Sechstes Kapitel (158. und 159. Gegenstand).

Formierung der Schlachtordnungen: Stab, Schlangenwindung, Kreis und Ungeschlossen und Aufstellung der Gegenschlachtordnung.

[583] Die zwei Flügel, die Front und die Reserve (pratigraha) das ist nach der Schule des Uçanas eine Schlachtaufstellung.1A1 Die zwei Flügel, die zwei Flanken, die Front und die Reserve, so nach der Schule des Brihaspati.

Bei beiden sind die mit Flügelspitzen, Flanken und Front versehenen Schlachtordnungen: Stab, Schlangenwindung, Kreis und Ungeschlossen (asaṃhata) die die Grundform bildenden Schlachtordnungen.2

Dabei ist das wagerechte Operieren der Stab, das Hintereinanderdaheroperieren der zusammengezogenen (oder: der gesamten) Truppen3 die Schlangenwindung, das intensive Operieren nach allen Seiten der Kreis,A2 der [583] fest Aufgepflanzten gesondertes Operieren in den einzelnen Schlachtreihen der »Unzusammengeschlossene«.4

Mit Flügeln, Flanken und Front in gleichmäßiger Weise5 operiert der Stab. Rückt er mit den Flanken hinüber (gegen den Feind, d.h. sind dabei die Flanken zuerst öder besonders tätig), dann ist es der »Zerspalter« (pradara). Treten bei derselben Schlachtordnung Flügel und Flanken zurück (und rückt die Front hinaus gegen den Feind), so ist es der Feste (dṛiḍhaka). Rücken bei eben demselben die beiden Flügel hinaus (gegen den Feind), dann ist es der Unwiderstehliche (asahya). Läßt man dabei die zwei Flügel festen Stand fassen und rückt mit der Front hinüber (gegen den Feind), dann ist es der Falke (çyena). Beim Gegenteil (d.h. wenn die vier genannten in umgekehrter Weise verfahren): 1. Der Bogen (Flanke zurückgeschwenkt, dadurch Bogengestalt), 2. der Bogenbauch (Flügel und Flanken vor, Front zieht sich buchtähnlich ein), 3. der »Feststehende« (Flügel eingezogen) und 4. der »sehr fest Stehende« (Flügel vor, Front eingezogen). Bilden die Flügel einen Bogen, dann ist es der »Sieger« (jaya, Sieg). Wenn dabei die Front hinüberrückt (gegen den Feind), dann der »Besieger« (vijaya). Bilden die (verstärkten) Flügel gleichsam dicke Ohren, dann »Dickohr« (sthūlakarṇa, bei Çaṅk. zu Kām. XX, 46, 47 sthūṇakarṇa). Ist die Schlachtordnung durch doppelte Flügelstärke dick geworden, dann »Großbesieger« (viçālavijaya). Wenn die drei hinanrücken (gegen den Feind),6 dann »Heergesicht« (camūmukha). Beim Gegenteil »Fischmaul« (jhashāsya).7 Der Stab als eine nach oben (d.h. gegen den Feind) gerichtete Reihe ist die »Nadel« (sūcī),8 zwei solcher Stäbe die »Spange« (valaya),9 vier (davon) der »Schwerbesiegliche« (durjaya). Das sind die Schlachtordnungen des Stabs.

Die Schlangenwindung operiert ungleichmäßig mit Flügeln, Flanken und Front. Sie heißt (in ihren Unterarten): der Schlangenläufer (sarpasārin) [584] oder Ochsenpißlinie (gomūtrikā).10 Dieselbe Schlachtordnung (die Schlangenwindung) heißt der Karren (çakaṭa), wenn die Front gepaart (d.h. nach Çaṅk., zu Kām. XX, 49 doppelt) ist und die Flanken die des »Stabs« (oder: wie zwei Stäbe) sind; im gegenteiligen Fall der Delphin (makara). Der »Karren« heißt Herumflieger (pāripatantaka), wenn er mit Elefanten, Reiterei und Kriegswagen untermischt ist. Das sind die Schlachtordnungen der »Schlangenwindung«.

Wenn Flügel, Flanken und Front zu eins zusammengeschlossen sind, so heißt das der Kreis (maṇḍala). Er hat die Arten: sarvatomukha (nach allen Seiten hingerichtet), sarvatobhadra (nach allen Seiten hin glücklich oder prächtig), ashṭānīka (aus acht Schlachtreihen bestehend) und durjaya (der Schwerbesiegliche).11 Das sind die Schlachtordnungen des Kreises.

Dadurch, daß Flügel, Flanken und Front nicht zusammengeschlossen sind, entsteht der »Unzusammengeschlossene« (asaṃhata). Dieser heißt Donnerkeil (vajra) oder heißt Gosamp (godhā), wenn aus fünf Schlachtreihen (anīka) diese Formen gebildet werden; Feuerherd12 oder Rabenfuß (kākapadī), wenn aus vier: der »Halbmondige« (ardhacandrika) oder der »Krebsscherige« (karkataçṛiṅgin), wenn aus dreien. Das sind die sechs Formen des »Unzusammengeschlossenen«.

Eine Schlachtordnung, deren Front aus Wagen, deren Flanken aus Elefanten und deren Hintertreffen aus Pferden besteht, heißt »Unverletzt« (»Gefeit« oder »Glückbringer«, arishṭa). Fußsoldaten, Pferde, Wagen und Elefanten, immer eins hinter dem anderen (in der angegebenen Reihenfolge), das ist der »Unbewegliche« (acala). Elefanten, Wagen und Fußsoldaten immer eins hinter dem anderen, das ist der »Unzurückgeschlagene« (apratihata).

Von den Genannten soll er den Zerspalter (pradara) durch den Festen (dṛiḍhaka) zerschlagen, den Festen durch den Unwiderstehlichen (asahya), den Falken durch den Bogen, den Feststehenden (pratishṭha) durch den sehr fest Stehenden (supratishṭha), den Sieger (jaya) durch den Besieger (vijaya), den Dickohr (sthūlakarṇa) durch den Großbesieger (viçālavijaya), den Umherflieger durch den nach allen Seiten Glücklichen (sarvatobhadra). In der Form des »Schwerbesieglichen« mag er gegen alle (Schlachtordnungen des Feindes sein Heer) aufstellen.A3

[585] Was die Fußsoldaten, Pferde, Wagen und Elefanten anlangt, so vernichte er die jeweils (in dieser Aufzählung) vorangehenden durch die (in dieser Aufzählung) folgenden (d.h. also die Fußsoldaten durch die Reiterei, die Reiterei durch die Kriegswagen, die Kriegswagen durch die Elefanten) und einen schwächeren Heeresteil durch einen stärkeren.

Der einzelne Herr über eine Zehnheit von Einzelgliedern (aṅga) heißt padika,13 der einzelne über eine Zehnzahl von padika senāpati (»Heerherr«), der eine über ein Zehnheit von diesen nāyaka (Führer). Dieser soll durch Instrumentenschall, Banner und Fahnen den Gliedern der Schlachtordnung die Zeichen geben, wann die Schlachtglieder sich verteilen, und wann sich zusammenschließen, wann sie vorwärtsrücken und wann sie stillstehen, wann sie sich zurückziehen und wann sie einhauen sollen.

Bei der gleichen Schlachtordnung kommt der Erfolg von der Nutzung des richtigen Orts und der richtigen Zeit.

Durch Gewaltmittel soll er dem Feinde Schrecken einjagen, durch die Praktiken der Geheimlehre, durch Bravi, welche solche töten, deren Aufmerksamkeit sonst in Anspruch genommen ist, durch Gaukellisten,14 durch Vorspiegelungen einer Verbindung mit den Göttern, durch Betrügerstückchen, die (des Feindes) Elefanten verderben, durch Aufstände von Verräterischen,15 durch Rinderherden,16 [586] durch Anzündung des feindlichen Heerlagers oder durch Vernichtung der Spitzen und der Nachhut (des Feindes), durch Verhetzungen, die von Männern ausgehen, welche als Gesandte auftreten, (durch die Kunde:) »Deine Burg ist verbrannt!« Oder: »Sie ist eingenommen!« »Ein Aufstand hat sich gegen dich erhoben!« Oder: »Ein Prätendent aus deiner Familie!« Oder: »Ein Feind!« Oder: »Ein Waldstammhäuptling!«

Einen einzigen tötet ein von einem Bogenschützen entsandter Pfeil oder tötet ihn auch nicht. Aber der von den Klugen entsandte Gedanke tötet sogar die Kinder im Mutterleibe.17

Fußnoten

1 Die richtige Lesart: pakshāv, urasyaṃ, pratigraha ity Auçanaso vyūhavibhāgaḥ steht 427, 6–7.


2 Der erste Teil dieses Satzes ist ganz zweifelhaft und der Text da kaum richtig. Prapaksha »Spitze eines Heerflügels« kommt sonst bei Kauṭ. nicht vor und paßt nicht hierher, und zwar um so weniger als die Schule des Uçanas ja gar nicht von kaksha redet. Da der paksha oder Flügel vorne, die Flanke (kaksha) hinten steht, so wäre etwa zu erwarten: »Was Uçanas paksha nennt, das zerfällt bei Bṛihaspati in paksha und kaksha. Hinzu kommt bei beiden die Front. Also stimmen sie überein«. Da sollte aber mindestens prakakshakakshorasyā stehen: »mit Vorderflanke, Flanke und Front versehen«, und dann müßte das erste Wort des Kapitels in kakshāv geändert werden. Also non liquet.


3 Nach Çaṅk. zu Kām. XX, 42: »Schlachtreihen« (anīkānām).


4 D. h. da rücken die verschiedenen Schlachteinheiten (Dreiergruppen und anīka) weiter auseinander als die fünf Bogenlängen. So Çaṅk. zu Kām. XX, 42. Sie operieren da also nicht als geschlossene Einheit, sondern jede für sich.


5 Oder: zu gleicher Zeit (samam)?


6 Statt tv abhikrānta ist mit Kām. XX, 47 tryabhikrānta zu lesen. Die drei sind wohl: Front und zwei Flügel.


7 Die Flügel treten zurück. Çaṅk. zu Kām. XX, 47.


8 Oder, wenn man ūrdhvarājir liest, was die Sache etwas erleichtert, aber auf dasselbe hinauskommt: »Ist beim Stab die Linie nach oben hingestreckt, dann ist es die Nadel.« Bei dieser ist also der »Stab« nicht querüber gelegt, sondern der Länge nach von hinten nach vorn und bohrt mit der Spitze in den Feind. Dabei werden Flügel und Flanken natürlich eingezogen.


9 Der Name scheint nicht recht zu passen, kommt aber vielleicht daher, daß der Feind zwischen die beiden genommen, von ihnen umschlossen wird wie Arm oder Fuß von der Spange. Vgl. 372, 12.


10 Das sind, trotzdem schon die Namen »sich wie eine Schlange schlängelnd« und »in einer Wellenlinie gehend wie Ochsengepisse am Boden« auf dieselbe Sache deuten und obgleich »oder« bei Kauṭ. auch sonst öfters = sive steht, nach Kām. zwei verschiedene Unterarten. Ebenso versteht er den Text mehrere Male im folgenden bei einem »oder«.


11 Der Name befremdet, da ja schon eine der Unterarten des »Stabs« so heißt (374, 5).


12 Man muß wohl mit Kām. XX, 51 uddhānaka lesen. Uddhāna Feuerherd kommt im Komm, zu Daçak. 90, 7 vor. Natürlich stammen auch hier die Namen von der Gestalt der betreffenden Schlachtordnungen.


13 »Teilmann« von pada Teil? Oder »Stelleneinnehmer« von pada Stelle, Ort also locum tenens Leutnant? Er entspricht in der Sache aber dem decurio. Über den »kleineren Truppenführer« (senāpati »Heerführer«) siehe Stein, Meg. u. Kauṭ. 160; Kām. XX, 32. Saṃjñāḥ sthāpayet im folgenden nur: »soll die Zeichen feststezen«?


14 Bei Kām. (XVIII; 53ff.) finden wir neben den bekannten vier upāya oder Mitteln sāman, dāna, bheda, daṇḍa noch drei weitere: māyā, indrajāla und upekshā (die Augen geflissentlich zudrücken, wenn einer einen Menschen, der einem selber im Weg ist, umbringt). Diese māyā ist zweifach: menschlich und übermenschlich. Der ersten Art gehören Stückchen an wie die folgenden: Männer verbergen sich im hohlen Innern von Götterbildern und Säulen oder verkleiden sich als Weiber oder bringen bei Nacht wunderbare Erscheinungen hervor oder zeigen sich in der Gestalt von Vetālaunholden, Piçācagespenstern, Meteoren (sulkā) oder Felsen. Nach Çaṅk. kommen sie dann aus den Götterbildern usw. hervor und töten den Feind, der sich verehrend naht; ebenso üben die als Frauen verkleideten Meuchelmord, und die Gaukler, die Wundererscheinungen hervorrufen, verkünden dabei die bevorstehende Niederlage des Feindes. Bei der übermenschlichen māyā oder dem übermenschlichen Zaubertrug nehmen die betreffenden eine beliebige Gestalt an, lassen Waffen, Wurfgeschosse, Steine, Wasser regnen, erscheinen als Finsternis, Wind, Berg, Wolken usw. Die Ausüber des indrajāla oder der Gauklerkunst zeigen dem Feinde Wolken, Finsternis, Regen, Feuer, Berge und in der Ferne Heere mit ihren Bannern, Verstümmelte, Zerfetzte und Blutüberströmte, um die Gegner in Angst zu setzen. Ähnliche Veranstaltungen beschreibt ja Kauṭ. öfters, besonders im letzten Buch seines Werkes.


15 Ich lese kapaṭair hastidūshaṇaiḥ (vgl. 364, 9; 365, 9, wo eben dieselbe Besserung nötig scheint) und dūshyaprakopair. Doch mag çakaṭair, wie schon gesagt, auch richtig und = kapaṭa sein.


16 Erschreckte Rinderherden werden unter die Feinde gejagt, sie in Verwirrung zu bringen, wobei sie dann leicht abgetan werden können. Oder man läßt die Tiere absichtlich vom Feinde rauben und fällt dabei über den Unachtsamen aus einem Hinterhalte her.


17 Zu dieser Strophe vgl. Tantrākhy. III, Str. 123; Zachariae WZKM. 28, S. 205f.


A1 Kauṭ. macht sich diese Anschauung zu eigen. S. 427, 6–7 (Übers. 666, 23–26). Uçanas oder Çukra scheint die große Autorität im Punkte der Schlachtaufstellungen zu sein (MBh. XV, 7, 15). Das Auçanasaṃ çāstram in MBh. XII, 122, 11 ist also am Ende gar nicht die politische Wissenschaft, wie das Auçanasaṃ des Pañcat., sondern die Kriegswissenschaft. Laut Kauṭ. 6, 13f. nun ließ Uçanas nur die daṇḍanīti als Wissenschaft gelten. Ob wohl daṇḍanīti als Heerführung gefaßt und so aus dem alten Meister der »Stabführung« ein Urheber der Kriegswissenschaft wurde? Das Arthaçāstra des Uçanas kennen und zitieren z.B. auch die Komm. des M. Siehe Bühlers M. VII, 154; X, 21–23.


A2 Gaṇ. hat saratāṃ statt sutarāṃ: »das durch die (in ihrer Gesamtzahl) Anstürmenden erfolgende Operieren« usw.


A3 Was die verschiedenen Schlachtordnungen und Gegenschlachtordnungen, anlangt, so vgl. man Kām. XX, 22ff.; Çukran. IV, 7, 556ff.; M. VII, 187ff.; MBh. VI, 50, 40, 42–56; 51, 1; 56, 1–9; 10ff.; 64, 4ff.; 75, 1ff.; 77, 59; 81, 21–23; 87, 5, 17–22; VII, 7, 24f.; 20, 4ff.; 33, 19; 34, 13ff.; 35, 14ff.; 72, 20; 74, 27; 75, 24; 87, 22; 108, 16; VIII, 11, 13ff.; 28ff.; 46, 10–28 usw.

Quelle:
Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthaçāstra des Kauṭilya. Leipzig 1926, S. 583-587.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Über den Umgang mit Menschen

Über den Umgang mit Menschen

»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge

276 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon