IV

Höhe der Wirkung, zu der die Kunst sich erhebt – Idealität – Erster Begriff des Idealischen, als des Nicht-Wirklichen

[138] Die Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden, ist das Geheimniss des Künstlers. Denn um die[138] unsrige zu nöthigen, den Gegenstand, den er ihr schildert, rein aus sich selbst zu erzeugen, muss derselbe frei aus der seinigen hervorgehn. Dadurch aber, dass jedes Kunstwerk, wie treu es auch seinem Urbilde sey, doch als eine vollkommen neue Schöpfung dem Künstler eigen ist, erleidet auch der Gegenstand eine Umänderung seines Wesens und wird zu einer andren Höhe erhoben.

Das Reich der Phantasie ist dem Reiche der Wirklichkeit durchaus entgegengesetzt; und eben so entgegengesetzt ist daher auch der Charakter dessen, was dem einen oder dem andern dieser beiden Gebiete angehört. Mit dem Begriff des Wirklichen unzertrennbar verbunden ist es, dass jede Erscheinung einzeln und für sich da steht, dass keine als Grund oder Folge von der anderen abhängt. Denn nicht allein, dass eine solche Abhängigkeit niemals wirklich angeschaut, immer nur durch Schlüsse eingesehen werden kann, macht auch der Begriff des Wirklichen selbst das Aufsuchen derselben überflüssig. Die Erscheinung ist da: diess ist genug, jeden Zweifel zurückzuweisen; wozu braucht sie sich noch durch ihre Ursache oder ihre Wirkung zu rechtfertigen? Sobald man hingegen in das Gebiet des Möglichen übergeht, so besteht nichts mehr, als durch seine Abhängigkeit von etwas andrem; und alles, was nicht anders, als unter der Bedingung eines durchgängigen inneren Zusammenhanges gedacht werden kann, ist daher im strengsten und einfachsten Sinne des Worts idealisch. Denn es ist in so fern der Wirklichkeit, der Realität geradezu entgegengesetzt.

Auf diese Weise idealisirt muss daher alles werden, was die Hand der Kunst in das reine Gebiet der Einbildungskraft hinüberführt.

Wohin der Mensch nur immer seine Blicke richten mag, da sucht er den Begriff eines gegenseitigen Zusammenhanges, einer innern Organisation geltend zu machen. Ueberall den Zufall zu verbannen, zu verhindern, dass in dem Gebiete des Beobachtens und Denkens er nicht zu herrschen scheine, im Gebiete des Handelns nicht herrsche, ist das Streben der Vernunft. Dadurch allein schon bewährt er, dass er sich mit Recht einer höheren Abkunft rühmt, als die[139] übrigen Geschöpfe, dass er in ein besseres Land, als das der Wirklichkeit, dass er in das Land der Ideen gehört.

Dahin auch die ganze Natur, treu und vollständig beobachtet, mit sich hinüberzutragen, d.h. den Stoff seiner Erfahrungen dem Umfange der Welt gleich zu machen; diese ungeheure Masse einzelner und abgerissener Erscheinungen in eine ungetrennte Einheit und ein organisirtes Ganzes zu verwandeln; und diess durch alle die Organe zu thun, die ihm hierzu verliehen sind – ist das letzte Ziel seines intellectuellen Bemühens.

Da jedoch diese Betrachtung in ihrer Allgemeinheit unserm Gegenstande fremd ist, so bleiben wir hier nur bei dem Antheile stehen, den an dieser grossen Arbeit die Einbildungskraft und der Künstler insbesondere nimmt. Wir erinnern überhaupt nur daran, um zu zeigen, dass die Kunst nicht zu den mechanischen und untergeordneten Geschäften gehört, durch die wir uns zu unsrer eigentlichen Bestimmung bloss vorbereiten, sondern zu den höchsten und erhabensten, durch die wir sie selbst unmittelbar erfüllen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 138-140.
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