X. Von der Nachsuchung eines Prinzips der technischen Urteilskraft

[51] Wenn zu dem, was geschieht, bloß der Erklärungsgrund gefunden werden soll, so kann dieser entweder ein empirisches Prinzip, oder ein Prinzip a priori, oder auch aus beiden zusammengesetzt sein, wie man es an den physisch-mechanischen Erklärungen der Eräugnisse in der körperlichen Welt sehen kann, die ihre Prinzipien zum Teil in der allgemeinen (rationalen) Naturwissenschaft, zum Teil auch in derjenigen antreffen, welche die empirische Bewegungsgesetze[51] enthält. Das Ähnliche findet statt, wenn man zu dem, was in unserm Gemüte vorgeht, psychologische Erklärungsgründe sucht, nur mit dem Unterschiede, daß, so viel mir bewußt ist, die Prinzipien dazu insgesamt empirisch sind, ein einziges, nämlich das der Stetigkeit aller Veränderungen (weil Zeit, die nur eine Dimension hat, die formale Bedingung der innern Anschauung ist) ausgenommen, welches a priori diesen Wahrnehmungen zum Grunde liegt, woraus man aber so gut wie gar nichts zum Behuf der Erklärung machen kann, weil allgemeine Zeitlehre nicht so wie die reine Raumlehre (Geometrie) genugsamen Stoff zu einer ganzen Wissenschaft hergibt.

Würde es also darauf ankommen, zu erklären, wie das, was wir Geschmack nennen, unter Menschen zuerst aufgekommen sei, woher diese Gegenstände viel mehr als andere denselben beschäftigten und das Urteil über Schönheit unter diesen oder jenen Umständen des Orts und der Gesellschaft in Gang gebracht haben, durch welche Ursache er bis zum Luxus habe anwachsen können u. d. g., so würden die Prinzipien einer solchen Erklärung großen Teils in der Psychologie (darunter man in einem solchen Falle immer nur die empirische versteht) gesucht werden müssen. So verlangen die Sittenlehrer von den Psychologen, ihnen das seltsame Phänomen des Geizes, der im bloßen Besitze der Mittel zum Wohlleben (oder jeder andern Absicht) doch mit dem Vorsatze, nie einen Gebrauch davon zu machen, einen absoluten Wert setzt, oder die Ehrbegierde, die diese im bloßen Rufe, ohne weitere Absicht zu finden glaubt, zu erklären, damit sie ihre Vorschrift darnach richten können, nicht der sittlichen Gesetze selbst, sondern der Wegräumung der Hindernisse, die sich dem Einflusse derselben entgegensetzen; wobei man doch gestehen muß, daß es mit psychologischen Erklärungen, in Vergleichung mit den physischen sehr kümmerlich bestellt sei, daß sie ohne Ende hypothetisch sind und man, zu drei verschiedenen Erklärungsgründen, gar leicht einen vierten, eben so scheinbaren erdenken kann, und daß es daher eine Menge vorgeblicher Psychologen[52] dieser Art, welche von jeder Gemütsaffektion oder Bewegung, die in Schauspielen, dichterischen Vorstellungen und von Gegenständen der Natur erweckt wird, die Ursachen anzugeben wissen, und diesen ihren Witz auch wohl Philosophie nennen, die gewöhnlichste Naturbegebenheit in der körperlichen Welt wissenschaftlich zu erklären, nicht allein keine Kenntnis, sondern auch vielleicht nicht einmal die Fähigkeit dazu blicken lassen. Psychologisch beobachten (wie Burke in seiner Schrift vom Schönen und Erhabenen), mithin Stoff zu künftigen systematisch zu verbindenden Erfahrungsregeln sammeln, ohne sie doch begreifen zu wollen, ist wohl die einzige wahre Obliegenheit der empirischen Psychologie, welche schwerlich jemals auf den Rang einer philosophischen Wissenschaft wird Anspruch machen können.

Wenn aber ein Urteil sich selbst für allgemeingültig ausgibt und also auf Notwendigkeit in seiner Behauptung Anspruch macht, so mag diese vorgegebene Notwendigkeit auf Begriffen vom Objekte a priori, oder auf subjektiven Bedingungen zu Begriffen, die a priori zum Grunde liegen, beruhen, so wäre es, wenn man einem solchen Urteile dergleichen Anspruch zugesteht, ungereimt, ihn dadurch zu rechtfertigen, daß man den Ursprung des Urteils psychologisch erklärte. Denn man würde dadurch seiner eigenen Absicht entgegen handeln und, wenn die versuchte Erklärung vollkommen gelungen wäre, so würde sie beweisen, daß das Urteil auf Notwendigkeit schlechterdings keinen Anspruch machen kann, eben darum, weil man ihm seinen empirischen Ursprung nachweisen kann.

Nun sind die ästhetischen Reflexionsurteile (welche wir künftig unter dem Namen der Geschmacksurteile zergliedern werden) von der oben genannten Art. Sie machen auf Notwendigkeit Anspruch und sagen nicht, daß jedermann so urteile – dadurch sie eine Aufgabe zur Erklärung für die empirische Psychologie sein würden – sondern daß man so urteilen solle, welches so viel sagt, als: daß sie ein Prinzip a priori für sich haben. Wäre die Beziehung auf ein solches Prinzip nicht in dergleichen Urteilen enthalten, indem es[53] auf Notwendigkeit Anspruch macht, so müßte man annehmen, man könne in einem Urteile darum behaupten, es solle allgemein gelten, weil es wirklich, wie die Beobachtung beweiset, allgemein gilt, und umgekehrt, daß daraus, daß jedermann auf gewisse Weise urteilt, folge, er solle auch so urteilen, welches eine offenbare Ungereimtheit ist.

Nun zeigt sich zwar an ästhetischen Reflexionsurteilen die Schwierigkeit, daß sie durchaus nicht auf Begriffe gegründet und also von keinem bestimmten Prinzip abgeleitet werden können, weil sie sonst logisch wären; die subjektive Vorstellung von Zweckmäßigkeit soll aber durchaus kein Begriff eines Zwecks sein. Allein die Beziehung auf ein Prinzip a priori kann und muß doch immer noch statt finden, wo das Urteil auf Notwendigkeit Anspruch macht, von welchem und der Möglichkeit eines solchen Anspruchs hier auch nur die Rede ist, indessen daß eine Vernunftkritik eben durch denselben veranlaßt wird, nach dem zum Grunde liegenden obgleich unbestimmten Prinzip selbst zu forschen und es ihr auch gelingen kann, es auszufinden und als ein solches anzuerkennen, welches dem Urteile subjektiv und a priori zum Grunde liegt, obgleich es niemals einen bestimmten Begriff vom Objekte verschaffen kann.


* * *


Eben so muß man gestehen, daß das teleologische Urteil auf einem Prinzip a priori gegründet und ohne dergleichen unmöglich sei, ob wir gleich den Zweck der Natur in dergleichen Urteilen lediglich durch Erfahrung auffinden, und ohne diese, daß Dinge dieser Art auch nur möglich sind, nicht erkennen könnten. Das teleologische Urteil nämlich, ob es gleich einen bestimmten Begriff von einem Zwecke, den es der Möglichkeit gewisser Naturprodukte zum Grunde legt, mit der Vorstellung des Objekts verbindet (welches im ästhetischen Urteil nicht geschieht), ist gleichwohl immer nur ein Reflexionsurteil so wie das vorige. Es maßt sich gar nicht an zu behaupten, daß in dieser objektiven Zweckmäßigkeit die Natur (oder ein anderes Wesen durch sie) in der Tat absichtlich verfahre, d.i. in ihr, oder ihrer Ursache,[54] der Gedanke von einem Zwecke die Kausalität bestimme, sondern daß wir nur nach dieser Analogie (Verhältnisse der Ursachen und Wirkungen) die mechanische Gesetze der Natur benutzen müssen, um die Möglichkeit solcher Objekte zu erkennen und einen Begriff von ihnen zu bekommen, der jenen einen Zusammenhang in einer systematisch anzustellenden Erfahrung verschaffen kann.

Ein teleologisches Urteil vergleicht den Begriff eines Naturprodukts nach dem, was es ist, mit dem was es sein soll. Hier wird der Beurteilung seiner Möglichkeit ein Begriff (vom Zwecke) zum Grunde gelegt, der a priori vorhergeht. An Produkten der Kunst sich die Möglichkeit auf solche Art vorzustellen, macht keine Schwierigkeit. Aber von einem Produkte der Natur zu denken, daß es etwas hat sein sollen, und es darnach zu beurteilen, ob es auch wirklich so sei, enthält schon die Voraussetzung eines Prinzips, welches aus der Erfahrung (die da nur lehrt, was die Dinge sind) nicht hat gezogen werden können.

Daß wir durch das Auge sehen können, erfahren wir unmittelbar, imgleichen die äußere und inwendige Struktur desselben, die die Bedingungen dieses seinen möglichen Gebrauchs enthalten, und also die Kausalität nach mechanischen Gesetzen. Ich kann mich aber auch eines Steins bedienen, um etwas darauf zu zerschlagen, oder darauf zu bauen u.s.w., und diese Wirkungen können auch als Zwecke auf ihre Ursachen bezogen werden; aber ich kann darum nicht sagen, daß er zum Bauen hat dienen sollen. Nur vom Auge urteile ich, daß es zum Sehen hat tauglich sein sollen, und, obzwar die Figur, die Beschaffenheit aller Teile desselben und ihre Zusammensetzung, nach bloß mechanischen Naturgesetzen beurteilt, für meine Urteilskraft ganz zufällig ist, so denke ich doch in der Form und in dem Bau desselben eine Notwendigkeit, auf gewisse Weise gebildet zu sein, nämlich nach einem Begriffe, der vor den bildenden Ursachen dieses Organs vorhergeht, ohne welchen die Möglichkeit dieses Naturprodukts nach keinem mechanischen Naturgesetze für mich begreiflich ist (welches der Fall bei jenem Steine nicht ist). Dieses Sollen enthält nun eine Notwendigkeit,[55] welche sich von der physisch-mechanischen, nach welcher ein Ding nach bloßen Gesetzen der (ohne eine vorhergehende Idee desselben) wirkenden Ursachen möglich ist, deutlich unterscheidet, und kann eben so wenig durch bloß physische (empirische) Gesetze, als die Notwendigkeit des ästhetischen Urteils durch psychologische, bestimmt werden, sondern erfordert ein eigenes Prinzip a priori in der Urteilskraft, so fern sie reflektierend ist, unter welchem das teleologische Urteil steht und woraus es auch seiner Gültigkeit und Einschränkung nach muß bestimmt werden.

Also stehen alle Urteile über die Zweckmäßigkeit der Natur, sie mögen nun ästhetisch oder teleologisch sein, unter Prinzipien a priori und zwar solchen, die der Urteilskraft eigentümlich und ausschließlich angehören, weil sie bloß reflektierende, nicht bestimmende Urteile sind. Eben darum gehören sie auch unter die Kritik der reinen Vernunft (in der allgemeinsten Bedeutung genommen), welcher die letztern mehr, als die erstern, bedürfen, indem sie, sich selbst überlassen, die Vernunft zu Schlüssen einladen, die sich ins Überschwengliche verlieren können, anstatt daß die ersteren eine mühsame Nachforschung erfordern, um nur zu verhüten, daß sie sich nicht, selbst ihrem Prinzip nach lediglich aufs Empirische einschränken und dadurch ihre Ansprüche auf notwendige Gültigkeit für jedermann vernichten.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 51-56.
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