Fünfter Act.

[75] Der König auf einem Sessel sitzend, neben ihm der lustige Rath.


MATHAWIA horchend. Ho, Kamerad, richt' einmal dorthin nach dem Musiksaal deine Aufmerksamkeit. Eines reintaktigen Liedchens Tonweise läßt sich hören. Ich denke, die edle Hansapatika übt sich dort auf der Laute.

KÖNIG. Sei stille, ich will zuhören.


Gesang von drinnen.


O du nach neuem Honigseim begierig,

Wie hast du dich, nachdem du Amra-Blüthen

Geküßt, im Lotoskelche nur zu wohnen

Begnügt, o Bien', und jene nun vergessen?

KÖNIG. Ha, ein Affectvoller Gesang!

MATHAWIA. Hast du denn den Sinn des Liedes verstanden?

KÖNIG lächelnd. Ich hab' ihr einmal den Hof gemacht. Da muß ich mich denn wegen der Königin Wasimati so scharf rügen lassen. Freund Mathawia, man sage ihr in meinem Namen: ich sei mit Schicklichkeit von ihr gerügt worden.

MATHAWIA. Wie der Herr befiehlt. Steht auf. Ho, Kamerad! Wenn sie mich nun mit Händen, die einem andern gelten, beim Schopfe faßt, werd' ich ebenso durch sie meine Tugend verlieren wie ein Eremit durch eine himmlische Nymphe.[76]

KÖNIG. Geh, richte deinen Auftrag wie ein Hofmann aus.

MATHAWIA. Was ist zu machen? Ab.

KÖNIG für sich. Wie nun bin ich durch den Inhalt dieser Töne, obgleich kein geliebter Gegenstand mir fehlt, doch so Sehnsuchtvoll gestimmt. Doch ja:

Wenn liebliches erblickend und hörend süßer Klänge Laut

Ein fröhlich sonst gestimmter von Sehnsucht wird bewegt,

Erinnert sich die Seele, doch nicht das Bewußtsein,

Wol tiefer Herzensneigungen aus einem frühern Sein.


Er sitzt schwermüthig.

Der Haremaufseher tritt ein.


AUFSEHER. Ha! Fürwahr so geht es mir nun:

Den ich um meines Amtes im Königsfraungemach

Zu warten einst in Händen trug, den Rohrstab hier,

Im langen Lauf der Jahre ward er den Schritten nun,

Die nicht mehr vorwärts wollen, zu einer Stütze mir.

Wol darf der König keine Pflicht versäumen. Doch dem nur so eben vom Richterstuhl aufgestandenen die neue Störung durch die Ankunft der Jünger Kanwa's zu melden, getraue ich mir nicht. Oder doch, ein Weltverwaltungsamt ist ohne Ausruh. Warum?

Immer schirrt der Sonnengott die Rosse,

Tag und Nacht hat seinen Gang der Wind,

Ewig trägt die Last die Weltenschlange,

Das ist auch des Sechstheilessers Loos.[77]

Ich will doch meinen Auftrag ausrichten. Vorwärts kommend. Da ist der Fürst,

Das Volk, wie sein Gesind' befriedigt habend,

Genießt er Herzberuhigt nun die Stille,

Wie nach Führung der Heerd' am heißen Tage

Der Elephantenfürst des Schattenortes.

Hinzutretend. Es siege, siege der Fürst! Draußen sind vom Fuße des Himalaja Waldbewohner mit Kanwa's Entbietung, Frauenbegleitete Einsiedler angekommen. Der Fürst hat gehört und befehle.

KÖNIG ehrerbietig. Wie, Kanwa's Entbietung? Bringe sie!

AUFSEHER. Wie anders?

KÖNIG. So werde in meinem Namen der Hauspriester Somarâta angewiesen, jene Männer der Einsiedelei der Schriftsatzung gemäß zu empfangen und selbst hier einzuführen. Ich will sie an einer zum Empfang von Büßerheiligen geeigneten Stätte erwarten.

AUFSEHER. Wie der Fürst befiehlt. Ab.

KÖNIG aufstehend. Wetrawati, führe mich zur heiligen Feuerstelle.

DIE LEIBDIENERIN WETRAWATI. Hieher, hieher, o Fürst![78]

KÖNIG schreitet ihr nach, bleibt dann wie erschöpft stehn. Jedermann, der seinen Wunsch erreicht, empfindet Freude, nur der Könige Wunschergang hat Schmerz zur Begleitung.

Nur des Verlangens Lust raubt der Besitz,

Und Mühsal ist Bewahrung des Erworbenen;

Die Herrschaft macht den müden müde nur,

Als wie ein Sonnenschirm, den man selbst halten muß.


Von drinnen lassen sich zwei Herolde hören:


Siegreich sei der Gebieter!

DER ERSTE.

Nicht nach eigener Lust verlangend mühst du dich

Tag für Tag, doch Wirken für die Welt ist dein Tagewerk,

Denn es trägt auf seinem Scheitel Sonnengluth der hohe Baum

Und erquickt mit Schatten alle sich ihm untergebende.

DER ZWEITE.

Um recht zu weisen irrgegangne, hebt dein Arm den Stab,

Jeden Hader schlichtest du und bist bereit zu jedem Schutz,

Wo sich große Güter finden, sammeln viel Verwandte sich,

Doch bei dir ist die Verwandtschaft eines ganzen Volks bedacht.

KÖNIG. Da wir ermüdeten Geistes waren, sind wir nun wieder erfrischt.

LEIBDIENERIN. Schön durch frischen Aufputz, mit der Opfermilchkuh in der Nähe, ist hier die Feuerherdterrasse; steige der Fürst hinan!


Der König steigt hinan und steht, auf die Dienerin sich stützend.
[79]

KÖNIG. Wetrawati! In welcher Absicht mögen von Seite des heiligen Kanwa die frommen Männer mir gesendet sein?

Ward frommer Büßer Bußübung durch Störungen betroffen;

Ward ein Geschöpf der die da gehn im heil'gen Hain gefährdet;

Wie, oder ist durch mein Versehn gehemmt der Trieb der Pflanzen?

So schwankt mein Geist Entscheidungslos in aufgestiegenen Zweifeln.

LEIBDIENERIN. Wie sollte das, da der Bußhain durch den Ruf des fürstlichen Armes befriedet ist? Ich denke, durch guten Fortgang erfreut kommen die frommen Männer dem Fürsten zu danken.


Die Einsiedler mit Gautami und Sakuntala treten auf, geführt vom Aufseher und dem Hauspriester.


AUFSEHER. Hieher, hieher, meine Verehrungswürdigen.

SARNGARAWA. Saradwata!

Zwar ein erhabener Fürst ist hier, auf seinem Pfad nicht wankend;

Der Stände keiner geht, auch nicht der niedrigste, den Abweg,

Doch meinem stets in Einsamkeit gesammelten Gemüthe

Erscheint der Unruhvolle Raum hier wie ein Haus im Feuer.[80]

SARADWATA. Ich weiß, schon vor Eintritt in die Stadt warst du so gestimmt. Auch ich

Wie ein Gebadeter Gesalbte, Reiner Unreine, Wachender Entschlafne,

Freigehender Gebundne, seh' ich hier diese Lustbefangnen Menschen.

SAKUNTALA als empfinde sie ein Vorzeichen. Ach! Was zuckt mein rechtes Auge so!

GAUTAMI. Kind! Böse Vorbedeutung sei abgewendet! Des Gatten Hausgötter bereiten dir Freude!


Sie gehn vorwärts.


HAUSPRIESTER auf den König zeigend. Auf, Einsiedler! Dort er der Kasten- und Stände-Beschützer, so eben vom Richterstuhl aufgestanden, erwartet euch, schauet ihn! Wie demüthig in seiner Erhabenheit!

SARNGARAWA. Ja, Großbrahmane! Wol ist das erfreulich, doch wir sind davon unbetroffen. Warum?

Die Bäume neigen sich beim Früchtereifen

Und tiefer gehn die Wasserreichen Wolken,

Stolz werden nicht durch ihre Vorzüg' Edele;

So ist es Volkswohlthätern angeboren.

LEIBDIENERIN zum König. Gnädigster, sie haben helle Mienen; ich denke, es sind Fromme von unverdächtigem Gewerbe.[81]

KÖNIG Sakuntala erblickend. Aber die Herrin da,

Wer ist sie, die verhüllte, die von ihren Reizen nicht gar viel sehen läßt?

Zwischen den Bußereichen wie zwischen welken Blättern eine Blume.

LEIBDIENERIN. Mein Neugierschwangeres Sinnen ist angestrengt ohne Erfolg. Aber sehenswerth erscheint ihre Gestalt.

KÖNIG. Sei's; fremde Frauen soll man nicht betrachten.

SAKUNTALA die Hand auf die Brust legend für sich. Herz, was bebst du so? Des Gemahls Neigung merkst du nicht, aber sei stark.

HAUSPRIESTER vortretend. Hier die Vorschriftgemäß geehrten Einsiedler. Sie bringen ein Entbieten von ihrem Lehrer, das geruhe der Fürst zu hören.

KÖNIG. Ich bin aufmerksam.

DIE EINSIEDLER die Hände ausstreckend. Du siegest, König!

KÖNIG. Ich grüße alle.

EINSIEDLER. Erlange was du wünschest!

KÖNIG. Sind die Frommen in ihrer Buße ungestört?[82]

EINSIEDLER.

Wer soll das Werk der Guten stören, da du ihre Vormauer bist;

Wie darf da wo die Sonne scheint, hervor sich thun die Finsterniß?

KÖNIG. So ist bei mir der Königsname nicht Bedeutungslos. Ist auch der heilige Kanwa zum Frommen der Welt bei gutem Ergehen?

EINSIEDLER. Die Vollkommenen haben das Wohlergehen in ihrer Macht. Er, nächst der Erkundigung nach des Herrn Wohlsein, sagt –

KÖNIG. Was befiehlt der Heilige?

SARNGARAWA. Daß mit gemeinschaftlichem Einverständniß der Fürst meine Tochter sich anvermählt, ist von mir mit Freude für beide gut geheißen. Warum?

Da du der Würdigen Vorgänger heißest,

Sakuntala die Leibgewordne Tugend,

Hat solch ein edelgleiches Paar vereinend,

Sich Tadellos einmal bewährt der Schöpfer.

Darum sei nun die Leibesgesegnete angenommen als rechtmäßige Lebensgefährtin.

GAUTAMI. Erhabener, ich möchte auch reden und weiß es nicht recht anzufangen; wie so?[83]

Du sahst nicht nach den Eltern, und sie befragte nicht die Anverwandten.

Da miteinander handeleins ihr wurdet, was sag' ich eins und andres?

SAKUNTALA für sich. Was wird der Gemahl sagen?

KÖNIG. Worauf deutet das?

SAKUNTALA für sich. Ach, diese Rede deutet auf nichts gutes.

SARNGARAWA. Was soll das? Ihr Herren kennt ja doch den Weltlauf nur zu gut:

Die beste Frau, wenn sie im elterlichen Haus

Allein verbleibt, wird falsch beurtheilt von der Welt,

Darum in ihres Gatten Nähe wünschen sie

Die Anverwandten, wenn sie selbst nicht lieb ihm ist.

KÖNIG. Wie? Hab' ich mich mit dieser edelen Frau einst vermählt?

SAKUNTALA niedergeschlagen für sich. Herz, jetzt bist du schwer getroffen!

SARNGARAWA. Wie, nach vollbrachtem Handel Abneigung? Eine aus Widerwillen gegen die Pflicht geübte Verschmähung?

KÖNIG. Woher diese ungegründete Voraussetzung?[84]

SARNGARAWA. Solche Sinnesveränderung tritt oft ein bei Machtbewußtsein.

KÖNIG. Ich bin hart gescholten.

GAUTAMI. Kind, einen Augenblick lang schäme dich nicht. Ich will nur den Schleier wegziehen, so wird dich der Gemahl erkennen. Sie thut so.

KÖNIG Sakuntala betrachtend.

Ob dies mir zugeführte Bild von unverfälschtem Reize

Zuvor vermählt mir sei, ob nicht, weiß ich nicht auszufinden,

Und wie die Bien' am Morgen vom Thauschwangern Blüthenkelche,

Kann weder ich Genuß von ihr, noch kann ich Abschied nehmen.


Er sucht sich zu besinnen.


LEIBDIENERIN. O der Gewissenhaftigkeit des Fürsten! Welcher andere würde eine solche sich von selbst darbietende Schönheit sehen und sich bedenken?

SARNGARAWA. König, was sitzest du und schweigst?

KÖNIG. Einsiedler, wie sehr ich auch nachdenke, kann ich mich er Aneignung dieser edlen Frau nicht erinnern. Wie soll ich dennoch dieses sichtlich schwangere Weib ohne Berechtigung dazu annehmen?[85]

SAKUNTALA bei Seite. Der Gebieter zweifelt sogar an der Vermählung! Wohin sind nun meine hochfliegenden Hoffnungen?

SARNGARAWA. Nicht doch!

Ist wol der Fromme, der dir die Entehrung

Der Tochter nachsieht, dafür zu beschimpfen?

Der, das Gestohlne zum Geschenk anbietend,

Wie einen Dieb dich will zu Ehren bringen?

SARADWATA. Sarngarawa, höre du nun auf! Sakuntala! Was zu sagen war, haben wir gesagt. Nun hat der Herr hier also gesprochen; gib ihm eine überzeugende Antwort.

SAKUNTALA bei Seite. Hat eine solche Liebe diese Veränderung erlitten, wozu ihn noch erinnern? Ich bin nur zu bedauern, das ist gewiß. Laut. Mein Gemahl! Sie spricht es nur halb aus – doch beim Zweifel an der Vermählung darf ich mich des nicht unterfangen – Puru-Sohn! Es ist nicht recht von dir, nachdem du in der Einsiedelei dieses von Natur offene Mädchenherz mit Versprechungen betrogen, es nun mit solcher Rede zu verstoßen.

KÖNIG. Abgewendet sei das Unheil!

Was suchst du meinen Namen zu beschmutzen und mich selbst zu stürzen,

Wie der Gießbach ein klares Stromgewässer und einen Baum am Ufer?[86]

SAKUNTALA. Wolan! Wenn du wirklich aus Furcht dich an fremdem Eigenthume zu vergreifen so handelst, so will ich dir durch dieses Erkennungszeichen diese Furcht benehmen.

KÖNIG. Vortrefflich!

SAKUNTALA nachdem sie die Ringstelle betastet. Ach weh, ach weh, der Finger ist leer vom Ringe. Sieht erschrocken Gautami an.

GAUTAMI. Der Ring ist dir wol entfallen, als du unterwegs in Sakrawatâra an der heiligen Badestelle Satschitîrtha deine Andacht verrichtetest.

KÖNIG mit Lachen. Hier trifft das Spichwort ein: Weibersinn hat Rath in Bereitschaft.

SAKUNTALA. Hier hat das Schicksal seine Macht gezeigt. Ich will dir was anderes sagen.

KÖNIG. Wir müssen nun hören.

SAKUNTALA. Hieltest du nicht eines Tages in der Nawamalika-Laube Wasser in einem Lotosblattgefäß in deiner Hand?

KÖNIG. Hören wir doch!

SAKUNTALA. In dem Augenblicke war mein Pflegekind, Schlitzauge, das Rehkälbchen herbeigekommen. »Es soll zuerst trinken«,[87] sagtest du mitleidig und botest ihm das Wasser, doch es wollte, weil es dich nicht kannte, dir nicht an die Hand gehn. Als ich nun das Wasser nahm, zeigte jenes alsbald Lust. Da lachtest du auf: »Jeder traut nur seinen Verwandten,« sprachst du, »ihr beide seid hier Waldgenossen.«

KÖNIG. Mit solch falschem Redehonig ihr Thun beschönigender Frauen lassen sich Lüstlinge locken.

GAUTAMI. Großmächtigster, so darfst du nicht reden; dieses im Büßerhain aufgewachsene Mädchen ist in solchen Künsten unerfahren.

KÖNIG. Bejahrte Klausnerin!

Unerhörte Weibesliste sind beim Volk der Thiere

Selbst zu finden, wie viel mehr bei den Vernunftbegabten?

Eh sie in die Luft sich schwingen, lassen Kukuksweibchen

Ihre Jungen, wie man weiß, von andern Vögeln brüten.

SAKUNTALA zornig. Unwürdiger! Du urtheilst nach deinem eigenen Herzen. Welcher andere nun wird es dir, dem in der Tugend Panzer verkleideten, dem einer mit Reisern verdeckten Grube gleichenden nachthun wollen?

KÖNIG für sich. Ihr Zorn macht mich bedenklich, der nicht aussieht wie ein verstellter. Denn[88]

Als ich nichterinnerungsfähig finsterer Gedanken,

Ein geheimes Liebeseinverständniß längnen mußte,

Ward von der erzürnten mit entbranntem Aug' im Spannen

Ihrer Brau'n zerbrochen gleichsam des Erinnerns Bogen.

Laut. Beste! Duschianta's Handlungsweise ist sonst gerühmt, doch das merk' ich hier nicht.

SAKUNTALA. Nun wol! So bin ich selbst zu einer Sittenlosen gemacht, die ich im Vertrauen auf Puru's Geschlecht mich eines Honigmündigen, Gift im Herzen Führenden Händen überliefert habe. Sie bedeckt ihr Gesicht mit dem Saume des Gewandes und weint.

SARNGARAWA. So brennt selbstverschuldeter ungezügelter Leichtsinn.

Drum schließe man mit Unterscheidung voll Umsicht den geheimen Bund.

Mit Leuten ungekannten Herzens wird zur Feindschaft oft die Freundschaft.

KÖNIG. Ho ihr! Warum aus Anlaß dieser Schönen kränkt ihr uns mit ungemäßigten Vorwürfen?

SARNGARAWA mit Unmuth. Du hast gehört, was über die Unterliegenden ergeht.

Eine Person, die von Geburt an keine

Frechheit gelernt hat, deren Wort gilt nichts,

Doch wer nichts weiß als andere betrügen,

Das nennt man Weisheit, dessen Wort hat Recht.[89]

KÖNIG. Ho Wahrheitsprecher! Dieses nun zugegeben, was würde uns, wenn wir sie betrogen hätten, zu Theil werden?39

SARNGARAWA. Der Sturz.

KÖNIG. Puru's Söhne suchen den Sturz! Das ist nicht glaublich.

SARADWATA. Sarngarawa! Wozu weiterer Wortwechsel? Des Lehrers Auftrag ist vollzogen, laß uns umkehren!


Zum König.


Dieses, o Herr, ist deine Liebste; verlaß sie oder nimm sie an;

Des Mannes Herrschaft über Frauen ist ja herkömmlich unbeschränkt.

GAUTAMI. Geh voran! Sie gehn.

SAKUNTALA. Wie? Von diesem Falschen bin ich betrogen und auch ihr wollt mich jammernde verlassen?


Sie will ihnen nachgehen.


GAUTAMI bleibt stehn. Sohn Sarngarawa! Es folgt uns diese kläglich jammernde Sakuntala. Was soll beim grausam sie verstoßenden Gatten meine Tochter thun?

SARNGARAWA sich zornig umwendend, zu Sakuntala. Was, vorwitzige, willst du selbstwillig handeln?


Sakuntala ist erschrocken und zittert.
[90]

SARNGARAWA. Sakuntala!

Wenn du so bist wie der König sagt, was soll

Mit dir ausgearteten der Vater?

Aber weißt du dein Gewissen rein, so wird

Knechtschaft dir im Gattenhaus erträglich.

Bleib, wir gehn.

KÖNIG. Einsiedler! Warum willst du die Schöne hier der Verachtung preisgeben? Denn ja

Der Mond küßt nur Nachtlilien,

Der Sonne Strahl Taglilien allein;

Der Sinn Enthaltsamer

Ist vor Umarmung fremder Frauen scheu.

SARNGARAWA. Wenn aber der Herr eine frühere Verbindung über eine spätere vergessen hat, wie kann er sich der Sündenscheu rühmen?

KÖNIG zum Hauspriester. Dich selbst frag' ich, was hier die schwerere oder die leichtere Verschuldung sei?

In Zweifel, ob ich selbst bethört bin oder sei ein Lügner,

Werd' ich ein Weib verlassen oder beflecke mich mit fremdem Weib?

HAUSPRIESTER nachdenkend. Wenn man es so machte –

KÖNIG. Belehre mich.[91]

HAUSPRIESTER. ie Schöne hier bleibe bis zu ihrer Entbindung in unserem Hause. Fragst du warum? Du bist von frommen Männern bedeutet: Zu allererst wirst du einen zur Weltherrschaft bestimmten Sohn erzeugen. Wenn nun der Einsiedlerenkel mit solchen Zeichen versehen sein wird, magst du sie freudig und mit Ehren in den Frauenpalast einführen. Im Fall des Gegentheils steht es fest sie zum Vater zurückzubringen.

KÖNIG. Wie es dem geistlichen Obern gefällt.

HAUSPRIESTER. Kind, folge mir.

SAKUNTALA. Heilige Erde, eröffne dich mir!


Sie geht mit dem Priester ab, weinend, unmittelbar nach den Einsiedlern und Gautami. Der König steht in Gedanken verloren.


STIMME VON DRINNEN. Wunder!

KÖNIG horchend. Was mag das sein?

HAUSPRIESTER zurückkommend. Gebieter! Wunderbares ist geschehn.

KÖNIG. Was ist es?

HAUSPRIESTER. Gebieter, die Kanwa-Jünger hatten eben den Rücken gewendet;

Das junge Weib ging ihr Geschicke scheltend,

Die Hände ringend und mit lautem Weinen –[92]

KÖNIG. Was geschah?

HAUSPRIESTER.

Da hat in Fraungestalt am Nymphenteiche

Ein Lichtglanz plötzlich sie emporgehoben.


Alle sind erstarrt.


KÖNIG. Hochwürdiger! Wir haben nun einmal diese Sache vorhin abgethan. Was sollen wir uns in vergeblichen Muthmaßungen ergehn? Hochwürdiger, ruhe aus.

HAUSPRIESTER. Sei siegreich! Geht.

KÖNIG. Wetrawati! Ich bin verstört: führe mich zum Ruhegemach.

LEIBDIENERIN. Hieher, hieher, Gebieter!

KÖNIG.

Zwar nicht erinner' ich mich als Weib der abgewiesenen Kanwa-Tochter,

Gleichwol will mein gewaltig banges Herz mich gleichsam überführen.[93]

Quelle:
Sakuntala. Schauspiel von Kalidasa. Leipzig 1876, S. 75-94.
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