Der Antinomie der reinen Vernunft sechster Abschnitt
Der transzendentale Idealism, als der Schlüssel zu Auflösung der kosmologischen Dialektik

[460] Wir haben in der transzendentalen Ästhetik hinreichend bewiesen: daß alles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben. Diesen Lehrbegriff nenne ich den transzendentalen Idealism.54 Der Realist in transzendentaler Bedeutung macht aus diesen Modifikationen unserer Sinnlichkeit an sich subsistierende Dinge, und daher bloße Vorstellungen zu Sachen an sich selbst.

Man würde uns Unrecht tun, wenn man uns den schon längst so verschrienen empirischen Idealismus zumuten wollte, der, indem er die eigene Wirklichkeit des Raumes annimmt, das Dasein der ausgedehnten Wesen in denselben leugnet, wenigstens zweifelhaft findet, und zwischen Traum und Wahrheit in diesem Stücke keinen genugsam erweislichen Unterschied einräumet. Was die Erscheinungen des innern Sinnes in der Zeit betrifft, an denen, als wirklichen Dingen, findet er keine Schwierigkeit; ja er behauptet sogar, daß diese innere Erfahrung das wirkliche Dasein ihres Objekts (an sich selbst, mit aller dieser Zeitbestimmung) einzig und allein hinreichend beweise.

Unser transzendentale Idealism erlaubt es dagegen: daß die Gegenstände äußerer Anschauung, eben so wie sie im[460] Raume angeschauet werden, auch wirklich sein, und in der Zeit alle Veränderungen, so wie sie der innere Sinn vorstellt. Denn, da der Raum schon eine Form derjenigen Anschauung ist, die wir die äußere nennen, und, ohne Gegenstände in demselben, es gar keine empirische Vorstellung geben würde: so können und müssen wir darin ausgedehnte Wesen als wirklich annehmen, und eben so ist es auch mit der Zeit. Jener Raum selber aber, samt dieser Zeit, und, zugleich mit beiden, alle Erscheinungen, sind doch an sich selbst keine Dinge, sondern nichts als Vorstellungen, und können gar nicht außer unserem Gemüt existieren, und selbst ist die innere und sinnliche Anschauung unseres Gemüts (als Gegenstandes des Bewußtseins), dessen Bestimmung durch die Sukzession verschiedener Zustände in der Zeit vorgestellt wird, auch nicht das eigentliche Selbst, so wie es an sich existiert, oder das transzendentale Subjekt, sondern nur eine Erscheinung, die der Sinnlichkeit dieses uns unbekannten Wesens gegeben worden. Das Dasein dieser inneren Erscheinung, als eines so an sich existierenden Dinges, kann nicht eingeräumet werden, weil ihre Bedingung die Zeit ist, welche keine Bestimmung irgend eines Dinges an sich selbst sein kann. In dem Raume aber und der Zeit ist die empirische Wahrheit der Erscheinungen genugsam gesichert, und von der Verwandtschaft mit dem Traume hinreichend unterschieden, wenn beide nach empirischen Gesetzen in einer Erfahrung richtig und durchgängig zusammenhängen.

Es sind demnach die Gegenstände der Erfahrung niemals an sich selbst, sondern nur in der Erfahrung gegeben, und existieren außer derselben gar nicht. Daß es Einwohner im Monde geben könne, ob sie gleich kein Mensch jemals wahrgenommen hat, muß allerdings eingeräumet werden, aber es bedeutet nur so viel: daß wir in dem möglichen Fortschritt der Erfahrung auf sie treffen könnten; denn alles ist wirklich, was mit einer Wahrnehmung nach Gesetzen des empirischen Fortgangs in einem Kontext stehet. Sie sind also alsdenn wirklich, wenn sie mit meinem wirklichen Bewußtsein in einem empirischen Zusammenhange[461] stehen, ob sie gleich darum nicht an sich, d.i. außer diesem Fortschritt der Erfahrung, wirklich sind.

Uns ist wirklich nichts gegeben, als die Wahrnehmung und der empirische Fortschritt von dieser zu andern möglichen Wahrnehmungen. Denn an sich selbst sind die Erscheinungen, als bloße Vorstellungen, nur in der Wahrnehmung wirklich, die in der Tat nichts andres ist, als die Wirklichkeit einer empirischen Vorstellung, d.i. Erscheinung. Vor der Wahrnehmung eine Erscheinung ein wirkliches Ding nennen, bedeutet entweder, daß wir im Fortgange der Erfahrung auf eine solche Wahrnehmung treffen müssen, oder es hat gar keine Bedeutung. Denn, daß sie an sich selbst, ohne Beziehung auf unsere Sinne und mögliche Erfahrung, existiere, könnte allerdings gesagt werden, wenn von einem Dinge an sich selbst die Rede wäre. Es ist aber bloß von einer Erscheinung im Raume und der Zeit, die beides keine Bestimmungen der Dinge an sich selbst, sondern nur unserer Sinnlichkeit sind, die Rede; daher das, was in ihnen ist (Erscheinungen), nicht an sich etwas, sondern bloße Vorstellungen sind, die, wenn sie nicht in uns (in der Wahrnehmung) gegeben sind, überall nirgend angetroffen werden.

Das sinnliche Anschauungsvermögen ist eigentlich nur eine Rezeptivität, auf gewisse Weise mit Vorstellungen affiziert zu werden, deren Verhältnis zu einander eine reine Anschauung des Raumes und der Zeit ist (lauter Formen unserer Sinnlichkeit), und welche, so fern sie in diesem Verhältnisse (dem Raume und der Zeit) nach Gesetzen der Einheit der Erfahrung verknüpft und bestimmbar sind, Gegenstände heißen. Die nichtsinnliche Ursache dieser Vorstellungen ist uns gänzlich unbekannt, und diese können wir daher nicht als Objekt anschauen; denn dergleichen Gegenstand würde weder im Raume, noch der Zeit (als bloßen Bedingungen der sinnlichen Vorstellung) vorgestellt werden müssen, ohne welche Bedingungen wir uns gar keine Anschauung denken können. Indessen können wir die bloß intelligibele Ursache, der Erscheinungen überhaupt, das transzendentale Objekt nennen, bloß, damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Rezeptivität korrespondiert.[462]

Diesem transzendentalen Objekt können wir allen Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen zuschreiben, und sagen: daß es vor aller Erfahrung an sich selbst gegeben sei. Die Erscheinungen aber sind, ihm gemäß, nicht an sich, sondern nur in dieser Erfahrung gegeben, weil sie bloße Vorstellungen sind, die nur als Wahrnehmungen einen wirklichen Gegenstand bedeuten, wenn nämlich diese Wahrnehmung mit allen andern nach den Regeln der Erfahrungseinheit zusammenhängt. So kann man sagen: die wirklichen Dinge der vergangenen Zeit sind in dem transzendentalen Gegenstande der Erfahrung gegeben; sie sind aber für mich nur Gegenstände und in der vergangenen Zeit wirklich, so fern als ich mir vorstelle, daß eine regressive Reihe möglicher Wahrnehmungen (es sei am Leitfaden der Geschichte, oder an den Fußstapfen der Ursachen und Wirkungen), nach empirischen Gesetzen, mit einem Worte, der Weltlauf auf eine verflossene Zeitreihe als Bedingung der gegenwärtigen Zeit führet, welche alsdenn doch nur in dem Zusammenhange einer möglichen Erfahrung und nicht an sich selbst als wirklich vorgestellt wird, so, daß alle von undenklicher Zeit her vor meinem Dasein verflossene Begebenheiten doch nichts andres bedeuten, als die Möglichkeit der Verlängerung der Kette der Erfahrung, von der gegenwärtigen Wahrnehmung an, aufwärts zu den Bedingungen, welche diese der Zeit nach bestimmen.

Wenn ich mir demnach alle existierende Gegenstände der Sinne in aller Zeit und allen Räumen insgesamt vorstelle: so setze ich solche nicht vor der Erfahrung in beide hinein, sondern diese Vorstellung ist nichts andres, als der Gedanke von einer möglichen Erfahrung, in ihrer absoluten Vollständigkeit. In ihr allein sind jene Gegenstände (welche nichts als bloße Vorstellungen sind) gegeben. Daß man aber sagt, sie existieren vor aller meiner Erfahrung, bedeutet nur, daß sie in dem Teile der Erfahrung, zu welchem ich, von der Wahrnehmung anhebend, allererst fortschreiten muß, anzutreffen sind. Die Ursache der empirischen Bedingungen dieses Fortschritts, mithin auf welche Glieder, oder auch, wie weit ich auf dergleichen im Regressus treffen[463] könne, ist transzendental und mir daher notwendig unbekannt. Aber um diese ist es auch nicht zu tun, sondern nur um die Regel des Fortschritts der Erfahrung, in der mir die Gegenstände, nämlich Erscheinungen, gegeben werden. Es ist auch im Ausgange ganz einerlei, ob ich sage, ich könne im empirischen Fortgange im Raume auf Sterne treffen, die hundertmal weiter entfernt sind, als die äußersten, die ich sehe; oder ob ich sage, es sind vielleicht deren im Weltraume anzutreffen, wenn sie gleich niemals ein Mensch wahrgenommen hat, oder wahrnehmen wird; denn, wenn sie gleich als Dinge an sich selbst, ohne Beziehung auf mögliche Erfahrung, überhaupt gegeben wären, so sind sie doch für mich nichts, mithin keine Gegenstände, als so fern sie in der Reihe des empirischen Regressus enthalten sind. Nur in anderweitiger Beziehung, wenn eben diese Erscheinungen zur kosmologischen Idee von einem absoluten Ganzen gebraucht werden sollen, und, wenn es also um eine Frage zu tun ist, die über die Grenzen möglicher Erfahrung hinausgeht, ist die Unterscheidung der Art, wie man die Wirklichkeit gedachter Gegenstände der Sinne nimmt, von Erheblichkeit, um einem trüglichen Wahne vorzubeugen, welcher aus der Mißdeutung unserer eigenen Erfahrungsbegriffe unvermeidlich entspringen muß.

54

Ich habe ihn auch sonst bisweilen den formalen Idealism genannt, um ihn von dem materialen, d.i. dem gemeinen, der die Existenz äußerer Dinge selbst bezweifelt oder leugnet, zu unterscheiden. In manchen Fällen scheint es ratsam zu sein, sich lieber dieser als der obgenannten Ausdrücke zu bedienen, um alle Mißdeutung zu verhüten.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 4, Frankfurt am Main 1977, S. 460-464.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Kritik der reinen Vernunft
Akademie-Textausgabe, Bd.4, Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781); Prolegomena; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften
Kritik der reinen Vernunft
Werkausgabe in 12 Bänden: III/IV: Kritik der reinen Vernunft (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Philosophische Bibliothek, Bd.505, Kritik der reinen Vernunft. Nach der 1. und 2. Originalausgabe, mit einer Bibliographie.
Die Kritiken: Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der reinen Vernunft. Kritik der Urteilskraft. Was ist Aufklärung? Träume eines Geistersehers. ... Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.

Buchempfehlung

Jean Paul

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Zwei satirische Erzählungen über menschliche Schwächen.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon