erfaßt und dem Dreieck den weiteren Namen gegeben: »Figur, deren Winkel gleich zwei Rechten sind«, so würde, auch wenn kein Winkel in der Welt existierte, wiederum der Name bleiben und die Wahrheit jenes Satzes (»das Dreieck ist eine Figur, deren drei Winkel gleich zwei Rechten ist«) ewig sein. Aber die Natur des Dreiecks würde nicht ewig sein, falls etwa jegliches Dreieck zugrunde gehen würde.

Ganz ähnlich wird der Satz: »Der Mensch ist ein Lebewesen« ewig sein, da die Namen ewig sind; geht aber das menschliche Geschlecht zugrunde, so wird es keine menschliche Natur mehr geben.

Daraus ergibt sich, daß die Wesenheit (oder Essenz), sofern sie von der Existenz unterschieden wird, nichts anderes ist als eine Verbindung von Namen durch das Wörtchen »ist«. Wesenheit ohne Existenz ist eine bloße Fiktion von[181] uns. Wie das Bild eines Menschen im Geist zu dem wirklichen Menschen sich verhält, so scheint sich auch Wesenheit (oder Essenz) zur Existenz zu verhalten; oder: wie der Satz: »Socrates ist ein Mensch« sich zu dem Satz: »Socrates ist oder existiert« verhält, so auch des Socrates' Wesenheit oder Essenz zu seiner Existenz. Nun bezeichnet der Satz: »Socrates ist ein Mensch« nur die Verbindung von zwei Namen, und das Wörtchen »ist« oder »sein« enthält in sich nur die Vorstellung der Einheit eines Dinges, dem zwei Namen gegeben sind.


Erwiderung

Die Unterscheidung von Wesenheit oder Essenz und Existenz ist allen bekannt; was aber hier über ewige Namen statt über Begriffe oder Ideen von ewiger Wahrheit behauptet wird, das ist schon längst abgetan.

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Erster Teil: Lehre vom Körper. Leipzig 1949, S. 181-182.
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