Zwölftes Kapitel (87. Gegenstand).

Mädchenentjungferung.[355] A1

Wer ein noch nicht menstruierendes Mädchen der gleichen Kaste entjungfert, den trifft die Handverstümmelung oder 400 paṇa Strafe. Stirbt sie, der Tod.

Für den, der ein schon menstruierendes Mädchen entjungfert, ist die Strafe Verstümmelung des Mittel-und des Zeigefingers oder 200 paṇa Strafe. Und dem Vater soll er die Schädigung bezahlen. Auch soll er, wenn sie es [355] nicht will, kein Bewerbervorrecht erhalten. War sie willig, beträgt die Strafe 54 paṇā; für die Frau aber die halbe Strafe.1 Ist sie schon durch den von einem anderen für sie erlegten Brautpreis mit Beschlag belegt, dann Verstümmelung der Hand oder eine Geldstrafe von 400 paṇa sowie Entrichtung des Brautpreises.2

Wer eine, die schon sieben Menstruationen erlebt hat und weiter keine Freier bekommt, entjungfert, soll bei ihr erste Bewerbervorrechte haben und braucht dem Vater keinen Schadenersatz zu zahlen.3 Durch die Schuld derer, die ihre Befruchtungszeit eitel machen, kommt sie aus der Muntschaft. Hat sie schon drei Jahre Menstruation hinter sich, so mag sie ohne Verschuldung zu einem Manne, der ihr gleich steht, gehen. Noch später zu einem Unebenbürtigen, falls sie noch nicht Braut geworden ist.4 Nimmt sie da vom Vater Gut an, so ist sie des Diebstahls schuldig.5

[356] Wenn jemand, indem er den einen Mann angibt, (ein Mädchen) für einen anderen bekommt, beträgt die Strafe 200 paṇa. Und er (d.h. dieser andere) soll kein Bewerbervorrecht erhalten, wenn sie es nicht selber will.6

Wer ein Mädchen (dem Freier) zeigt, aber ein anderes dann hingibt, zahlt 100 paṇa Strafe, wenn sie der anderen gleich, zweimal so viel, wenn sie weniger wert ist.7

Wenn eine bei der ersten Beiwohnung (in der Brautnacht) sich nicht mehr als Jungfrau erweist, dann beträgt die Strafe 54 paṇa und muß sie Brautpreis und sonstige Ausgaben wieder erstatten. Macht da eine mit Hilfe von Blut, das von da (d.h. von der vulva) kommt, sich wieder zur Jungfrau, dann muß sie das Doppelte geben. Schiebt sie dabei anderes Blut unter, dann beträgt die Strafe 200 paṇa. Ebenso für den Mann, der sie fälschlich beschuldigt (ihre Jungfrauschaft verloren zu haben), und er soll da Brautpreis und sonstige Ausgaben verlieren. Auch soll er, wenn sie es nicht will, kein Bewerbervorrecht erhalten (also kein Anrecht mehr an sie haben).A2

Eine von einer Frau Entjungferte soll, wenn sie willig war und von gleicher Kaste wie die Entehrerin (samānā), eine Strafe von 12 paṇa zahlen. Die Entehrerin eine doppelt so große. War das Mädchen nicht willig, dann beträgt die Strafe (der Entehrerin) 100 paṇa und muß sie wegen der Befriedigung der eigenen Leidenschaft den Brautpreis geben.8 Eine, die sich selber entjungfert (svayaṃprakṛitā), soll Königssklavin werden.

[357] Bei einer, die außerhalb des Dorfes entehrt worden ist, und bei fälschlicher Beschuldigung (daß eine ihre Jungfrauschaft außerhalb des Dorfes verloren habe), gilt doppelte Buße.A3

Wenn einer ein Mädchen mit Gewalt davonführt, dann trifft ihn eine Buße von 200 paṇa; wenn ein mit dem Gold (der Braut) geschmücktes (also schon verheiratetes, sasuvarṇām), dann die höchste Sāhasastrafe.A4 Wenn viele ein Mädchen davonführen, gelten für jeden einzelnen die Strafen, wie sie eben angegeben worden sind.

Wer die Tochter einer Kurtisane entehrt, zahlt eine Strafe von 54 paṇa und als Brautpreis an die Mutter sechzehnfach den Genußsold für sie.

[358] Wer die freie Tochter eines Sklaven oder einer Sklavin entjungfert, zahlt eine Strafe von 24 paṇa und gibt ihr den Brautpreis und den von ihr anzulegenden Schmuck. Entehrt einer eine Sklavin, die würdig oder fähig ist, sich loszukaufen, dann zahlt er eine Buße von 12 paṇa und gibt ihr Kleidung und Schmuck.9

Wer bei den genannten Vergehen Helfersdienste leistet oder die Gelegenheit verschafft, erleidet dieselbe Strafe wie der Täter.

Die abschweifende Gattin eines Verreisten soll ein Verwandter des Mannes oder ein Diener von ihm in Verwahrung nehmen. Von ihm in Verwahrung genommen soll sie auf den Gatten warten. Wenn der Gatte (dann [359] bei seiner Heimkehr (die Sache) ruhig hinnimmt, sollen beide (das Weib und ihr Liebhaber) frei ausgehen. Nimmt er es nicht ruhig hin, dann sollen der Frau Ohren und Nase abgeschnitten und ihr Buhle hingerichtet werden. Wer da den Buhlen (seiner Gattin) einen Dieb (cora) nennt, zahlt 500 paṇa Strafe. Wer ihn um Geld laufen läßt, das Achtfache (von dem, was er als Schmerzensgeld empfangen hat).10

Ehebruch wird erwiesen, wenn man die beiden Haupthaar an Haupthaar liegend getroffen hat, oder auch, wenn die Umstände sich zum Beweis für die Leibergenüsse zusammenschließen, aus den davon herrührenden Spuren oder aus den Worten der Frau.11

Wer das Weib eines anderen, das vom Feindesheer oder von einem Waldstamm geraubt, von einer Wasserflut weggeführt, in Waldwildnissen oder bei einer Hungersnot im Stich gelassen oder als Tote weggetan worden ist, rettet, mag sie nach der Verabredung (mit der Frau) genießen. Eine, die an Kaste über ihm steht, eine die nicht will, und eine, die Kinder hat, möge er um ein Lösegeld frei geben.

Der Mann möge die Frau von anderen, die er aus Räuberhand, aus der reißenden Flut eines Stromes, von Hungersnot oder aus Wirren im Land gerettet hat, oder die in die Waldwildnis verschwunden oder in der Meinung, sie sei tot, weggeschafft worden ist, nach Verabredung genießen; nicht aber eine, die wegen der Majestät des Königs oder von ihrer Familie hinausgestoßen worden ist, auch nicht eine von höherer Kaste (oder: von der höchsten, d.h. von der Brahmanenkaste), [360] noch eine die nicht will, noch eine die schon Kinder hat. Solch eine soll er um ein angemessenes Lösegeld (den Ihrigen) zuführen.12

Fußnoten

1 Damit ist nicht etwa das geschändete Mädchen gemeint, sondern ein Weib, das ein Mädchen seiner Jungfrauschaft beraubt, Geschlechtsumgang mit ihm hat (wobei sie z.B. einen künstlichen Penis gebraucht; vgl. Weib im altind. Epos 372, Anm. 3; R. Schmidt, Liebe und Ehe in Indien 254). Siehe Manu VIII, 367f., wo die Strafe des Mannes viel strenger ist.


2 Da upadhā bei Kauṭ. nur Betrug (z.B. 198, 7) oder listige Probe (16ff.) bedeutet, so ist schon deshalb nach Anleitung von B paraçulkoparuddhāyām zu lesen. Auch wenn man mit B avaruddhā annimmt, bleibt der Sinn der gleiche. Daß ein anderer die Betreffende für seinen Harem angekauft habe, kann auch dann unmöglich gemeint sein. Avaruddhā »mit Beschlag belegt« kommt ja öfters bei Kauṭ. vor. Wem er den Brautpreis leisten muß, erhellt nicht aus dem Ausdruck. Doch deutet çulkadāna schon an und für sich auf den Vater oder das Mädchen als Empfänger, und diese Auffassung wird gestützt durch 230, 4. Vielleicht aber ginge meine ursprüngliche Übersetzung doch: »die Wiedererstattung des Kaufpreises (an den Bräutigam)«.


3 Ich lese varāṇām statt parāṇām. Aber ganz wohl mag die Lesart von B. richtig sein: »Wenn einer eine, die schon sieben Menstruationen hinter sich hat, nicht erhält und sie nun nach seiner Werbung um sie entjungfert« usw.A5


4 Alaṃkṛitā hat jedenfalls diesen Sinn. Ist sie inzwischen wirklich vergeben worden, dann muß sie, wenn auch der Vollzug der Ehe gehindert sein sollte, noch warten.


5 Denn er ist nicht mehr ihr Vater, hat alle Rechte auf sie verloren. Vgl. Manu IX, 90f.: »Drei Jahre warte die Jungfrau, wenn sie in die Menstruation eingetreten ist. Nach Ablauf dieser Zeit aber heirate sie (selber) einen ihrer würdigen Gatten. Wenn eine, die nicht vergeben wird, selber zu einem Gatten geht (einen Gatten erlangt), wird sie keiner Sünde teilhaftig, noch auch der Mann, zu dem sie geht. Wählt aber ein Mädchen sich selber den Gatten, dann darf sie vom Vater keinen Schmuck annehmen, noch Mütterliches, noch vom Bruder Gegebenes. Es wäre ein Diebstahl, wenn sie das sich aneignete. Dem Vater aber soll der Mann, der ein menstruierendes Mädchen heiratet, keinen Brautpreis geben. Denn er tritt durch die Vereitlung ihrer Befruchtungszeiten aus der Herrschaft über sie aus (sa hi svāmyād atikrāmed ṛitūnāṃ pratirodhanāt)«. Und Vishṇu 24, 40 lehrt, schon nach drei Menstruationen habe sie immer freie Verfügung über sich selber, und wer sie nehme, den treffe kein Makel (vgl. Weib im altind. Epos 42f., 76; 162f., 165ff. u. bes. 45). Bei den Batamba (in Ostafrika) verkauft der Vater seine Tochter; ist sie aber 15 Jahre alt geworden, dann hat sie das Recht der Selbstvergebung (Anthropos VI, 370f.). In Maine und Anjou durfte das 25jährige Mädchen sich schwängern lassen; die Eltern aber wurden getadelt, weil sie sie nicht verheiratet hatten (Dunlop-Liebrecht 467). MBh. XII, 128, 18 spiegelt freilich eine spätere Anschauung, wenn es da heißt: »Hat das Mädchen, ohne verheiratet zu sein, das Pubertätsalter erreicht, dann ist die Hoffnung auf die Ehe für sie dahin«. Schön jedoch ist MBh. K. I, 76, 10–13: Die zur Mannbarkeit gelangte, aber noch nicht vermählte Maid steht tief betrübt unter einem Açoka, betrachtet im Spiegel ihr Bild und fordert den Baum auf, seinen Namen wahr und sie kummerlos zu machen.A6


6 Weit natürlicher schiene die Auffassung: »Wenn jemand unter dem Namen eines Mannes (also eines anderen Mannes ein Mädchen) für einen anderen (d.h. für sich selber) bekommt«. Aber param uddiçya wäre da doch etwas sonderbar und warum dann statt parasya vindato nicht einfach vindamānasya?


7 Manu VIII 204 sagt, dann solle oder dürfe der Freier sie beide um einen Kaufpreis bekommen.


8 Kanyāṃ kṛi (Manu VIII 267, 269) und kanyāṃ prakṛi werden beide mit »ein Mädchen entehren« übersetzt, bedeuten aber eigentlich nur: »ein Mädchen entjungfern, beschlafen«. Kṛi tun, machen, euphemistisch das allerunbestimmteste, allergemeinste Tätigkeitswort, wird wie in andern Sprachen für diese sehr besondere Handlung gebraucht. Prakaroti heißt eigentlich vorwärts tun, daher: zu einer höheren Stelle, einem höheren Rang erheben (z.B. MBh. XII, 119, 3; vgl. das häufige prakriyā); prakṛita gefördert, Kauṭ. 257, 4; 271, 11; an die Spitze gestellt, vorgesetzt, Beamter 63, 11; 67, 12. Prakṛitā ist also die »vorwärts getane« Maid, d.h. die über das vielfach unbequeme Zwischenreich der Jungfrauschaft hinauspromovierte. Im Gegensatz dazu bezeichnet dann unser paçcātkṛita »die Zurückgetane«, d.h. die wieder in die Jungfräulichkeit zurückversetzte.A7 Obwohl nun natürlich auch prakarman im Grunde nur den Koitus, ursprünglich und im besonderen den ersten Beischlaf bei einem Mädchen, die Entjungferung, also auch die erste Beiwohnung in der Brautnacht, die »Promovation« (»Vorwärtstuung«) zur Frau bezeichnet, so habe ich wie andere es öfters dennoch mit Entehrung oder Schändung wiedergegeben. Hat doch auch bei uns Entjungferung gewöhnlich den anrüchigen Sinn, obgleich, allen bösen Zungen und Federn zum Trotz, die meisten Entjungferungen völlig einwandfrei, d.h. in der Ehe erfolgen. Prakarmaṇy akumāryāç heißt hier also nicht, wie ich es ursprüglich übertrug: »Wenn ein Mann (widerrechtlicher Weise) einer Exjungfrau beiwohnt«. Das paßt nicht ordentlich hinein in den engeren Zusammenhang, und da wäre auch pratidadyāt (»dem Freier des Mädchens wiedererstatten«) sonderbar. Sodann handelt es sich in dem ganzen Kontext ja nur um den Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau, bezw. um die erste Beiwohnung bei der Braut. Auch die scheinbar andersartigen Bestimmungen über die Heirat kommen nur wegen der Brautnacht hier herein; da soll jeder und jede finden, was sich gehört. Avasthāya tajjātam bedeutet wörtlich: »Hintretend auf, fußend auf das da Entstandene« (vgl. 231, 2) oder nach dem gewöhnlichen Gebrauch von tajjāta bei Kauṭ.: »auf das, was von der betr. Art ist, dem betr. Gebiet angehört« usw. Das gibt in beiden Fällen einen diskreten Ausdruck für Vulvablut. Was nun die Sache selber betrifft, so habe ich schon im Weib im altind. Epos 34, Anm. 2 das Gedichtchen des Hāla angeführt, aus dem hervorgeht, daß auch die altindischen Mädchen in der Brautnacht einen Ersatz für das zu finden wußten, was die Natur nicht zum zweiten Male hergibt. Der junge Liebesheld lächelt, als er das ausgestellte Brautnachtlinnen sieht; er weiß, das Blut darauf ist nicht das der Jungfrauschaft. Dort sind auch aus anderen Ländern und Völkern Beispiele für die Sitte, das primizblutbefleckte Bettuch oder Hemd der Braut öffentlich zu zeigen, namhaft gemacht. Weiteres bei O. Schrader, Die Indogermanen 84f.; Feist, Kultur, Ausbreitung und Herkunft der Indogermanen 111; F. Bodenstedt, Tausend u. eine Nacht im Orient II, S. 400 (bei den Armeniern usw.). Die beste mir bekannte Schilderung aber stammt aus Rußland und steht in den Lebenserinnerungen, die der Sänger Fiodor Iwanowitsch Tschaliapin unter dem Titel Pages Out of My Life in der New Yorker Monatschrift The New Pearson's for July 1923, S. 17, Sp. 2 gegeben hat. Er berichtet von der Hochzeit eines Paares aus dem Volk, der er als dreizehnjähriger unwissender Junge beiwohnte: »In the morning I was awakened by the noise of wild howling or crying and rumbling. I looked out into the yard and saw a picture that I shall never forget. Drunken women, disheveled and half-dressed, were skipping about crazily. Some of them danced a savage dance: they would lift their skirts up to their knees and even higher; some of them screamed, some were beating the ground and the walls with pots and fire irons, clanged with stew-pans, and others waved a big white rag that was stained with blood. They looked crazy and frightened me. The men, too, were drunk; they haw-hawed and shouted and embraced the women. And the women kept on pushing and rushing all over the yard like a swarm of gnats over a puddle. All the time the newly-weds stood hand-in-hand on the stoop of the house and looked upon the shameful uproar with smiles. The dancing women shouted obscene words and showed their legs; naturally the men would not be surpassed. But the newly-weds looked perfectly happy. Never before nor since have I seen eyes as happy as were theirs on that morning«.

Oder ātmārāgārtham »damit ihr die Glut vergehe« (vgl. Manu VII, 368)? Man muß strīprakṛitā zusammenlesen. Zu vergleichen wäre vor allem Manu VIII, 367 und 369f.: »Wenn ein Mädchen ein Mädchen entjungfert (kuryāt), soll ihr eine Strafe von 200 paṇa auferlegt werden und soll sie den doppelten Brautpreis geben, sowie auch zehn Peitschenhiebe erhalten. Und wenn eine Frau ein Mädchen entjungfert (prakuryāt), verfällt sie sofort der Kahlscheerung des Kopfes oder der Abschneidung zweier Finger, sowie dem Ritt auf einem Esel«. Bei der Schändung einer Jungfrau durch einen Mann bietet Manu VIII, 364ff. ein seltsames, aber echt indisches Gemisch von Strenge und Milde: »Der Mann, der ein Mädchen, das nicht selber will, befleckt, verfällt auf der Stelle der Hinrichtung. Befleckt aber ein gleichstehender Mann eine, die selber will, dann soll er nicht den Tod erleiden. Ein Mädchen, das einen Mann aus höherer Kaste (oder: aus hoher utkṛishṭam) genießt, soll man keine Buße zahlen machen; eine aber, die mit einem Niedrigeren die Liebeslust pflegt, soll man zügeln und im Hause eingesperrt halten. Wenn aber einer, der (an Kaste) niedriger steht, eine Höherstehende (uttamām, wohl eine Brahmanin) fleischlich genießt, verfällt er dem Tode. Wer eine ihm Gleichstehende genießt, soll ihr den Brautpreis geben, wenn der Vater es wünscht. Wenn aber ein Mann in seinem Übermut ein Mädchen mit Gewalt entjungfert (kuryāt), dann sollen ihm unverweilt zwei Finger abgeschnitten werden, und er verfällt in eine Geldstrafe von 600. Verdirbt aber ein Gleichstehender eine, die selber, will, dann sollen ihm die Finger nicht abgeschnitten werden. Er soll aber eine Buße von 200 geben müssen, ihm den bösen Hang zu vertreiben«. Nārada XII, 72 aber erklärt: »Keine Übertretung liegt im Geschlechtsumgang mit einem willigen Mädchen«. Doch vgl. Weib im altind. Epos 35. Ganz indisch heißt es MBh. XII, 90, 39, Jungfernschändung gehöre zu den Greueln, die nur unter einem schlechten König vorkämen.


9 Oder sogar: »die der Loskaufung (durch einen anderen, d.h. der Freiheit) würdig ist«. So vorzüglich ist sie! Aber in beiden Fällen scheint die Strafe lächerlich gering bei solch einem Weib. Man muß also wohl übersetzen: »die um den Preis der Loskaufung (der Freilassung) fähig ist« (den Beischlaf zu gestatten); also eine, an der er so Erpressung übt. Aber anurūpa ist da arg gezwängt. Also nishkrayānurodhām »um den Preis ... willfährig«?


10 Nicht nur ist das eine große Schmach für den Mann, sondern es gilt auch als Erpressung. Dies Gesetz wendet sich wohl besonders gegen die lange Reihe von Eheherren, die laut des Zeugnisses der altind. Lit. geflissentlich andere dazu verführten, mit ihrer Gattin Umgang zu haben und dann »zufällig« auftauchten und den in flagranti ertappten brandschatzten. Der Hahnrei soll also weder solch goldenes Pflaster noch das der saftigen Erleichterungsergüsse auf sein wundes Herz legen dürfen. Vgl. Yājñ II, 301.A8


11 Wahrscheinlich ist die Ehebrecherin selber gemeint, sei es, daß sie gesteht, sei es, daß sie sich wider Willen verrät. Möglich wäre auch: »Durch die Reden von Frauen«, denen die Sünderin ihr Geheimnis entdeckt hat oder die sonstwie darauf gekommen sind (vgl. savarṇāpasarpopagama 155, 11). Doch das wäre ein allzu grausames Gesetz. Vgl. Yājñ. II, 283: »Ein Mann ist wegen Ehebruch haftbar, wenn er Haar an Haar mit dem Weibe eines anderen betroffen wird, oder sofort auf die von der Liebe herrührenden Zeichen hin, sowie bei einem Eingeständnis der zwei«. Diese letzte Alternative wäre bei der Neigung des Mannes, von seinen »Siegen« zu prahlen, auch wenn er sie gar nicht errungen hat, in einem minder strengen Lande als Altindien sehr wenig am Platze. »Spuren des Liebesgenusses« sind weniger die aus den alten italienischen und anderen Novellisten und aus den älteren Erzählungen des deutschen Schrifttums bekannten, als die Verwundungen mit Nägeln und Zähnen, die in der indischen Liebeskunst eine so bedeutende Rolle spielenA9. – Wegen der altindischen Begriffsbestimmung des Ehebruchs (saṃgrahaṇa) und der Anschauungen über ihn, besonders in den Rechtsschriften, siehe Weib im altind. Epos 187f.


12 Ich lese cānurūpeṇa »Wegen der Majestät (oder: durch die Machtäußerung) des Königs«, wohl weil sie sich gegen ihn vergangen hat; schwerlich: eine von der Majestät des Königs Aufgegebene, d.h. eine vom König Ausrangierte. Nach der Lesart kāntārān statt kāntāraṃ hieße es: »oder aus Wirren im Land oder aus einer Waldwildnis gerettet hat, oder eine, die verloren gegangen oder in dem Glauben, sie sei tot, liegen gelassen worden ist«.


A1 Zu diesem Kap. ist vor allem M. VIII, 364ff.; Y. II, 287ff. zu vergleichen; auch »Weib« 35, Anm. 1.


A2 Auf fälschlicher Beschuldigung, daß eine ihre Jungfrauschaft verloren habe, steht bei N. XII, 34 = M. VIII, 225; Y. I, 66 hundert paṇa Strafe, bei Vish. V. 47 die höchste Sāhasabuße.


A3 Statt Sham.'s mithyābhiçaṃsine hat Y. II, 289 offenbar mithyābhiçaṃsane gelesen. Auch Gaṇ. bietet dies dar. Die richtige Übersetzung scheint mir jetzt aber folgende zu sein: »Bei einer, die außerhalb des Dorfes von einer Frau entehrt worden ist und bei lügenhafter Behauptung (eines Mädchens, sie sei von einem Weibe entjungfert worden) die doppelte Buße« (d.h. 200 paṇa).


A4 Vgl. Y. II, 287.


A5 Da also wörtlich: »und keinen weiteren unter den Freiern erhält.« Ūrdhva wird ja = uttara, gebraucht, sogar in dem Sinne von nördlich (MBh. XIV, 44 13; wohl auch XII, 335, 9). Oder: »und über die Freier hinaus (d.h. nach Abfahrt der Freier, vgl. z.B. Kauṭ. 160, 2) keinen mehr bekommt.«

Gaṇ. liest varaṇād ūrdhvam alabhamānām, also teils wie B., teils wie Sham. Danach: »die, nachdem um sie geworben worden (und sie einem Manne zugesagt worden ist) ihn nun nach sieben Monatsflüssen nicht (zur Vollziehung der Ehe) erhält.« Natürlich ist es dieser Freier, der sie da entjungfern darf.


A6 Wegen des Verbotes, irgend etwas aus des Vaters Hause mitzubringen, vgl. Vas. XIII, 51–53; Y. III, 261: Die Tochter eines aus der Kaste Gestoßenen mag man ruhig heiraten; nur muß sie ohne Habe kommen (arikthā).


A7 Auch Zurücksetzung (Kränkung) bedeutet paçcātkriyā. Doch das steht dem bekannten Gebrauche: zurückwerfen, überwältigen, to foil (MBh. VII, 152, 25, cf. 26; V, 110, 5), übertreffen nahe.


A8 Die Mitāksharā, und danach auch Gaṇ. versteht aber die Sache so, daß der Gatte, um den Flecken auf seiner Ehre zu meiden, vom Ehebrecher sagt, er sei ein eingedrungener Dieb.


A9 Hinter »Rolle spielen« füge ein: Natürlich kämen gegebenenfalls auch bei Schäferstunden gebräuchliche und achtlos liegen gelassene Sachen, wie Duftmittel, Blumen usw., wohl auch der Zustand des Bettes, des Anzugs u. dgl. mehr, in Betracht. Çarīropabhogānāṃ tajjātebhyaḥ könnte auch zusammengehören. Dann wörtlich: »oder auch durch Umstandsbeweis aus den derartigen Dingen der Leibergenüsse,« »aus den Dingen, die zum Gebiet der Leibergenüsse gehören.« Oder man könnte hinter çarīropobhogānāṃ einen Punkt setzen und tajjāta in dem Sinn »Mann von dem betr. Fach« verstehen. Dann: »... zusammen schließen. Durch Sachverständige oder durch die Worte der Frau.« Das träfe mit Gaṇ.'s Glossen zusammen. Aber dann sollten wir doch wohl tajjātika haben wie in 63, 3. Auch sonst erheben sich Einwände.

Quelle:
Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthaçāstra des Kauṭilya. Leipzig 1926, S. 355-361.
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