Zehntes Kapitel (6. Gegenstand).

Erkenntnis der Lauterkeit oder Unlauterkeit der hohen Beamten durch listige Proben.[14] 1

Im Verein mit dem obersten Ratgeber (mantrin) und dem Hauspriester soll er die hohen Beamten in ihre öffentlichen2 Ämter einsetzen und sie dann durch listige Proben auf ihre Lauterkeit hin prüfen.A1

Der König möge seinen Hauspriester beauftragen, für einen nicht Opferberechtigten zu opfern oder ihn im Veda zu unterrichten, und wenn der das zornig zurückweist, ihn (zum Scheine) aus dem Amte jagen. Dieser möge dann durch Hinterhaltsleute3 unter Eidschwur jedem einzeln zuflüstern [14] lassen: »Dieser König verletzt die heilige Religion.4 Wohlan, wir wollen einen anderen, einen frommen, einsetzen, einen Thronbewerber aus seiner Familie,5 einen von ihm Unterdrückten,6 einen Familienangehörigen, der die einzige Stütze (des Reiches) ist,7 einen Vasallen (Grenzfürsten), den Waldgrafen oder einen, der sich selber emporgearbeitet hat.8 Das gefällt allen. Oder wie scheint es dir?« Weist er das zurück, dann ist er lauter. Das ist die listige Probe mit Religion und Recht.

Der Feldmarschall, der (zum Schein) wegen Begünstigung schlechter Menschen9 aus dem Amt gejagt worden ist, soll durch Hinterhaltsmänner jeden einzelnen hohen Beamten unter Darbietung eines sehr lockenden weltlichen Vorteils aufwiegeln lassen, den König zu vernichten.10 »Das wäre uns allen recht. Oder was denkst du dazu?« Wer es zurückweist, ist lauter. Das ist die listige Probe mit irdischem Vorteil.

Eine Bettelnonne, die sich das Vertrauen (der Betreffenden) erworben hat und im Harem des Königs geehrt wird, soll jedem einzelnen dieser Großwürdenträger zuflüstern: »Des Königs Hauptgemahlin liebt dich und hat Anstalten zu einem Stelldichein getroffen. Und das wird auch ein großer irdischer Vorteil für dich sein«. Wer das zurückweist, ist lauter. Das ist die listige Probe mit der Liebe.

[15] Bei Gelegenheit eines Festes mag ein hoher Beamter alle hohen Beamten zu sich einladen. Aus (geheuchelter) Bestürzung darüber,11 soll der König alle gefangen setzen. Ein fahrender Schüler,12 der vorher (zu diesem Zweck) gefangen gesetzt (oder sonst gekränkt) worden ist, möge jedem einzelnen der also um Gut und Ehre gebrachten hohen Beamten zuflüstern: »An schlechte Dinge hat sich dieser König gemacht. Wohlan, laßt uns ihn töten, und einen anderen einsetzen. Dies wäre uns allen lieb. Wie scheint's nun dir?« Wer es zurückweist, ist lauter. Das ist die listige Probe mit der Gefahr oder Furcht.

Die nun, die aus der Probe mit Religion und Recht rein hervorgegangen sind, möge er im bürgerlichen Gerichtswesen und in der Strafrechtspflege anstellen. Die in der Probe mit irdischen Gütern rein Erfundenen in den Einsammlungsgeschäften des Obereinnehmers (samāhartar) und des Schatzhausverwalters. Die in der Probe mit der Liebe rein Dastehenden zu Hüterposten über die Vergnügungen drinnen (im königlichen Palaste) und außerhalb.13 Die in der listigen Probe mit der Furcht oder Gefahr Bestandenen zu persönlichen Diensten beim Fürsten. Die, die aus allen listigen Proben rein hervorgehen, mache er zu Ratgebern. Solche, die sich in allen als unrein erwiesen haben, möge er in (der Verwaltung von) Bergwerken, Nutz- und Elefantenwäldern und Verarbeitungswerkstätten anstellen.A2

Nachdem er die hohen Beamten mit Hilfe der drei Lebensziele (Religion, Erdengut und Liebesgenuß) und der Furcht oder Gefahr erprobt hat, soll er sie, je nach Art und Ausfall der Lauterkeitsprüfung, über ihre besonderen Geschäftsgebiete setzen. Das ist die Stellung, die die Lehrer einnehmen.

Nicht aber mache der Herrscher sich selber oder die Königin dabei zur Zielscheibe, um die Lauterkeit seiner hohen Beamten zu erkunden. Das ist die Ansicht Kauṭilyas.

Nicht möge er den Unverdorbenen verderben, so wenig wie Wasser durch Gift. Denn es möchte manchmal für das Verdorbene und den Verdorbenen kein Heilmittel gefunden werden.

Und es möchte der Geist der Wackern, der einmal durch die vierfachen listigen Proben getrübt worden ist, nicht zurückkehren, ohne [16] das Gift in sich hineingeschluckt zu haben, indem er bei der Beharrlichkeit der Menschen von starkem Charakter bleibt.14

Darum soll der König einen äußern Stützpunkt wählen bei dem vierfältigen Werk, und so durch Hinterhältler die Lauterkeit oder die Unlauterkeit seiner hohen Beamten ausforschen.15

Fußnoten

1 Wie dieses Kapitel deutlich zeigt, bedeutet amātya, das überhaupt bei Kauṭ. in ziemlich verschiedenen Verwendungen vorkommt, besonders hier nicht Minister, sondern etwa oberster Beamter. Es bezeichnet Männer, die hohe Stellen und Würden innehaben, so unter anderem Richter und maitres de plaisir érotique. Für amātya tritt 16, 17–18 ja mahāmātra ein, wie denn auch sonst öfters im Kauṭ. dieses Wort stehen könnte, da wo wir amātya finden.A3 Die Minister im engeren Sinne oder die Ratgeber (mantrin) des Fürsten bilden nur eine, wenn auch die vorzüglichste Art der amātya. Da aber auch wir »Minister« außerdem noch in einem weiteren Sinn gebrauchen, wonach z.B. der samāhartar Finanzminister, ja der vihārāmātya »Minister für Vergnügungs- und Liebesangelegenheiten« heißen kann, so gebe ich das Wort sonst auch oft mit »Minister« wieder.


2 Sāmānya allgemein, publicus.


3 Damit oder mit »Hinterhältler« übersetze ich das ungeheuer häufige sattrin. Es stammt von sattra, d.h. insidiae, Hinterhalt. Dies ist die klare Bedeutung von sattra z.B. 315, 2; 363, 12; 365, 1, 4; 388, 13. »Spion« macht sich nicht nur ungeschickt wegen der vielen Bezeichnungen und Arten dieses im Arthaçāstra überall umherkriechenden Geschmeißes, sondern ist auch ungenau; denn der »Hinterhältler« hat nicht den Zweck, einfach auszuschnüffeln, auch bringt er nicht selber um, wie der tīkshṇa oder Bravo, der rasada oder Giftmischer, der gūḍhapurusha oder »Geheimmensch« im engeren Sinne usw., sonderm er ist vor allem Lockspitzel. Wen die Neuprägung stört, setze also dies Wort dafür ein, das ich selber öfters verwende. – Der Eidschwur ist wohl gegenseitig: der Lockspitzel und der von ihm Angebohrte schwören einander die größte Verschwiegenheit zu.


4 Wörtl.: »ist ein adhārmika (Ungerechter, Gottloser usw.)«. Da bei dieser Probe der Priester die Hauptrolle spielt, so wird man bei dharma zunächst an die Religion denken müssen, so wenig sich auch Religion, Recht und Sittlichkeit, die ja alle mit dharma bezeichnet werden, in Indien auseinander halten lassen. Die bei dieser Prüfung rein Befundenen sollen ja als Richter angestellt werden.


5 »Kronprätendent aus des Königs Familie« ist allem Anschein nach der Sinn des so häufigen tatkulīna.


6 Das häufige avaruddha bezeichnet einen Mann, von dem der König fürchtet, daß er sich des Thrones bemächtigen wolle, und den er deshalb unschädlich zu machen sucht, besonders indem er ihn einkerkert (avaruddha) oder verbannt (aparuddha). Çaṅk. zu Kām. XVIII, 52 umschreibt das Wort mit nirvāsita. Aber das ist zu eng. Ich gebe es mit: eingekerkert, unterdrückt, verfeindet usw. wieder.


7 Also in Wirklichkeit die Regierung führt. Zu ekapragraha vgl. ekapragraha rājyasya 253, 16.


8 Oder: Wundermenschen, außerordentliche Menschen (vgl. 242, 9 wo aupapādika wohl Wunderereignis, etwas Außergewöhnliches bedeutet). Das Wort ist dunkel. Auch Gaṇ. weiß nichts Ordentliches zu bieten. Āṭavika hat hier wohl dieselbe Bedeutung wie 20, 14.


9 Möglich wäre auch: unter Zuhilfenahme der Begünstigung schlechter Menschen, d.h. analog dem vorhergehenden Fall soll der König ihn auffordern, schlechte Menschen zu befördern, und wenn er sich dann weigert, den Ungehorsamen davonjagen. Aber etwas ungewöhnlich wäre der Ausdruck dann schon. Siehe auch die folgende Anmerkung.


10 Wir haben uns wohl hinzuzudenken, daß der Feldmarschall, der für seine vorgebliche Begünstigung vermeintlich tüchtig viel klingende Münze empfangen hat, den Betreffenden vorstellen läßt: »Jeden kleinen irdischen Vorteil mißgönnt einem dieser König Zur Armut verdammt er unsereins. Wir wollen einen zum König machen, der uns zu Geld und Gut kommen läßt.« So erschiene es auch unverdächtig, daß er die in Versuchung zu führenden bestechen will. Wäre aber der Feldmarschall wegen seiner schroffen Ehrlichkeit »in Ungnade gefallen«, dann ließe sich sein Verfahren nicht reimen.


11 Natürlich stellt sich der König, als habe er Angst, die Minister seien zu Verschwörerzwecken zusammengekommen. Von dieser Furcht oder Gefahr hat die Probe den Namen, zugleich aber auch von der Angst oder Gefahr, in der die festgenommenen Minister schweben.


12 Kāpaṭika ist ein Bettelvagabund und auch ohne das daneben stehende chāttra ein »fahrender Schüler« (s. Kauṭ. 17, 2; 18, 7ff.; 34, 9; 236, 11; 242, 3; 244, 14 usw.). Dem Sinne nach könnte man auch kārpaṭika Bettler, Landstreicher dafür setzen. Kāpāṭika (von kapaṭa Trug) und kārpaṭika (von karpaṭa Lumpen) ließen sich nicht streng auseinander halten.


13 Solche maitres de plaisir haben natürlich auch Hüterpflichten bei den ehelichen und außerehelichen Vergnügungen des Fürsten. Daher dürfen nur liebesfeuerfeste Männer genommen werden. Daß aber einfach Aufseher der Königinnen und Liebchen des Herrschers gemeint seien, wie Gaṇ. meint, stimmt nicht. Dazu wurden Verschnittene gebraucht.


14 Oder: »während er (doch vorher) in der Treue feststand«? Aber dhṛiti bedeutet Beständigkeit, fester Wille. Jollys nāgatvāntar ist nicht gut. Gaṇ. liest nāgatvāntam: »und es möchte der Geist nicht umkehren (auf der eingeschlagenen schlimmen Bahn), ehe er zu seinem Ziel gelangt ist usw.«. Gerade diese wertvollen Willensstarken können also in dieser Weise verdorben werden und dem Fürsten verloren gehen. Shamasastris Lesart paßt besonders gut in den Zusammenhang und konnte nicht so leicht aus jener entstehen wie jene aus ihr.


15 Adhishṭhāna wörtlich etwa »Operationsbasis«. Statt kārye liest Gaṇ. cārye »bei der Ausspionierung«. Aber cārya kommt in diesem Sinne sonst nirgends bei Kauṭ. vor und ist verdächtig. Amātya eigentlich Hausgenosse »Geselle«, bedeutet also allem Anschein nach weder in diesen drei letzten Kapiteln noch sonst oft bei Kauṭilya einfach Minister, obwohl ich es fast überall so übersetzt habe, sondern eher etwa: »Vertrauensmann«, und es könnte öfters mit mahāmātra »hoher Würdenträger« gleichgesetzt werden. So bezeichnet es 22, 12 die 18 tīrtha des Fürsten. Auch Familienangehöriger und Unterkönig heißt es bei ihm (312, 8; 345, 5; 360, 6; 398, 13). – Auch hier zeigt sich Kauṭilyas Hirn und Herz im besten Lichte, wie z.B. in den schönen Ausführungen des bald folgenden 17. Kapitels. Er hält es also nicht mit manchem unter seinen Landsleuten und mit Anselmo im Don Quijote (I, Kap. 33). Siehe mein Daçakumārac 103, Anm. 2.


A1 Die listigen Proben fordert z.B. auch MBh. XV, 5, 14 (amātyān upadhātītān); II, 5, 43; Rām. II, 100, 26.


A2 Daß solch unzuverlässige Leute an diese Vertrauensposten gestellt werden sollen, kommt auch M. spanisch vor; denn in VII, 62 macht er aus den açucīn kurzer Hard çucīn. Dort heißt es: »Von diesen (wohlgeprüften amātya) soll er die mutigen, geschickten, aus edler Familie entsprossenen in Staatsgeschäften anstellen, die ehrlichen in ākara und Fabriken (karmānta), die furchtsamen in den inneren Gemächern«. vgl. Vish. III, 16ff.; Y. I, 321. In den ākara Aufseher zu sein, ist nach der Smṛiti eine Sünde und Schande für den Brahmanen. Siehe M. XI, 64; Vish. XXXVII, 22; Y. III, 239. Auch nach der Stelle aus Çankha, die Govinda zu B. I,5, 61 zitiert, sind die ākara unrein. Andererseits erklären B. I, 5, 50 (= I, 5, 9, 3) und Vish. XXIII, 48 alle ākara seien rein außer den Likörfabriken (surākara). Nach den Scholiasten sind ākara Herstellungsstätten (utpattisthāna) von Zucker, Salz usw., und zu Vish. XXXVII, 22 bemerkt Nandapaṇḍita, ākara sei suvarṇarajatādyutpattisthā na, fährt aber fort, das sarva davor deute an, daß auch die Herstellungsstätten von Zeug (vastra) usw. eingeschlossen seien. Danach schiene ākara von ākaroti herantun, hervorbringen zu kommen (ākurvanty asmin, wie das Schol. zu Paṇini III, 3, 118 sagt). Bei Kauṭ. hat ākara sonst seinen gewöhnlichen Sinn (z.B. 81, 13ff.), und hier steht ja khani Fundstelle von Edelsteinen oder Metallen. In der Smṛiti wird jedenfalls ākara zugleich Fund- und Bearbeitungsstätte für Metalle und Edelsteine sein. Diese umfassende Bedeutung hat ākara wohl auch in der von Nandap. und Jolly mißverstandenen Stelle Vish. III, 52–55: »Und der König übe nicht Güterkonfiskation. Er zerstöre nicht die Quellen der Nahrung« (was durch allzureichlichen Vermögensraub geschähe; wer der Kuh das Euter abschneidet, bekommt keine Milch, wie MBh. XII, 70, 16 dem Fürsten zu Gemüte führt) ... »Er ziehe alles aus den Fund- und Herstellungsstätten.« Ādyadvārāṇi sind kaum »die Haupteinnahmequellen«. Ādya die Nahrung findet sich z.B. auch in M. VII, 129, und zu den acht Friedens- oder konstruktiven Werken des Fürsten (saṃdhānakarman) gehören ja auch die zwei: khanyākarakarādāna nach Nīl.'s Zitat zu MBh. II, 5, 22; III, 268, 11. Nun wird im Kauṭ. das a privativum ungezählte Male verkehrt gesetzt. Sarvatra çucīn wäre also eine naheliegerde Änderung, und çuci ehrlich hat auch das Arthac. oft. So bekämen wir: »Leute, die in allen Stücken ehrlich sind, möge er in Minen ... anstellen.« Diese müßten dann nur als redlich bekannt sein, brauchten aber nicht den genannten Proben unterworfen zu werden.


A3 Ebenso wird mahāmatta und amacca im Pali öfters als gleichbedeutend angesehen. Fick, Soz. Glied. 99, Anm. 1.

Quelle:
Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthaçāstra des Kauṭilya. Leipzig 1926, S. 14-17.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Frau Beate und ihr Sohn

Frau Beate und ihr Sohn

Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.

64 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon