V. Von der reflektierenden Urteilskraft

[24] Die Urteilskraft kann entweder als bloßes Vermögen, über eine gegebene Vorstellung, zum Behuf eines dadurch möglichen Begriffs, nach einem gewissen Prinzip zu reflektieren, oder als ein Vermögen, einen zum Grunde liegenden Begriff durch eine gegebene empirische Vorstellung zu bestimmen, angesehen werden. Im ersten Falle ist sie die reflektierende, im zweiten die bestimmende Urteilskraft. Reflektieren (Überlegen) aber ist: gegebene Vorstellungen entweder mit andern, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu halten. Die reflektierende Urteilskraft ist diejenige, welche man auch das Beurteilungsvermögen (facultas diiudicandi) nennt.

Das Reflektieren (welches selbst bei Tieren, obzwar nur instinktmäßig, nämlich nicht in Beziehung auf einen dadurch zu erlangenden Begriff, sondern eine etwa dadurch zu bestimmende Neigung vorgeht) bedarf für uns eben so wohl eines Prinzips, als das Bestimmen, in welchem der zum Grunde gelegte Begriff vom Objekte der Urteilskraft die Regel vorschreibt und also die Stelle des Prinzips vertritt.

Das Prinzip der Reflexion über gegebene Gegen stände der Natur ist; daß sich zu allen Naturdingen empirisch bestimmte Begriffe finden lassen,4 welches eben so viel sagen will, als daß man allemal an ihren Produkten eine[24] Form voraussetzen kann, die nach allgemeinen, für uns erkennbaren Gesetzen möglich ist. Denn dürften wir dieses nicht voraussetzen und legten unserer Behandlung der empirischen Vorstellungen dieses Prinzip nicht zum Grunde, so würde alles Reflektieren bloß aufs Geratewohl und blind, mithin ohne gegründete Erwartung ihrer Zusammenstimmung mit der Natur angestellt werden.

In Ansehung der allgemeinen Naturbegriffe, unter denen überhaupt ein Erfahrungsbegriff (ohne besondere empirische Bestimmung) allererst möglich ist, hat die Reflexion im Begriffe einer Natur überhaupt, d.i. im Verstande, schon ihre Anweisung und die Urteilskraft bedarf keines besondern Prinzips der Reflexion, sondern schematisiert dieselbe a priori und wendet diese Schemata auf jede empirische Synthesis an, ohne welche gar kein Erfahrungsurteil möglich wäre. Die Urteilskraft ist hier in ihrer Reflexion zugleich bestimmend und der transzendentale Schematism derselben dient ihr zugleich zur Regel, unter der gegebene empirische Anschauungen subsumiert werden.

Aber zu solchen Begriffen, die zu gegebenen empirischen Anschauungen allererst sollen gefunden wer den, und welche ein besonderes Naturgesetz voraussetzen, darnach allein besondere Erfahrung möglich ist, bedarf die Urteilskraft eines eigentümlichen gleichfalls transzendentalen Prinzips ihrer Reflexion und man kann sie nicht wiederum auf schon bekannte empirische Gesetze hinweisen und die Reflexion[25] in eine bloße Vergleichung mit empirischen Formen, für die man schon Begriffe hat, verwandeln. Denn es frägt sich, wie man hoffen könne, durch Vergleichung der Wahrnehmungen zu empirischen Begriffen desjenigen, was den verschiedenen Naturformen gemein ist, zu gelangen, wenn die Natur (wie es doch zu denken möglich ist) in diese, wegen der großen Verschiedenheit ihrer empirischen Gesetze, eine so große Ungleichartigkeit gelegt hätte, daß alle, oder doch die meiste Vergleichung vergeblich wäre, eine Einhelligkeit und Stufenordnung von Arten und Gattungen unter ihnen herauszubringen. Alle Vergleichung empirischer Vorstellungen, um empirische Gesetze und diesen gemäße spezifische, durch dieser ihre Vergleichung aber mit andern auch generisch-übereinstimmende Formen an Naturdingen zu erkennen, setzt doch voraus: daß die Natur auch in Ansehung ihrer empirischen Gesetze eine gewisse unserer Urteilskraft angemessene Sparsamkeit und eine für uns faßliche Gleichförmigkeit beobachtet habe, und diese Voraussetzung muß, als Prinzip der Urteilskraft a priori, vor aller Vergleichung vorausgehen.

Die reflektierende Urteilskraft verfährt also mit gegebenen Erscheinungen, um sie unter empirische Begriffe von bestimmten Naturdingen zu bringen, nicht schematisch, sondern technisch, nicht gleichsam bloß mechanisch, wie Instrument, unter der Leitung des Verstandes und der Sinne, sondern künstlich, nach dem allgemeinen, aber zugleich unbestimmten Prinzip einer zweckmäßigen Anordnung der Natur in einem System, gleichsam zu Gunsten unserer Urteilskraft, in der Angemessenheit ihrer besondern Gesetze (über die der Verstand nichts sagt) zu der Möglichkeit der Erfahrung als eines Systems, ohne welche Voraussetzung wir nicht hoffen können, uns in einem Labyrinth der Mannigfaltigkeit möglicher besonderer Gesetze zurechte zu finden. Also macht sich die Urteilskraft selbst a priori die Technik der Natur zum Prinzip ihrer Reflexion, ohne doch diese erklären noch näher bestimmen zu können, oder dazu einen objektiven Bestimmungsgrund der[26] allgemeinen Naturbegriffe (aus einem Erkenntnis der Dinge an sich selbst) zu haben, sondern nur, um nach ihrem eigenen subjektiven Gesetze, nach ihrem Bedürfnis, dennoch aber zugleich einstimmig mit Naturgesetzen überhaupt, reflektieren zu können.

Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, dadurch die Natur als System nach empirischen Gesetzen gedacht wird, ist aber bloß ein Prinzip für den logischen Gebrauch der Urteilskraft, zwar ein transzendentales Prinzip seinem Ursprunge nach, aber nur, um die Natur a priori als qualifiziert zu einem logischen System ihrer Mannigfaltigkeit unter empirischen Gesetzen anzusehen.

Die logische Form eines Systems besteht bloß in der Einteilung gegebener allgemeiner Begriffe (dergleichen hier der einer Natur überhaupt ist), dadurch daß man sich das Besondere (hier das Empirische) mit seiner Verschiedenheit, als unter dem Allgemeinen enthalten, nach einem gewissen Prinzip denkt. Hierzu gehört nun, wenn man empirisch verfährt und vom Besondern zum Allgemeinen aufsteigt, eine Klassifikation des Mannigfaltigen, d.i. eine Vergleichung mehrerer Klassen, deren jede unter einem bestimmten Begriffe steht, untereinander, und, wenn jene nach dem gemeinschaftlichen Merkmal vollständig sind, ihre Subsumtion unter höhere Klassen (Gattungen), bis man zu dem Begriffe gelangt, der das Prinzip der ganzen Klassifikation in sich enthält (und die oberste Gattung ausmacht). Fängt man dagegen vom allgemeinen Begriff an, um zu dem besondern durch vollständige Einteilung herabzugehen, so heißt die Handlung die Spezifikation des Mannigfaltigen unter einem gegebenen Begriffe, da von der obersten Gattung zu niedrigen (Untergattungen oder Arten) und von Arten zu Unterarten fortgeschritten wird. Man drückt sich richtiger aus, wenn man, anstatt (wie im gemeinen Redegebrauch) zu sagen, man müsse das Besondere, welches unter einem Allgemeinen steht, spezifizieren, lieber sagt, man spezifiziere den allgemeinen Begriff, indem man das Mannigfaltige unter ihm anführt. Denn die Gattung ist (logisch betrachtet) gleichsam die Materie, oder das rohe[27] Substrat, welches die Natur durch mehrere Bestimmung zu besondern Arten und Unterarten verarbeitet, und so kann man sagen, die Natur spezifiziere sich selbst nach einem gewissen Prinzip (oder der Idee eines Systems), nach der Analogie des Gebrauchs dieses Worts bei den Rechtslehrern, wenn sie von der Spezifikation gewisser rohen Materien reden.5

Nun ist klar, daß die reflektierende Urteilskraft es ihrer Natur nach nicht unternehmen könne, die ganze Natur nach ihren empirischen Verschiedenheiten zu klassifizieren, wenn sie nicht voraussetzt, die Natur spezifiziere selbst ihre transzendentale Gesetze nach irgend einem Prinzip. Dieses Prinzip kann nun kein anderes, als das der Angemessenheit zum Vermögen der Urteilskraft selbst sein, in der unermeßlichen Mannigfaltigkeit der Dinge nach möglichen empirischen Gesetzen genugsame Verwandtschaft derselben anzutreffen, um sie unter empirische Begriffe (Klassen) und diese unter allgemeinere Gesetze (höhere Gattungen) zu bringen und so zu einem empirischen System der Natur gelangen zu können. – So wie nun eine solche Klassifikation keine gemeine Erfahrungserkenntnis, sondern eine künstliche ist, so wird die Natur, so fern sie so gedacht wird, daß sie sich nach einem solchen Prinzip spezifiziere, auch als Kunst angesehen und die Urteilskraft führt also notwendig a priori ein Prinzip der Technik der Natur bei sich, welche von der Nomothetik derselben nach transzendentalen Verstandesgesetzen darin unterschieden ist, daß diese ihr Prinzip als Gesetz, jene aber nur als notwendige Voraussetzung geltend machen kann.[28]

Das eigentümliche Prinzip der Urteilskraft ist also: die Natur spezifiziert ihre allgemeine Gesetze zu empirischen, gemäß der Form eines logischen Systems, zum Behuf der Urteilskraft.

Hier entspringt nun der Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur und zwar als ein eigentümlicher Begriff der reflektierenden Urteilskraft, nicht der Vernunft; indem der Zweck gar nicht im Objekt, sondern lediglich im Subjekt und zwar dessen bloßem Vermögen zu reflektieren gesetzt wird. – Denn zweckmäßig nennen wir dasjenige, dessen Dasein eine Vorstellung desselben Dinges vorauszusetzen scheint; Naturgesetze aber, die so beschaffen und auf einander bezogen sind, als ob sie die Urteilskraft zu ihrem eigenen Bedarf entworfen hätte, haben Ähnlichkeit mit der Möglichkeit der Dinge, die eine Vorstellung dieser Dinge, als Grund derselben voraussetzt. Also denkt sich die Urteilskraft durch ihr Prinzip eine Zweckmäßigkeit der Natur, in der Spezifikation ihrer Formen durch empirische Gesetze.

Dadurch werden aber diese Formen selbst nicht als zweckmäßig gedacht, sondern nur das Verhältnis derselben zu einander, und die Schicklichkeit, bei ihrer großen Mannigfaltigkeit zu einem logischen System empirischer Begriffe. – Zeigte uns nun die Natur nichts mehr als diese logische Zweckmäßigkeit, so würden wir zwar schon Ursache haben, sie hierüber zu bewundern, indem wir nach den allgemeinen Verstandesgesetzen keinen Grund davon anzugeben wissen; allein dieser Bewunderung würde schwerlich jemand anders als etwa ein Transzendental-Philosoph fähig sein, und selbst dieser würde doch keinen bestimmten Fall nennen können, wo sich diese Zweckmäßigkeit in concreto bewiese, sondern sie nur im allgemeinen denken müssen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 24-29.
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