Vorrede

[779] Der Gebrauch, den man in der Weltweisheit von der Mathematik machen kann, bestehet entweder in der Nachahmung ihrer Methode, oder in der wirklichen Anwendung ihrer Sätze auf die Gegenstände der Philosophie. Man siehet nicht, daß der erstere bisdaher von einigem Nutzen gewesen sei, so großen Vorteil man sich auch anfänglich davon versprach; und es sind auch allmählich die vielbedeutende Ehrennamen weggefallen, mit denen man die philosophische Sätze aus Eifersucht gegen die Geometrie ausschmückte, weil man bescheidentlich einsahe: daß es nicht wohl stehe, in mittelmäßigen Umständen trotzig zu tun, und das beschwerliche non liquet allem diesem Gepränge keinesweges weichen wollte.

Der zweite Gebrauch ist dagegen vor die Teile der Weltweisheit, die er betroffen hat, desto vorteilhafter geworden, welche dadurch, daß sie die Lehren der Mathematik in ihren Nutzen verwandten, sich zu einer Höhe geschwungen haben, darauf sie sonsten keinen Anspruch hätten machen können. Es sind dieses aber auch nur die zur Naturlehre gehörige Einsichten, man müßte denn etwa die Logik der Erwartungen in Glücksfällen auch zur Weltweisheit zählen wollen. Was die Metaphysik anlangt, so hat diese Wissen schaft, anstatt sich einige von den Begriffen oder Lehren der Mathematik zu Nutze zu machen, vielmehr sich öfters wider sie bewaffnet, und, wo sie vielleicht sichere Grundlagen hätte entlehnen können, um ihre Betrachtungen darauf zu gründen, siehet man sie bemüht, aus den Begriffen des Mathematikers nichts als feine Erdichtungen zu machen, die außer seinem Felde wenig Wahres an sich haben. Man kann leicht erraten, auf welcher Seite der Vorteil sein werde, in dem Streite zweier Wissenschaften, deren die eine alle insgesamt an Gewißheit und Deutlichkeit übertrifft, die andern aber sich allererst bestrebt, dazu zu gelangen.

Die Metaphysik sucht z. E. die Natur des Raumes und den obersten Grund zu finden, daraus sich dessen Möglichkeit[779] verstehen läßt. Nun kann wohl hiezu nichts behülflicher sein, als wenn man zuverlässig erwiesene Data irgend woher entlehnen kann, um sie in seiner Betrachtung zum Gründe zu legen. Die Geometrie liefert deren einige, welche die allgemeinsten Eigenschaften des Raumes betreffen, z. E. daß der Raum gar nicht aus einfachen Teilen bestehe; allein man gehet sie vorbei und setzet sein Zutrauen lediglich auf das zweideutige Bewußtsein dieses Begriffs, indem man ihn auf eine ganz abstrakte Art denket. Wenn denn die Spekulation nach diesem Verfahren mit den Sätzen der Mathematik nicht übereinstimmen will, so sucht man seinen erkünstelten Begriff durch den Vorwurf zu retten, den man dieser Wissenschaft macht, als wenn die Begriffe, die sie zum Grunde leget, nicht von der wahren Natur des Raumes abgezogen, sondern willkürlich ersonnen worden. Die mathematische Betrachtung der Bewegung, verbunden mit der Erkenntnis des Raumes, geben gleicher Gestalt viel Data an die Hand, um die metaphysische Betrachtung von der Zeit in dem Gleise der Wahrheit zu erhalten. Der berühmte Herr Euler hat hiezu unter andern einige Veranlassung gegeben,1 allein es scheint bequemer, sich in finstern und schwer zu prüfenden Abstraktionen aufzuhalten, als mit einer Wissenschaft in Verbindung zu treten, welche nur an verständlichen und augenscheinlichen Einsichten Teil nimmt.

Der Begriff des unendlich Kleinen, darauf die Mathematik so öftern hinaus kommt, wird mit einer angemaßten Dreistigkeit so gerade zu als erdichtet verworfen, anstatt daß man eher vermuten sollte, daß man noch nicht genug davon verstände, um ein Urteil darüber zu fällen. Die Natur selbst scheint gleichwohl nicht undeutliche Beweistümer an die Hand zu geben, daß dieser Begriff sehr wahr sei. Denn wenn es Kräfte gibt, welche eine Zeit hindurch kontinuierlich wirken, um Bewegungen hervorzubringen, wie allem Ansehen nach die Schwere ist, so muß die Kraft, die sie im Anfangsaugenblicke oder in Ruhe ausübt, gegen die, welche sie in einer Zeit mitteilt, unendlich klein sein. Es ist schwer, ich gestehe es, in die Natur dieser Begriffe hineinzudringen:[780] aber diese Schwierigkeit kann allenfalls nur die Behutsamkeit unsicherer Vermutungen, aber nicht entscheidende Aussprüche der Unmöglichkeit rechtfertigen.

Ich habe vorjetzo die Absicht, einen Begriff, der in der Mathematik bekannt genug, allein der Weltweisheit nach sehr fremde ist, in Beziehung auf diese zu betrachten. Es sind diese Betrachtungen nur kleine Anfänge, wie es zu geschehen pflegt, wenn man neue Aussichten eröffnen will, allein sie können vielleicht zu wichtigen Folgen Anlaß geben. Aus der Verabsäumung des Begriffs der negativen Größen sind eine Menge von Fehlern oder auch Mißdeutungen der Meinungen anderer in der Weltweisheit entsprungen. Wenn es z. E. dem berühmten Herren D. Crusius beliebt hätte, sich den Sinn der Mathematiker bei diesem Begriffe bekannt zu machen, so würde er die Vergleichung des Newton nicht bis zur Bewunderung falsch gefunden haben.2 da die anziehende Kraft, welche in vermehrter Weite, doch nahe bei den Körpern nach und nach in eine zurückstoßende ausartet, mit den Reihen vergleicht, in denen da, wo die positive Größen aufhören, die negative anfangen. Denn es sind die negative Größen nicht Negationen von Größen, wie die Ähnlichkeit des Ausdrucks ihn hat vermuten lassen, sondern etwas an sich selbst wahrhaftig Positives, nur was dem andern entgegengesetzt ist. Und so ist die negative Anziehung nicht die Ruhe, wie er davor hält, sondern die wahre Zurückstoßung.

Doch ich schreite zur Abhandlung selbst, um zu zeigen, welche Anwendung dieser Begriff überhaupt in der Weltweisheit haben könne.[781]


Der Begriff der negativen Größen ist in der Mathematik lange im Gebrauch gewesen und daselbst auch von der äußersten Erheblichkeit. Indessen ist die Vorstellung, die sich die mehreste davon machten, und die Erläuterung, die sie gaben, wunderlich und widersprechend; obgleich daraus auf die Anwendung keine Unrichtigkeit abfloß, denn die besondere Regeln vertraten die Stelle der Definition und versicherten den Gebrauch; was aber in dem Urteil über die Natur dieses abstrakten Begriffs geirret sein mochte, blieb müßig und hatte keine Folgen. Niemand hat vielleicht deutlicher und bestimmter gewiesen, was man sich unter den negativen Größen vorzustellen habe, als der berühmte Herr Professor Kästner,3 unter dessen Händen alles genau, faßlich und angenehm wird. Der Tadel, den er bei dieser Gelegenheit auf die Einteilungssucht eines grundabstrakten Philosophen wirft, ist viel allgemeiner, als er daselbst ausgedrückt wird, und kann als eine Auffoderung angesehen werden, die Kräfte der angemaßten Scharfsinnigkeit mancher Denker an einem wahren und brauchbaren Begriffe zu prüfen, um seine Beschaffenheit philosophisch festzusetzen, dessen Richtigkeit durch die Mathematik schon gesichert ist, welches ein Fall ist, dem die falsche Metaphysik gerne ausweicht; weil hier gelehrter Unsinn nicht so leicht wie sonsten das Blendwerk von Gründlichkeit zu machen vermag. Indem ich es unternehme, der Weltweisheit den Gewinn von einem annoch ungebrauchten, obzwar höchstnötigen, Begriffe zu verschaffen, so wünsche ich auch keine andere Richter zu haben, als von der Art, wie derjenige Mann von allgemeiner Einsicht ist, dessen Schriften mir hiezu die Veranlassung geben. Denn was die metaphysische Intelligenzen von vollendeter Einsicht anlangt, so müßte man sehr unerfahren sein, wenn man sich einbildete, daß zu ihrer Weisheit noch etwas könnte hinzugetan, oder von ihrem Wahne etwas könnte hinweg genommen werden.[782]

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 2, Frankfurt am Main 1977, S. 779-783.
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