Fünftes Kapitel (108. bis 110. Gegenstand).

Überlegung, ob der Anzugreifende oder der Widersacher anzupacken sei. Ursachen, weshalb die Untertanen herabkommen, habgierig und dem Fürsten abhold werden. Betrachtungen über Allierte.

[422] Wenn die unheilbedrängte Lage der zwei Nachbarfürsten die gleiche ist, soll da der Fürst gegen den »Anzugreifenden« (yātavya) oder gegen den Widersacher (amitra) in die Schlacht ziehen? Gegen den Widersacher. Hat er Erfolg gegen diesen, dann gegen den »Anzugreifenden«. Denn hat er Erfolg gegen den Widersacher, dann mag ihm (dem angreifenden Fürsten) der »Anzugreifende« Hilfe leisten, nicht aber der Widersacher, wenn er gegen den Anzugreifenden Glück hat.1

[422] Gegen den, »Anzugreifenden«, der in schwerer Not ist, oder gegen den Widersacher, der in geringer Not ist? »Gegen den, der in schwerer Not ist, soll er in die Schlacht ziehen, weil die Sache da leichter zu machen ist«. So die Lehrer.

Nein, also Kauṭilya. Gegen den Widersacher, der in geringer Not ist, marschiere er los. Sogar eine geringe Not wird zur Drangsal, wenn man angegriffen wird. Wohl wahr, es wird auch die schwere Not (des Anzugreifenden durch den Angriff auf ihn) noch schwerer. Wird aber der Widersacher, der in geringer Not ist, nicht angegriffen, dann wird er mit Leichtigkeit seine Not [423] abstellen und dann dem Anzugreifenden zu Hilfe eilen. Er wird (den Eroberer) im Rücken packen.2

Wenn es sich trifft, daß zu gleicher Zeit mehrere Anzugreifende da sind, soll er dann gegen den von schwerem Mißgeschick betroffenen, aber richtig regierenden, oder gegen den von geringem Mißgeschick betroffenen, aber unrichtig regierenden oder gegen den seinen Untertanen mißliebigen ziehen? Gegen den seinen Untertanen mißliebigen. Wird der von schwerem Mißgeschick betroffene, aber richtig regierende angegriffen, dann helfen ihm die Untertanen. Den von geringem Mißgeschick betroffenen, unrichtig regierenden lassen sie nur ruhig stecken. Sind sie aber dem Herrscher abgeneigt, so vernichten sie sogar einen Starken. Darum soll er gegen den ziehen, der seinen Untertanen mißliebig ist.

Soll er gegen den in die Schlacht ziehen, dessen Untertanen herabgekommenen und habgierig sind, oder gegen den, dessen Untertanen auf Abwege geraten sind? »Gegen den, dessen Untertanen herabgekommen und habgierig sind. Denn die herabgekommenen und habgierigen Untertanen werden leicht der Einflüsterung oder der Drangsal nachgeben. Nicht aber die auf Abwege geratenen, die man dadurch in seine Gewalt bekommt, daß man ihre Hauptleute (Rädelsführer) zu Boden drückt«.3 So die Lehrer.

[424] Nein, also Kauṭilya. Denn die herabgekommenen und die habgierigen Untertanen, sind sie nur gegen den Herrn liebevoll gesinnt, stehen zu dem, was ihm frommt. Oder sie werden doch die Einflüsterungen fruchtlos machen. Denn wo Liebe, da die Fülle aller Tugenden.4 Darum möge er gegen den ziehen, dessen Untertanen auf Abwege geraten sind.

Soll er gegen einen Starken, der unrichtig regiert, oder gegen einen Schwachen, der richtig regiert, in die Schlacht ziehen? Gegen den Starken, aber unrichtig Regierenden. Dem Starken und unrichtig Regierenden helfen, wenn er angegriffen wird, seine Untertanen nicht; sie verjagen ihn oder gehen zu seinem Widersacher über. Dem Schwachen und richtig Regierenden aber stehen die Untertanen bei oder folgen ihm sogar, wenn er fliehen muß.

Durch Unterdrückung der Guten nämlich und durch Begünstigung der SchlechtenA1 und durch die Anwendung von unerhörten, ungerechten Schädigungen, durch Aufhebung der altgewohnten, frommen Bräuche, durch Hingebung an das Böse und durch die Niederhaltung des Guten (der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit usw.), dadurch, daß der Fürst das tut, was nicht zu tun wäre (das Unnötige und das Schlechte tut), und das, was er tun sollte, zu Wasser werden läßt, dadurch, daß er nicht gibt (schenkt oder bezahlt), was er geben sollte, und eintreibt, was nicht gegeben zu werden braucht,5 dadurch, daß er die zu Strafenden nicht straft und die zu Strafenden grausam straft; dadurch, daß er die packt, die er nicht packen sollte, und die nicht anpackt, die er packen sollte;6 dadurch daß er unnütze Dinge tut und die zweckdienlichen hindert; dadurch, daß er vor Dieben und Räubern nicht schützt und selber die Seinigen ausplündert; dadurch, daß er kräftiges Menschenwirken in Wegfall bringt und die Vorteile der Tätigkeiten schlecht macht; dadurch, daß er die Hervorragenden schädigt und die zu Ehrenden mißachtet; durch Feindseligkeit gegenüber den Altfahrenen und Fortgeschrittenen und durch Ungerechtigkeit und Unwahrheit; dadurch, daß er nicht vergilt, was (für ihn) getan worden ist, und was still steht, nicht ausführt,7 und durch des Königs Nachlässigkeit[425] und Trägheit, wo es gilt, Neuerwerb und ruhigen Fortbesitz zu sichern,8 entstehen Verarmung, Habgier und Abneigung (gegen den König) bei den Untertanen. Sind die Untertanen verarmt, dann verfallen sie in Habgier, die Habgierigen in Abneigung gegen den König, und die dem König Abgeneigten gehen entweder zu seinem Widersacher über oder töten selber ihren Herrn.

Deshalb soll er die Ursachen der Verarmung, Habgier und Abneigung der Untertanen gar nicht aufkommen lassen, oder sind sie aufgekommen, sie sofort abstellen.

(Was ist schlimmer für den Herrscher:) Verarmte, habgierige oder abholde Untertanen? Den Verarmten nach dem Sinn ist in ihrer Angst vor Bedrückung und Vernichtung nur eine sofort entscheidende Schlacht oder die Flucht.9 Die Habgierigen nehmen, weil sie wegen ihrer Habgier unzufrieden sind, begierig die Einflüsterungen der Feinde auf. Die (dem Fürsten) Abholden erheben sich in Aufruhr bei einem Angriff des Feindes (gegen ihren Herrscher)A2.

Wenn der Untertanen Geld und Getreide erschöpft ist, so schädigt das alle und ist schwer wieder gut zu machen. Der Verlust an tüchtigen Männern läßt sich durch Geld und Getreide wett machen.10 Die Habgier, die ja nur auf einen Punkt gerichtet und nicht an Führer gebunden ist, kann durch Sättigung an den Gütern des Feindes gestillt oder gar (für den Dienst des Herrschers) gewonnen werden.11 Die Abholdheit (d.h. die Unzufriedenheit unter dem [426] Volk) kann durch die Unterdrückung der Rädelsführer bemeistert werden; denn ohne Führer werden die Untertanen nutzbar und den Einflüsterungen der Feinde unzugänglich; sie, die kein Unglück (das über den Fürsten und das Land kommt) zu ertragen fähig sind, werden dadurch, daß man die Führer der gemeinen Leute12 anpackt, vielfältig zerspalten, wohlverwahrt und fähig Unglück zu ertragen.13

Auch was die Alliierten betrifft, soll er erst die Gründe, die sie zu Frieden oder Krieg bewegen können, in Betracht ziehen und dann, wenn sich bei ihnen Macht und Ehrlichkeit vereinigen, sich mit ihnen zusammentun und [427] ins Feld ziehen. Denn der Mächtige ist entweder imstande, ihm in den Rücken zu fallen oder ihm bei dem Kriegszug Hilfe zu leisten. Der Ehrliche tut, was anständig ist,14 mag die Sache nun gelingen oder mißlingen.

Soll er, was die Alliierten betrifft, mit einem, der stärker ist als er, oder mit zwei ihm Gleichstehenden sich zusammentun und ins Feld rücken? Mit zwei ihm Gleichstehenden ist besser; denn zusammen mit dem Stärkeren ist er beständig niedergehalten; zusammen mit den zwei ihm Gleichstehenden kann er beständig Übervorteilung oder gar eine Oberherrschaft ausüben.15 Denn sie sind leicht miteinander zu entzweien, und wird einer von ihnen bösartig, dann kann er leicht durch die zwei anderen im Zaum gehalten werden und dazu kommen (d.h. gebracht werden), die Abspenstigmachung anzunehmen.16

Zusammen mit einem Gleichstehenden oder mit zwei Schwächeren? Mit zwei Schwächeren ist besser. Denn die zwei werden das ausführen, was nur von zweien gemacht werden kann, und sich seinem Willen fügen. Ist aber zustande gebracht, was auszuführen war, so gilt folgendes:

Von dem Stärkeren (Alliierten), der sein Ziel erreicht hat, soll er, seine Absicht versteckend, unter einem Vorwand weggleiten.17 Vor [428] dem Unredlichen aber, der sich in seinem Betragen redlich zeigt, sehe er sich vor, bis er ihn entlassen hat. Oder auch beständig auf der Hut bleibend, entschlüpfe er dem Hinterhalt (in den jener ihn locken will), nachdem er erst seine Gemahlin weggebracht hat.18 Denn sogar von dem Gleichstarken, der seinen Zweck erreicht hat (also den Betreffenden nicht mehr braucht), droht dem Vertrauenden Gefahr.

Und da der Gleichstarke, der seinen Zweck erreicht hat, dadurch sogar in die Stellung eines Stärkeren versetzt ist, wird er (in Gesinnung und Betragen gegen seinen Verbündeten) umgewandelt.19 Und wer erstarkt ist, dem ist nicht mehr zu trauen; der Erfolg verdirbt die Seele.20

Hat einer aber von einem Stärkeren auch nur einen kleinen Anteil erhalten, dann gehe er zufriedenen Gesichtes davon, ja sogar ohne Anteil. Später mag er ihn (den Unverschämten) dann auf die Hüfte nehmen und ihm das Doppelte entreißen.21

Hat aber der führende Fürst (netar) selber sein Ziel erreicht, dann soll er seine Verbündeten heimschicken. Mag er dabei (bei der Beuteverteilung) sogar verlieren und nicht gewinnen, seinem Staatenkreise wird er so angenehm.22

Fußnoten

1 Vielleicht sollte man geradezu übersetzen: »Ist dieser überwältigt (tatsiddhau) dann gegen den Anzugreifenden. Denn hat er den Widersacher überwältigt, dann mag ihm (d.h. dem ›Eroberer‹) der Anzugreifende Hilfe leisten, nicht aber der Widersacher, wenn er den Anzugreifenden überwältigt hat«. Aber wozu braucht er dann noch Hilfe? Um die Beute zu genießen? Dieser Einwurf gilt, obwohl mit geringerer Kraft, auch bei der Übertragung im Text. Man muß sich da wohl erinnern, welch unsichere Sache nach der Ansicht derselben indischen Staatsmänner, die fortwährend den Krieg predigen, der Krieg ist, d.h. der offene. Da kann man gar nicht vorsichtig und stark genug sein, und das in die Enge getriebene Wild setzt sich leicht zu verzweifelter Wehr, wie auch Kauṭ. uns des öftern belehrt. So also die wahrscheinlichste Auffassung. Aber zunächst einmal bedeutet siddhi ja beides: Das Überwältigen und das Überwältigtwerden, also Sieg und Niederlage, und selbst wenn wir bei Glück oder Sieg bleiben, kann tatsiddhau heißen: »bei Glück des Betroder: »bei Glück gegen den Betr.«. Sodann: Wer ist mit »ihm« gemeint? Wird dem Angreifenden oder dem Angegriffenen geholfen, bezw. nicht geholfen? Bezeichnen wir also den angreifenden Fürsten oder den Eroberer mit E, seinen Widersacher mit W, den »Anzugreifenden« mit A, dann ergibt sich folgendes Zusammensetzspiel sprachlicher Möglichkeiten:


I.II.


1. E besiegt W, A hilft EE besiegt A, W hilft nicht E

2. E besiegt W, A hilft WE besiegt A, W hilft nicht A


Dann aber:


3. W besiegt E, A hilft WA besiegt E, W hilft nicht A

4. W besiegt E, A hilft EA besiegt E, W hilft nicht E.


In der Kolumne I wäre da alles in Ordnung. Denn: In der ganzen Welt bekundet das »Staatentier« Mensch sich als die vollkommenste Tierart auch vor allem dadurch, daß es zum Teil aus Instinkt, zum Teil aus politischer Berechnung mit himmlischem Vergnügen auf den eindringt, der schon von anderen schwer bedrängt wird. Und: Im Arthaçāstra hilft das Staatentier öfters auch dem bös Umkrallten, weil es Angst hat, der Sieg- und Machttrunkene möge dann ihm selber den Garaus machen. Die ganze Kolumne I wäre also in sich selber völlig einwandfrei. Nun zu ihrem Nebenspiel oder Korrelat Kolumne II. Zeile 1 ist besprochen. Zeile 2 scheidet reinlich aus, denn Kauṭ. sagt uns in 273, 7–8, daß der Widersacher dem bedrängten »Anzugreifenden« beispringe. Auch Zeile 3 müssen wir natürlich streichen. Nun noch Zeile 4: »Hat (wirklich) der Widersacher Erfolg, dann mag ihm (dem Eroberer in seiner Not) der ›Anzugreifende‹ Hilfe leisten, nicht aber der Widersacher (dem Eroberer), wenn der Anzugreife Erfolg hat«. Der »Anzugreifende« hat nämlich Angst vor dem Allzuglücklichen. Warum sollte da nicht ebenso W aus Furcht vor zu großer Erstarkung des A dem E beistehen? Sein Haß gegen E hindert ihn doch nicht, mit E zusammen auf gemeinsame Unternehmungen auszuziehen (wie gleich im 6. Kap.)! Aber Kauṭ. sagt: »Er tuts nicht«. So wäre ebenso wie Zeile 1 auch diese Zeile sachlich annehmbar. Aber vor ihr liegt der sprachliche Stein des Anstoßes, daß tatsiddhau heißen soll: »wenn dieser unterliegt« und amitrasiddhau »wenn der Widersacher siegt«. Macht der auch nicht hinfallen, so doch bös stolpern. Also ergibt auch diese mühsame Probe auf das Exempel, daß die Übersetzung im Text richtig sein wird.A3


2 Gut würde passen: »Er wird ihm (dem Anzugreifenden) den Rücken decken.« Aber obwohl diese Bedeutung von pārshṇiṃ gṛihṇāti im Epos gebräuchlich ist, so doch sonst nicht bei Kauṭ.


3 Hier überall apacarita, obwohl apacārita öfters besser passen würde. Die Rädelsführer aber zeigen, daß nicht übersetzt werden sollte: »schlecht behandelt«; denn sonst hat pradhāna, das hier, wie oft anderwärts, Hauptleute, Rädelsführer bedeutet, keinen ordentlichen Sinn, und »Hauptsünder«, also die Unterdrücker des Volkes, oder die chief men of the state (Sham.) geht nicht, schon wegen der Parallele 275, 11ff., wo sogar Sham. pradhāna richtig versteht. Daß das Volk an und für sich ungefährlich sei, und daß der Herrscher nur dessen Führer oder Verführer rasch unschädlich machen müsse, ist nicht nur Kauṭilyas, sondern wohl aller Inder Meinung. Sie wäre auch ausnahmslos richtig, wenn nicht doch, zuweilen wenigstens, der Dichter Recht hätte:


Der Gedanke wird sich doch befreien.

Schließt den Menschenmund, die Seelen schreien.

Unaufhaltbar durch die Völker schreitet

Jener Geist, der Höheres bereitet.


Was der Geist gebietet, wird geschehen.

Der erwürgte Gott wird auferstehen.

Tötet die getreuen Sonnenstreiter,

Neue weckend zieht die Sonne weiter.


Da Akāli, das der Zeit und dem Tod Entrückte, können selbst die Kerker, Knüttel und Kanonen der Engländer nicht umbringen, mögen auch noch so viele Sikhs, ja sogar noch so viele Gandhi und andere Apostel aus dem Wege geräumt werden. Gerade Indien beweist am herrlichsten, daß die vielfach so scharfsichtigen altindischen Politiker im Grunde blind sind.


4 Wörtl.: »Bei der Zuneigung ist die Begabtheit mit allen Tugenden« – ein tiefes Wort, das hier besagen will: »Liebt man einen, dann sieht man an ihm alle Tugenden,« aber ebenso wohl: »Haben die Menschen nur Liebe zu einem, dann zeigen sie alle Tugenden gegen ihn«. Vgl. 324, 17–18.


5 Dergleichen ist z.B. alles, was vedagelehrten Brahmanen gehört. Die sind in jeder Hinsicht zollfrei, keineswegs aber die Gedanken. Vgl. Çaṅk. zu Kām. XIV, 52.


6 Abhigraha also wohl Ergreifung, Verhaftung wie 213, 10; upagraha Festnehmen, Gefangensetzen, Unschädlichmachen wie 330, 7 und öfters upagṛihṇāti.A4


7 Kṛita mithin wie in 280, 3 die für einen aufgewandte Mühe, die Wohltat. Wenn er also, wo die Leute für ihn arbeiten, sie nicht belohnt, und wo etwas ganz still steht, wo sie nichts tun, sie nicht vorwärts treibt. Oder: dadurch, daß er das ihm Angetane nicht rächt und das Rechte nicht tut (sthita = yathāsthita)? Oder sthita das Beschlossene? Oder: Dem Bösen, das getan (andern angetan) worden ist, nicht entgegentritt, dem Schlimmen, das geschehen ist, nicht abhilft? kṛi (c. acc., auch Gen. der Pers. = »jemand Böses zufügen« findet sich öfters im Epos (z.B. MBh. V, 177, 41; VII, 55, 18; VI, 168, 14; XII, 139, 36ff.; II, 5, 49; Rām. V, 26, 21). Vgl. Weib im altind. Epos 257, Anm. 1. Pratikṛi (mit acc. der Pers.) auch jemand etwas vergelten, heimzahlen (Gutes und Böses) in MBh. XII, 105, 18; 114, 16; Kām. IX, 11 usw.


8 Nach der anderen Lesart: »durch Nachlässigkeit und Trägheit und durch Vernichtung der allgemeinen Wohlfahrt«.


9 Fällt die erste Schlacht unglücklich aus, dann laufen sie davon und verzweifeln; denn sie sagen sich: »Geht es uns jetzt schon so schlecht unter unserem eigenen König, was soll aus uns werden, wenn uns ein fremder in seine Klauen kriegt!« Nach der Lesart sadyaḥ sandhiṃ yuddham etc.: »Die Verarmten wollen in ihrer Angst sofort Friedensschluß oder (sofort) Schlacht oder (sofort) Flucht«. Sie können also nicht bis zu dem jeweils günstigen, von der Politik gutgeheißenen Zeitpunkt warten.


10 Oder: Der Verlust an Kriegstieren und Mannschaft (yugyapurusha). Um Geld kann man sich ja alles kaufen. Vgl. 288, 14ff.


11 Es ist eine alte Geschichte und bleibt doch ewig neu: Die Regierenden beschwichtigen die Habgier und die Unzufriedenheit der Untertanen damit, daß sie sie in den Krieg und auf das Gut des Feindes hetzen. Da werden die Betörten sogar Feuer und Flamme für den Serenissimus, heiße er nun Fürst einer absoluten Monarchie oder Minister einer freien Republik, dies um so mehr, als der ganze Hexensabbat der entfesselten Habsucht ja jetzt als Gottesdienst für die Sache der edelsten Menschheitsgüter ausposaunt wird und auch das geringste Metzgerknechtlein der sacra auri fames sich als Hoherpriester geistiger und sittlicher Ideale fühlen kann. Die Lesart mukhyāyatta »auf die Führer beschränkt«, geht gar nicht, denn daß die Habsucht nur den Führern anhafte und nicht dem Volk, verstößt gegen die Wahrheit und gegen Kauṭilyas Anschauung. Wohl aber ergibt sich ein guter Sinn, wenn man einen Apostroph vor das Wort setzt: »die Habsucht, die ja nicht auf die Führer beschränkt ist«, sondern allgemein ist, oder noch besser und im Einklang mit der gewöhnlichen Bedeutung von āyatta: »die ja nicht von den Führern abhängig (sondern freies Eigengewächs auch des alltäglichen Spießbürgers) ist«. Die Unzufriedenheit der Untertanen dagegen wird künstlich gemacht, oder wenn nicht das, so erlischt doch die Flamme gar rasch, wenn ihr das Öl der Rädelsführerbosheit entzogen wird. So Kauṭilya. Also wird 'mukhyāyatta zu lesen sein; denn mukhya + ayukta ist doch nicht recht natürlich, wenn auch vollkommen möglich für a + mukhyayukta. Doch könnte man ja 'mukhyayukta lesen. Der Sinn bleibt im wesentlichen immer derselbe.


12 Prakṛiti = prakṛitipurusha Mann aus dem gewöhnlichen Volk, auch Gemeiner im Gegensatz zum Offizier (mukhya). Siehe 330, 1; 386, 1.


13 Wörtlich, mit bösem Hohn: »die zwar kein Unglück zu ertragen Fähigen, werden aber dadurch« usw. (tu-tu). Mit dieser Stachelrede Kauṭ.'s vgl. die Worte seines heutigen indischen Landsmannes Mahātma Gandhi: »Ich tröste mich mit dem Bewußtsein, daß nichts so leicht ist, als den Pöbel zu meistern, der keinen ausgeprägten Willen hat«. Romain Rolland, Mahātma Gandhi. Deutsch von E. Roniger, Zürich-Erlenbach, S. 59. Beide sagen dasselbe und doch: fast immer hat Kauṭ. Recht, der an den Zwang zu dem denkt, was im Grunde das Volk im Schlechten und erbärmlich Alltäglichen erhält, Unrecht der Heilige und Gottbegeisterte Gandhi, der von der Hinleitung zum Edeln und Menschenerhebenden redet. Möglich scheint auch die Übersetzung: »denn ohne Führer werden die Untertanen nutzbar und den Einflüsterungen anderer unzugänglich, aber (auch) unfähig Unglück zu ertragen; durch Begünstigung der Führer der gemeinen Leute aber werden die (sonst) vielfach zerspaltenen wohl verwahrt und fähig Unglück zu ertragen«. D. h. von den Führern strömt die Kraft in das Volk aus. Dann aber geht das tu-tu zwaraber, das wir schon 175, 1–3 fanden, verloren, und dann wäre es ja Torheit vom König, die Führer wegzuräumen, während dies doch soeben und sonst gar oft eingeschärft worden ist. »Führer« sind nur dann ein Segen, wenn sie stockdumm und sogar noch lasterhaft dazu sind, wie wir vernommen haben. Pragraha bedeutet nun zwar gewöhnlich Begünstigung, aber auch das Gegenteil (vgl. pragrahaṇa Niederdrückung, Niederhaltung 309, 13; MBh. XII, 56, 5), gleicht also upagraha. Die Frage ist ja nur: Was ist schlimmer: Verarmung, Habgier oder Herrscherfeindlichkeit der Untertanen? Kauṭ. antwortet: Mit den zwei letzten kann der König schon fertig werden. Die erstgenannte aber ist eine gar böse Sache, und zwar gerade die Einbuße oder der Schwund von Geld und Getreide, während sogar Menschenverlust daneben keine Bedeutung hat. Eine ähnliche Stelle ist 294, 15ff., wo sich aber ebenfalls keine Sicherheit gewinnen läßt.


14 Yathāsthita. Vgl. Çaṅk. zu Kām. XI, 6. Oder vielleicht eher: »wie festgesetzt oder abgemacht worden ist«. In dem von Jolly aus B mitgeteilten Einschub zu 323, 12 heißt yathāsthita: »wie es eingerichtet ist, im Einklang mit dem Bestehenden,« Kuṭṭan. 375: den Umständen gemäß. Siehe auch Kauṭ. 346, 4 mit dem etwa gleichbedeutenden kalyāṇabuddhi. Kalyāṇa wird von Çaṅk. zu Kām. XVIII, 31 mit avisaṃvādaka »sein Wort haltend« erklärt.


15 Der Text hieße etwa: »Zusammen mit den zwei Gleichstehenden lebt er durch Übervorteilung sogar in überragender Stellung«. Nun hat zwar Kauṭ., soviel ich sehe, wirklich vā = eva ziemlich häufig (etwa 153, 19; 179, 16–18; 249, 4; 253, 11; 267, 11ff.; 322, 12). Aber sehr oft deutet solch ein befremdendes auf eine Lücke im Text oder eine andere Ungehörigkeit. Auch wäre atisandhānādhikya in dem hier angenommenen Sinn zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich. Alles wird weit einfacher, wenn man atisandhāya oder atisandhāna ādhikye einsetzt.


16 Auch die Lesart copagantum hebt nicht die Schwierigkeit. Man braucht ja ein zweites transitives Zeitwort. Also müßte es eher upagamayitum sein. Am nächsten läge copayantum: »ihn hinzuhalten, hinzuzwingen in die Annahme der Abspenstigmachung«, d.h. ihn dazu zu zwingen, sich abtrünnig machen zu lassen. Der dushṭa oder Verdorbene wäre also ein Verräter (vgl. dūshya), der mit dem Feinde Beziehungen angeknüpft hat und nun wieder von ihm abgebracht werden muß. Aber ich könnte upayantum in diesem Sinn nicht belegen, und wunderlich klingt die ganze Ausdrucksweise. Vernünftig ist Sham.'s Übersetzung. Aber die Grammatik erhebt Einspruch. Glatt wäre etwa das noch immer nahestehende: bhedopagrahāc cāpayantum: »und ihn von der günstigen Aufnahme der Abspenstigmachung (der Verlockungen zum Abfall) abzuhalten«.A5


17 Dieser Satz gehört also zu den Versen, bildet die erste Halbzeile der Schlußstrophen und lautet in seiner richtigen Form: kṛitārthāj jyūyaso gūḍhaḥ sāpadeçam apasravet. Denn zunächst einmal zeigt die in ihrem ersten pāda bis auf jedes Tüpfelchen gleichgebaute Zeile 12: Kṛitārthas tu svayaṃ netā usw. schon durch ihr tu, das sich auf unser kṛitārtha jyāyāṃs bezieht, die Gegenüberstellung deutlich an. Sodann hat in Sham.'s Text ja der letzte Çloka drei Zeilen, was bei Kauṭ. nicht vorkommt. Endlich läßt sich aus 386, 12–13: kṛitārthāc ca sāpadeçam apasrāvayet mit völliger Sicherheit jedes Wort erschließen. Apasravati, wegrinnen, dann leise weggleiten, bildet das auch in 335, 6 erscheinende apasrāvayati wegrinnen machen, d.h. leise, unbemerkt, allmählich, in schlauer Weise wegnehmen. Die von Sham. in der zweiten Textausgabe verzeichnete Variante stimmt also aufs Beste. Apasijet kann schon deshalb nicht richtig sein, weil es nicht in den Vers paßt.


18 Richtiger wohl: sein »Frauenzimmer« d.h. seinen Harem (kalatra). Mit gūḍhaḥ vgl. saṃvṛitaḥ 303, 2; 256, 1 (B).


19 Oder einfach: »wird in die Stellung eines Stärkeren hinüberversetzt (viparikalpyate)«?


20 Oder: »verändert die Gesinnung«. Vgl. 303, 13f.


21 Aṅke pragṛihṇāti fasse ich als Ringerausdruck, also = ihn gehörig packen. Vgl. aṅke kṛi 33, 1. NB. Nachträglich sehe ich, daß ich trotz längerer Beschäftigung mit dem Arthaçāstra seines Geistes doch kaum einen Hauch verspürt habe. Meine Vermutung, daß ein Ringerausdruck vorliege, trifft zwar zu, nur steckt er wohl in pragihya allein. Pragraha im Ringkampfjargon ist nämlich = galahastaka (s. MBh. VII, 142, 42ff. und Nīl.). Die richtige Übersetzung lautet also jedenfalls: »Wenn er dann dem vertrauensvoll Gewordenen im Schoße sitzt (wie ein liebes Kind), dann packe er ihn an der Gurgel und nehme ihm das Doppelte ab«. Eigentlich: »auf der Hüfte (sitzt)« wie die indischen Kleinen ihren Müttern. Da hat der andere ihn ja nicht unter den Augen!A6


22 Die Fürsten sind also Spieler. Lieber soll der Führende selber den Einsatz verlieren, als daß er andere um das Ihrige bringt. Denn der Unterliegende oder Verlierende brütet Rache. Damit wird die Gegenüberstellung des kṛitārtha von Zeile 4 (und der folgenden) mit seiner törichten Unverschämtheit und des kṛitār tha in Zeile 12 mit seiner klugen Bescheidenheit vollendet. Diese ganze Darlegung von 275, 14 an ist also eine Ergänzung zum letzten Teil des vorhergehenden Kapitels, d.h. sie handelt vom sambhūyaprayāṇa, denn auch dort spricht Kauṭ. von sāmavāyika und samavāya. Im folgenden Kapitel kommt das saṃhitaprayāṇa, »Feldzug im Bündnis mit einem anderen«, und zwar ist dieser andere da allem Anschein nach der ari, d.h. der natürliche oder Erbfeind, der Nebenbuhler des Eroberers. Aber solch eine enge Beschränkung wird keineswegs festgehalten.


A1 Vgl. z.B. N. XVIII, 18; Kauṭ. 328, 16f. und zu all den Versen Nītiv. 85, 2ff.; Kām. XIV, 51ff.


A2 Besser: »erheben sich ebenfalls bei einem Angriff des Feindes gegen ihren Herrscher«.


A3 Dieselbe Schwierigkeit, daß der Begriff entweder des Loc. oder der der siddhi von einem zum anderen umspränge, erhebt sich, wenn wir nach einer bei Kauṭ. gewöhnlichen Bedeutung von siddhi übersetzen: »Bei der Erledigung des Widersachers (d.h., wenn der Eroberer auszieht, den Widersacher abzutun), wird ihm der A. helfen«; und dann im ersten Satz: »bei dessen Erledigung« bzw. »nach dessen Erledigung«. Zusammen mit dem ari zieht der vijigīshu ins Feld, nicht mit dem amitra. Siehe Kap. 6. Der amitra wird in 257, 1 als nityāpakārin, als ständiger Leidzufüger, definiert. Aber diese haarspaltende Unterscheidung zwischen ari und amitra wird nicht festgehalten; und was z.B. in 258, 10 arisampad heißt, kann kaum etwas anderes sein als amitrasampad in 257, 1. Immerhin möchte es besser sein, ari etwa mit Nebenbuhler zu übersetzen, wie ich oft tue, und amitra mit Widersacher (Widerhold); denn der ari im engeren Sinn hebt sich heraus als Gegenspieler des Eroberers. Auch er ist eigentlich ein »Eroberer«.


A4 Nach der gewöhnlicheren Bedeutung von upagraha freilich: »dadurch, daß er die an sich zieht, die er nicht nehmen sollte, und die nicht zu seinem Dienst heranzieht, die er nehmen sollte«. So Gaṇ. Aber abhigrah heißt sonst bei Kauṭ. immer: ergreifen, abfassen, verhaften, angreifen, sperren (eine Furt). Siehe 149, 6; 212, 10–214, 10; 272, 15; 363, 12.


A5 Auch Gaṇ. liest atisandhānādhikye vā, hat dahinter aber keinen Punkt. Dann übersetze ich: »(Hat er sich) mit zwei Gleichstehenden zusammen(getan), so sind die zwei, wenn er nur an Übervorteilungskunst hervorragt, leicht zu entzweien.« Da macht vor allem Schwierigkeiten; auch stehen samābhyām und hi an ungehöriger Stelle. Natürlich klänge dann etwa: Samau hy atisandhānādhikye sukhau bhedayitum. Ebenso hat Gaṇ. gleich B.: bhedopagrahaṃ copagantum, schiebt aber in der Erklärung ruhig gamayitum unter.


A6 Gaṇ. liest prahitya statt pragihya und erwähnt noch die var. lect. prakitya. Mit prahitya bleibt der Sinn im wesentlichen der gleiche; denn aṅka bedeutet nicht randhra. Prakitya geht gar nicht; dies heißt doch nicht yatnaṃ kṛitvā, soviel ich weiß.

Quelle:
Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthaçāstra des Kauṭilya. Leipzig 1926, S. 422-429.
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