§ 7. Vergleichung des Schönen mit dem Angenehmen und Guten durch obiges Merkmal

[125] In Ansehung des Angenehmen bescheidet sich ein jeder: daß sein Urteil, welches er auf ein Privatgefühl gründet, und wodurch er von einem Gegenstande sagt, daß er ihm gefalle, sich auch bloß auf seine Person einschränke. Daher ist er es gern zufrieden, daß, wenn er sagt: der Kanariensekt ist angenehm, ihm ein anderer den Ausdruck verbessere und ihn erinnere, er solle sagen: er ist mir angenehm; und so nicht allein im Geschmack der Zunge, des Gaumens und des Schlundes, sondern auch in dem, was für Augen und Ohren jedem angenehm sein mag. Dem einen ist die violette Farbe sanft und lieblich, dem andern tot und erstorben. Einer liebt den Ton der Blasinstrumente, der andre den von den Saiteninstrumenten. Darüber in der Absicht zu streiten, um das Urteil anderer, welches von dem unsrigen verschieden ist, gleich als ob es diesem logisch entgegen gesetzt wäre, für unrichtig zu schelten, wäre Torheit;[125] in Ansehung des Angenehmen gilt also der Grundsatz: ein jeder hat seinen eigenen Geschmack (der Sinne).

Mit dem Schönen ist es ganz anders bewandt. Es wäre (gerade umgekehrt) lächerlich, wenn jemand, der sich auf seinen Geschmack etwas einbildete, sich damit zu rechtfertigen gedächte: dieser Gegenstand (das Gebäude, was wir sehen, das Kleid, was jener trägt, das Konzert, was wir hören, das Gedicht, welches zur Beurteilung aufgestellt ist) ist für mich schön. Denn er muß es nicht schön nennen, wenn es bloß ihm gefällt. Reiz und Annehmlichkeit mag für ihn vieles haben, darum bekümmert sich niemand; wenn er aber etwas für schön ausgibt, so mutet er andern eben dasselbe Wohlgefallen zu: er urteilt nicht bloß für sich, sondern für jedermann, und spricht alsdann von der Schönheit, als wäre sie eine Eigenschaft der Dinge. Er sagt daher, die Sache ist schön; und rechnet nicht etwa darum auf anderer Einstimmung in sein Urteil des Wohlgefallens, weil er sie mehrmalen mit dem seinigen einstimmig befunden hat, sondern fordert es von ihnen. Er tadelt sie, wenn sie anders urteilen, und spricht ihnen den Geschmack ab, von dem er doch verlangt, daß sie ihn haben sollen; und sofern kann man nicht sagen: ein jeder hat seinen besondern Geschmack. Dieses würde so viel heißen, als: es gibt gar keinen Geschmack, d.i. kein ästhetisches Urteil, welches auf jedermanns Beistimmung rechtmäßigen Anspruch machen könnte.

Gleichwohl findet man auch in Ansehung des Angenehmen, daß in der Beurteilung desselben sich Einhelligkeit unter Menschen antreffen lasse, in Absicht auf welche man doch einigen den Geschmack abspricht, andern ihn zugesteht, und zwar nicht in der Bedeutung als Organsinn, sondern als Beurteilungsvermögen in Ansehung des Angenehmen überhaupt. So sagt man von jemanden, der seine Gäste mit Annehmlichkeiten (des Genusses durch alle Sinne) so zu unterhalten weiß, daß es ihnen insgesamt gefällt: er habe Geschmack. Aber hier wird die Allgemeinheit nur komparativ genommen; und da gibt es nur generale (wie die empirischen[126] alle sind), nicht universale Regeln, welche letzteren das Geschmacksurteil über das Schöne sich unternimmt oder darauf Anspruch macht. Es ist ein Urteil in Beziehung auf die Geselligkeit, sofern sie auf empirischen Regeln beruht. In Ansehung des Guten machen die Urteile zwar auch mit Recht auf Gültigkeit für jedermann Anspruch; allein das Gute wird nur durch einen Begriff als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt, welches weder beim Angenehmen noch beim Schönen der Fall ist.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 125-127.
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