II

Hauptbestandtheile aller dichterischen Wirkung – Plan dieser Beurtheilung im Allgemeinen

[135] Nichts ist ein so zuverlässiger Beweis des ächt dichterischen Charakters, als die Verbindung des Einfachsten und des Höchsten, des durchaus Individuellen und vollkommen Idealischen (dieser beiden Hauptbestandtheile aller künstlerischen Wirkung) in derselben Schilderung und derselben Gestalt.

Denn durch einzelne Bilder der Phantasie den Geist auf[135] einen hohen und weitumschauenden Standpunkt zu führen, ist die schöne Bestimmung des Dichters, vermittelst durchgängiger Begränzung seines Stoffs eine unbegränzte und unendliche Wirkung hervorzubringen, durch ein Individuum einer Idee Genüge zu leisten und von Einem Punkt aus eine ganze Welt von Erscheinungen zu eröfnen.

Zwar kann es leicht scheinen, als sey das Geschäft, das ihm dadurch aufgelegt wird, nur die übertriebene Forderung eines undichterischen Zeitalters, das, indem es überall nach philosophischen Begriffen hascht, auch überall nur Ideen sucht und das blosse und leichte Spiel der Sinne und der Einbildungskraft verschmäht. Man darf aber nur seine nächste und eigentlichste Bestimmung genau untersuchen, und man wird unläugbar finden, dass, indem er dieser vollkommen zu genügen strebt, er sich zugleich auf dem Wege befindet, jenes zu erreichen, sich zu Idealen zu erheben und eine gewisse Totalität zu erlangen.

Diess liegt uns jetzt zu zeigen ob. Denn wenn das Gedicht, das wir zu beurtheilen im Begriff sind, wirklich einen so rein dichterischen Eindruck zurücklässt, als wir soeben beschrieben haben, so wird uns nichts so sicher, als die Erörterung des Wesens der Dichtkunst selbst bei der Schilderung seines allgemeinen Charakters leiten; und diese Schilderung macht den ersten und hauptsächlichsten Theil unsres Geschäfts aus.

Haben wir diesen vollendet, so bleibt uns dann nur noch übrig, die Arbeit des Dichters mit den besondren Regeln der Gattung zu vergleichen, zu der sie gehört.

Denn nur, indem wir diese doppelte Beurtheilung mit einander verbinden, können wir gewiss seyn, weder der Originalität des Dichters noch den gerechten Ansprüchen der Theorie der Kunst zu nahe zu treten.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 135-136.
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