Der Reflex des Antik-Tragischen in dem Modern-Tragischen

Ein Versuch im fragmentarischen Streben

[133] Vorgelesen

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Wenn jemand sagen wollte: das Tragische bleibe zu jeder Zeit das Tragische, so hätte ich dagegen eben nicht viel zu erinnern, sofern freilich jede geschichtliche Entwickelung innerhalb des Umfanges jeden Begriffes liegt. Vorausgesetzt nämlich, daß seine Worte einen Sinn haben, und das zweimal wiederholte Wort: Tragisch, nicht bloß das bedeutungslose Parenthesezeichen, das ein inhaltloses Nichts einschließen soll, vorstellt, so müßte seine Meinung wohl diese sein, daß der (geschichtlich wachsende) Inhalt des Begriffes diesen nicht entthront, vielmehr bereichert. Auf der andern Seite wird es der Aufmerksamkeit keines Beobachters entgangen sein – was das lesende und theaterbesuchende Publikum längst als gesicherten Besitz innezuhaben glaubt, als seine Aktienausbeute aus den Bestrebungen der Kunsterfahreneren –, daß ein wesentlicher Unterschied zwischen der antiken und der modernen Tragödie bestehe. Allein gegen die Geltendmachung eines absoluten Unterschiedes, oder gar Gegensatzes, spräche jedenfalls, daß das Antik-und Modern-Tragische durch diese gemeinsame Grundlage, nämlich das Tragische, weit mehr verbunden, als geschieden wird. Vor jedem einseitigen Bestreben dieser Art muß auch der Umstand warnen, daß noch immer die Ästhetiker auf Aristoteles' Bestimmungen des Tragischen und seine Ansprüche an dasselbe zurückkommen, als die den Begriff wesentlich erschöpfenden; warnen muß dieser Umstand um so mehr, als es jeden mit einer gewissen Wehmut ergreifen muß, daß, ungeachtet aller Veränderungen, die mit der Welt vorgegangen sind, die Vorstellung vom Tragischen im wesentlichen unverändert geblieben ist, sowie das Weinen dem Menschen[135] natürlich ist. So beruhigend dies nun einen dünken könnte, der keine Trennung, wenigstens keinen völligen Bruch wünscht, so zeigt sich doch die eben abgewiesene Schwierigkeit unter einer andern und fast noch gefährlicheren Gestalt. Daß man beständig noch zur aristotelischen Ästhetik, nicht aus bloßer schuldiger Aufmerksamkeit oder alter Gewohnheit, zurückkehrt, das wird jeder einräumen, der mit der neuern Ästhetik verkehrt und hierdurch die Überzeugung gewinnt, wie eng man sich den von Aristoteles aufgestellten, noch immer gültigen Prinzipien anschließt. Sobald man indes diesen näher tritt, macht die Schwierigkeit sich alsbald geltend. Die Begriffsbestimmungen sind nämlich ganz allgemeiner Art; und man kann so weit mit Aristoteles ganz einig und doch in anderm Sinne mit ihm uneins sein. Um der nachfolgenden Entwickelung nicht dadurch vorzugreifen, daß ich in Form von Beispielen anführe, was ihr den fachlichen Inhalt ausmachen soll, so ziehe ich vor, meine Ansicht vorzutragen, indem ich hinsichtlich der Komödie die entsprechende Betrachtung anstelle. Gesetzt, daß ein alter Ästhetiker gesagt hätte: das, was die Komödie voraussetze, sei Charakter und Situation, und was diese erregen wolle, sei das Lachen, so könnte man immerhin wieder und wieder darauf zurückgehen; sobald man dann aber erwäge, wie verschiedener Art das sein kann, was einen Menschen zum Lachen bringt, so würde man bald einsehen, welches ungeheure Spatium jene Forderung in sich fasse. Wer jemals sein eignes Lachen zum Gegenstande der Beobachtung machte, wer hierbei weniger das Zufällige als das Allgemeine vor Augen hatte, wer mit psychologischem Interesse darauf achtgab, wie verschieden in jedem Lebensalter die Motive des Lachens sind, der wird sich leicht überzeugen, daß die unwandelbare Forderung an die Komödie, daß sie zum Gelächter reize, des Wandelbaren genug enthält, im Verhältnis zu der verschiedenen Vorstellung des Weltbewußtseins über das, was lächerlich sei, ohne daß jedoch die Verschiedenheit eine so diffuse (zerfließende) zu sein braucht, daß der entsprechende Ausdruck der Stimmung in den somatischen Funktionen am Ende auch dieser sein könnte: Lachen äußere sich durch Weinen. Ebenso nun auch mit dem Tragischen.

Was nun zunächst die Aufgabe dieser kurzen Untersuchung betrifft,[136] so wird sie nicht sowohl eine Darstellung des gegenseitigen Verhältnisses zwischen dem Antik- und dem Modern-Tragischen sein, als vielmehr ein Versuch, nachzuweisen, wie die Eigentümlichkeit des Antik-Tragischen sich in die moderne Tragik aufnehmen lasse, so daß in dieser das echt Tragische sich auspräge. Aber so lebhaft ich mich hierfür auch interessieren und bemühen werde, so werde ich mich doch hüten, irgendwie zu weissagen, daß unsre Zeit gerade dies fordre, zumal die Gegenwart überall mehr auf das Komische hinzuarbeiten scheint. Das Dasein ist in hohem Grade von den Zweifeln der Subjekte unterminiert; und die Isolierung nimmt beständig mehr überhand, was einem deutlich entgegentritt, wenn man auf die mancherlei sozialen Bestrebungen achtgibt. Diese legen nämlich ebensowohl dadurch, daß sie der Isolierung der Zeitbestrebungen entgegenzuwirken suchen, von dem Vorhandensein einer solchen Zeugnis ab, als auch dadurch, daß sie in unvernünftiger Weise ihr wehren wollen. Das isolierte macht sich immer als Zahl geltend: wenn einer sich als dieser Eine hinstellt, so ist das eine Isolierung. Hierin werden mir wohl alle Bruder- und Genossenschaften Recht geben, ohne deshalb auch einsehen zu können oder zu wollen, daß es völlig dieselbe Isolierung ist, wenn hundert sich einzig und allein als diese Hundert wollen geltend machen. Die Zahl ist immer gegen sich selbst gleichgültig; und es beruht nichts darauf, ob es einer, oder tausend, oder sämtliche Erdenbewohner, bloß numerisch bestimmt, sind. Dieser Assoziationsgeist ist daher in seinem Prinzipe ebenso revolutionär, wie der Geist, den er bekämpfen will. Als König David sich so recht seiner Macht und Herrlichkeit bewußt werden wollte, ließ er sein Volk zählen; in unsrer Zeit dagegen kann man sagen, daß die Völker, um ihrer Bedeutung, gegenüber einer Großmacht, sich bewußt zu werden, sich selbst zählen. Alle jene Genossenschaften tragen indes das Gepräge der Willkür, sind meistens zu irgend einem zufälligen Zwecke gebildet, dessen Gebieter natürlich eben die Genossenschaft ist. Die große Anzahl derselben beweist somit die innere Auflösung der Zeit und trägt zur Förderung derselben bei; sie sind Infusionstiere im Organismus der Gesellschaft und weisen darauf hin, daß dieser aufgelöst ist. Wann fingen in Griechenland die Hetärien allgemein[137] zu werden an? War es nicht damals, als der Staat schon in seiner Selbstauflösung begriffen war? Und hat nicht unsre Zeit eine auffallende Ähnlichkeit mit jener alten, welche selbst ein Aristophanes nicht lächerlicher machte, als sie wirklich war? Ist nicht in politischer Hinsicht das Band, welches bisher die Staaten unsichtbar und geistig in sich zusammenhielt, gelöst? ist nicht mit der Religion die Macht, die das Unsichtbare festhielt, abgeschwächt und vernichtet? ist es nicht Staatsmännern und Geistlichen gemeinsam, daß, wenn sie ihrer altherkömmlichen Bedeutung gedenken, sie gleich den Auguren Roms nicht ohne ein Lächeln einander ansehen können? Eine Eigentümlichkeit hat freilich unsre Zeit vor jener altgriechischen voraus, nämlich diese, daß die Gegenwart weit mehr zu ernsterm Sinnen, daher aber auch zu hoffnungsloserer Verzweiflung angelegt ist. So ist unser Geschlecht im ganzen nachdenklich genug, um zu wissen, daß es etwas gibt, was sittliche Verantwortung heißt, und daß diese etwas zu sagen hat. Während daher alle herrschen, mitregieren möchten, will niemand die Verantwortung tragen. Es ist noch in frischem Andenken, daß ein französischer Staatsmann, welchem das Portefeuille aufs neue angeboten wurde, erklärte: er nehme es an, aber unter der Bedingung, daß der Staatssekretär verantwortlich gemacht werde. Der König von Frankreich ist, wie bekannt, nicht verantwortlich, dagegen ist es das Ministerium. Der Anspruch, den jener Minister machte, würde auf naturgemäßem Wege zuletzt dahin führen, daß die Nachtwächter oder die Kommissare der Straßenpolizei die Verantwortung übernehmen müßten. Wäre nicht diese tolle Verantwortlichkeitsgeschichte ein passendes Sujet für Aristophanes? Und anderseits, warum sonst haben Regierung und Regierende solche Scheu vor der Verantwortung, als darum, weil sie eine Oppositionspartei scheuen, welche selbst wieder in ähnlicher Skala die Verantwortung von sich schieben würde? Denkt man sich nun diese zwei Mächte einander gegenüber, aber nicht in der Lage, eigentlich in Handgemenge zu kommen, weil die eine beständig vor der andern verschwände, die eine vor den Augen der andern bloß figurierte: gewiß, einer solchen Situation würde ihre vis comica nicht abgehen. Zeigt diese Geschichte nicht hinreichend, daß das eigentlich den Staat zusammenhaltende[138] Band aufgelöst ist? Aber die hierdurch bewirkte Isolierung ist unstreitig komisch; und zwar liegt das Komische darin, daß die Subjektivität, als die bloße Form, sich geltend machen will. Jede isolierte Persönlichkeit wird immer und überall dadurch lächerlich, daß sie ihre Zufälligkeit gegenüber der Notwendigkeit der geschichtlichen Entwickelung zur Geltung bringen will. Ohne Zweifel würde die tiefste Komik darin liegen, wenn man das erste beste Individuum irgend einmal von der universellen Idee beherrscht werden ließe: Erlöser der ganzen Welt zu werden! Dagegen ist Christi Erscheinung in einem gewissen Sinne (denn in einem andern Sinne ist er unendlich viel mehr) die tiefste Tragödie, weil Christus in der Fülle der Zeiten erschienen ist, und was ich im Blick auf das nachfolgende vorzüglich betonen möchte, die Schuld der ganzen Welt getragen hat.

Bekanntlich nennt Aristoteles als Quellen der Handlung in der Tragödie zweierlei: dianoia kai êthos (Gesinnung und Charakter), bemerkt aber zugleich: die Hauptsache sei to telos (Endziel), und die Personen handeln nicht, um ihren Charakter in seiner Entwickelung darzustellen; sondern die Charakterbilder werden nur um der Handlung willen aufgenommen. Hierin macht sich eine Abweichung von der modernen Tragödie bemerklich. Die Eigentümlichkeit der antiken Tragödie besteht nämlich darin, daß die Handlung nicht bloß aus dem Charakter hervorgeht, sofern sie hierzu nicht subjektiv (im sittlichen Bewußtsein) reflektiert genug ist, daß vielmehr die persönliche Handlung selbst mit einem relativen Zusatz von Leiden behaftet ist. Damit hängt es zusammen, daß der Dialog in der Tragödie der Alten gar nicht zu dem Grade erschöpfender Reflexion entwickelt ist, daß alles in ihm aufgeht. Der Monolog und der Chor sind es eigentlich, welche die verschiedenen Momente des Dialogs vertreten. Möge nämlich der Chor entweder sich der epischen Haltung mehr annähern, oder dem lyrischen Schwunge, so ist er es jedenfalls, welcher gleichsam jenes Mehr angibt, das in die Persönlichkeit nicht aufgehen will. Der Monolog stellt anderseits die lyrische Konzentration dar und enthält das Mehr, welches in Handlung und Situation nicht aufgeht. Die Handlung selbst trägt in der antiken Tragödie ein episches Moment[139] in sich; sie ist ebensosehr Begebenheit, als Handlung. Der Grund ist dieser, daß die alte Welt noch nicht in reflektierter Subjektivität lebte. Bewegte sich auch das Individuum mit Freiheit, so wurzelte es dabei doch in gegebenen, objektiven Mächten, als Staat, Familie, Religion, Schicksal. Dieses allem zu Grunde liegende Objektive, Feststehende ist in der griechischen Tragödie der Schoß des sich vollziehenden Verhängnisses und gibt derselben ihr eigentümliches Gepräge. Des Helden Untergang ist also keine bloße Folge seiner Handlungsweise, sondern zugleich ein Leiden, wogegen in der neuem Tragödie solcher Untergang im Grunde weniger sein Leiden ist, als seine eigne That. In der Neuzeit sind also wesentlich Situation und Charakter das Vorherrschende. Der tragische Held ist subjektiv in sich reflektiert, und hat sich nicht allein aus jedem unbefangenen Verhältnis zu Staat, Geschlecht, Schicksal heraus reflektiert, sondern manchmal sogar aus seinem eignen vorangegangenen Leben. Was uns interessiert, ist ein gewisses bestimmtes Moment seines eignen Verhaltens. Aus diesem Grunde läßt sich das Tragische in Situation und Zwiegespräch erschöpfen, sofern Unmittelbares überhaupt gar nicht zurückgeblieben ist. Die moderne Tragödie hat daher eigentlich keinen epischen Vordergrund, keine epische Nachfolge. Der Held steht und fällt gänzlich auf dem Boden seiner eignen Thaten.

Das hier in der Kürze, doch hinlänglich Erörterte ist von Bedeutung, um einen Unterschied zwischen der ältern und neuem Tragödie zu beleuchten, welcher mir von Bedeutung zu sein scheint, nämlich die verschiedene Auffassung der tragischen Schuld. Aristoteles verlangt, daß der tragische Held eine hamartia (Versündigung) auf sich habe. Sowie aber die Handlung in der griechischen Tragödie ein Mittelding zwischen Handeln und Leiden ist, ebenso ist die Schuld es auch; und hierin liegt die tragische Kollision. Je mehr dagegen die Subjektivität eine reflektierende wird, je mehr man (pelagianisch) das Individuum als sich allein überlassen, auf sich gestellt betrachtet, desto ethischer wird die Schuld. In der Mitte zwischen diesen beiden Extremen liegt das Tragische. Hat das Individuum durchaus seine Schuld, so ist das eigentlich tragische Interesse vernichtet, weil alsdann die tragische Kollision entnervt ist; hat es dagegen absolute Schuld,[140] und nichts als Verschuldung auf sich, so interessiert es uns nicht mehr in tragischem Sinne. Es ist daher gewiß ein Mißverständnis des Tragischen, wenn unsre Zeit dahin strebt, das Verhängnis sich in lauter Individualität und Subjektivität umwandeln zu lassen. Von des Helden Vorzeit will man weiter nichts wissen; sein ganzes Leben wälzt man ihm, als seine persönliche That, auf die eignen Schultern, macht ihn für alles verantwortlich, wodurch denn auch seine ästhetische Schuld in eine ethische verwandelt wird. Indem der tragische Held in seiner Schlechtigkeit dargestellt wird, wird der eigentliche tragische Gegenstand das Schlechte, das Böse; dieses hat aber kein ästhetisches Interesse, und Sünde ist kein ästhetisches Element. Fragen wir nach dem tieferen Grunde dieses mißverstandenen Strebens, so liegt er in der unserm Zeitalter innewohnenden Tendenz zum Komischen. Das Komische liegt gerade in der Isolierung. Will man nun, innerhalb der Schranken der letztern, das Tragische geltendmachen, so bekommt man das Böse in seiner Schlechtigkeit, nicht die eigentlich tragische Schuld in ihrer zweideutigen Schuldlosigkeit. Beispiele finden sich genug in der neuern Litteratur. So ist Grabbes in vieler Hinsicht geniales Werk: »Faust und Don Juan« eigentlich auf das Böse gegründet. Um indessen nicht aus einem einzelnen dichterischen Erzeugnis zu argumentieren, will ich meinen Satz in dem herrschenden Bewußtsein der Gegenwart nachweisen. Wollte man ein Individuum darstellen, auf das unglückliche Umgebungen in seiner Kindheit so störend eingewirkt hätten, daß diese Eindrücke schließlich seinen Untergang herbeiführten, so würde dergleichen unserm Geschlechte nicht zusagen; und das natürlich nicht darum, weil es schlecht behandelt worden denn ich dürfte mir ja immerhin denken, daß die Behandlung eine ausgezeichnete gewesen sei –, sondern darum, weil die Zeit einen andern Maßstab anlegt. Sie will von solchen Sentimentalitäten nichts wissen; sie macht ohne weiteres das Individuum für sein Leben verantwortlich. Geht also ein solches zu Grunde, so erscheint es hiermit nicht tragisch, sondern – schlecht. – Sollte man nun nicht glauben, es müsse ein Königreich von lauter Göttern sein, dieses Geschlecht, in welchem auch ich die Ehre habe zu leben? Allein dem ist keineswegs so: die Kraftfülle, der sittliche[141] Mut, der so seines Glückes Schmied und Schöpfer, ja sein eigner Schöpfer sein will, ist eine Illusion; und während unsre Zeit das wahrhaft Tragische verliert, gewinnt sie dafür – die Verzweiflung. In dem Tragischen liegt eine Wehmut und zugleich eine Heilkraft, die man fürwahr nicht verschmähen sollte; und während man auf so un- und übernatürliche Weise, wie unsre Zeit es versucht, sich selbst (sein Sittliches Ideal) gewinnen will, verliert man sich selbst, und man wird einfach komisch. Jedes Individuum, mag es auch zu den Originalen gehören, ist und bleibt doch immer ein Kind Gottes, seiner Zeit, seines Volkes, seiner Familie, seiner Freunde, und hat erst hierin seine Wahrheit. Will es, in dieser seiner vielseitigen Relativität, dennoch das Absolute sein, so macht es sich lächerlich. Gibt dagegen ein solches Individuum diesen Anspruch auf, will es nur relativ sein, alsdann hat es eo ipso das Tragische an sich, auch wenn es das glücklichste Individuum wäre, ja, ich möchte fragen: erst dann ist das Individuum das glücklichste, wenn das Tragische ihm nicht abgeht. Das Tragische befaßt in sich eine unendliche Milde; ästhetisch ist es im Verhältnis zum Menschenleben, was in höherm Sinne die göttliche Gnade und Barmherzigkeit ist; ja, es redet fast eine noch sanftere Sprache, so daß ich es mit einer Mutterliebe vergleichen möchte, welche das bekümmerte Kind in Schlummer einlullt. Das Ethische ist seiner Natur nach streng und hart. Kommt freilich ein begangenes Verbrechen in Frage, alsdann kann der Übelthäter gewiß nicht seine Zuflucht nehmen zum Tempel der Ästhetik, wiewohl diese einen auch für ihn milderen Ausdruck haben mag. Allein es wäre verkehrt, sich gerade dorthin zu wenden: denn sein Weg weist ihn nicht auf das ästhetische, sondern auf das religiöse Gebiet. Jenes liegt hinter ihm; und er beginge eine neue Sünde, wollte er sich jetzt ins Ästhetische werfen. Die Religion ist der Ausdruck für die väterliche und mütterliche Liebe: denn sie trägt in sich das Ethische, welches, aber gemildert ist, und zwar ähnlich wie auch das Tragische, eben durch ihre ununterbrochen still fortgehende Einwirkung. Während aber das Ästhetische solche Beruhigung gewähren möchte, ehe der tiefe und schreiende Gegensatz der Sünde zur Geltung gekommen ist, so gewährt die Religion ihren Frieden erst, nachdem dieser Gegensatz sich in seinem[142] ganzen furchtbaren Ernste geoffenbart hat. In demselben Augenblicke, wenn der Sünder vergehen möchte unter dem Druck der Gesamtsünde, unter welche auch er durch eigne Schuld gestellt ist, in dem Gefühle, daß nur in dem Maße, wie er sich schuldig weiß, Aussicht für ihn ist, erlöst zu werden – in demselben Augenblicke zeigt sich ihm darin ein Trost, daß es die allgemeine Sündhaftigkeit ist, welche auch in ihm sich regt, daher er auch von dem allgemeinen Heile nicht ausgeschlossen ist. Dieser Trost kann ja nur ein religiöser sein; und wer etwa wähnt, auf irgend einem andern Wege, z.B. durch ästhetische Verflüchtigung, dazu gelangt zu sein, der hat sich selbst betrogen und besitzt den Trost eigentlich gar nicht. In gewissem Sinne beweist daher die Zeit einen sehr richtigen Takt, wenn sie das Individuum für alles selbstverantwortlich machen will. Aber leider thut sie's nicht ernst und innerlich genug, was eben ihre Halbheit ist. Sie ist selbstklug genug, um die Thränen der Tragödie zu verschmähen, aber auch selbstklug genug, um der Barmherzigkeit entbehren zu wollen. Und was ist doch, sobald man diese zwei Dinge fortnimmt, das Menschenleben? was ist das Menschengeschlecht? – Entweder also die Wehmut des Tragischen, oder das ernste Leid der Religion und ihre um so tiefere Freude. Oder ist nicht der charakteristische Zug alles dessen, was von jenem glücklichen Volk der Hellenen herstammt, eine gewisse Schwer-und Wehmut ihrer Kunst, ihres Lebens, selbst ihrer Freude?

Im vorhergehenden habe ich besonders den Unterschied hervorzuheben gesucht, welcher insoweit zwischen der antiken und der modernen Tragödie statthat, als derselbe sich in der verschiedenen Auffassung der Schuld des Helden ausprägt. Dies ist der eigentliche Brennpunkt, von welchem alles und jedes in seiner unterschiedenen Besonderheit ausstrahlt. Erscheint der Held als der ausgemacht Schuldige, so hat der Monolog seine Stelle verloren; auch ist im Grunde für das Schicksal kein Raum übrig; alsdann wird der Gedanke durchsichtig genug im Dialog hervortreten, sowie die Handlung in der Situation. Dasselbe läßt sich von einer andern Seite ausdrücken, nämlich im Blick auf die Stimmung, welche die Tragödie hervorruft. Bekanntlich fordert Aristoteles, daß die Tragödie bei[143] dem Zuschauer Furcht und Mitleid erwecke. Ich erinnere mich, daß Hegel in seiner Ästhetik sich die ser Forderung anschließt und bei jedem dieser Punkte eine zwiefache Betrachtung anstellt, welche indes nicht gerade erschöpfend ist. Wenn Aristoteles Furcht und Mitleid einander gegenüberstellt, so könnte man hinsichtlich der Furcht wohl an die den einzelnen Momenten zur Seite gehende Stimmung denken, beim Mitleid an die Stimmung, die den definitiven Eindruck des Ganzen ausmacht. Diese Stimmung ist es, welche ich zunächst im Auge habe, weil sie der tragischen Schuld und ihrem Begriffe entspricht. Hegel bemerkt hierüber: es gäbe zwei Arten von Mitleiden, das gewöhnliche, welcher sich an die endliche Seite des Leidens halte, und das wahrhaft tragische Mitleid. Diese Bemerkung ist ganz richtig, jedoch für mich von geringerer Bedeutung, da jene allgemeine Rührung nichts als ein Mißverständnis ist, von welchem freilich sowohl die antike wie die moderne Tragödie betroffen werden kann. Wahr ist aber und tiefer eindringend, was er hinsichtlich des wahren Mitleidens hinzufügt: »Das wahrhafte Mitleiden ist im Gegenteil die Sympathie mit der zugleich sittlichen Berechtigung des Leidenden« (Bd. III, S. 531). Während aber Hegel das Mitleid erst im allgemeinen, dann die verschiedene Spiegelung desselben in den verschiedenen Individualitäten in Betracht zieht, ziehe ich es vor, die Verschiedenheit des Mitleids vielmehr in seinem Verhältnis zu den Unterschieben der tragischen Schuld hervorzuheben. Um hierauf alsbald hinweisen zu können, will ich »das Leidende«, was in dem Worte »Mitleid« liegt, in seine zwei Teile zerlegen und jedem einzelnen insbesondere das Sympathische beilegen, jedoch so, daß ich über die Stimmung des Zuschauers nichts, was auf seine Willkür hindeuten könnte, auszusagen brauche, sondern in der Weise, daß ich, die Verschiedenheiten seiner Stimmung ausdrückend, hiermit zugleich die der tragischen Schuld ausdrücke. In der antiken Tragödie ist das Leid ein tieferes, der Schmerz ein geringerer, während in der modernen der Schmerz einschneidender, das Leid ein gemäßigteres und ruhigeres ist. Das Leid birgt immer etwas mehr Substantielles (Objektives), als der Schmerz. Dieser deutet stets auf eine Reflexion über das Leiden, welche das Leid nicht kennt. Es ist psychologisch[144] sehr interessant, ein Kind zu beobachten, während es einen Älteren leiden sieht. Das Kind reflektiert nicht genug, um Schmerz zu empfinden, und doch ist sein Leid ein unendlich tiefes. Zu einer Vorstellung von Sünde und Schuld hat es nicht Reflexion genug; daran zu denken bei dem Leiden des Bejahrteren, liegt ihm sehr fern, und dennoch, wiewohl der Grund des Leidens ihm verborgen ist, regt sich eine dunkle Ahnung desselben mitten in seiner Betrübnis. Derselben Art ist, aber in tiefer Harmonie, das griechische Leid; daher ist dieses zu gleicher Zeit so milde und so tief. Sieht dagegen ein Älterer einen Jüngeren, ein Kind leiden, dann ist die Schmerzempfindung größer, das Leid geringer. Je mehr das Bewußtsein einer Schuld hervortritt, desto größer ist der Schmerz, um so weniger tief aber das Leid, das mitfühlende Leid. Macht man nun hiervon eine Anwendung auf das Verhältnis zwischen antiker und moderner Tragödie, so darf man sagen: in der antiken Tragödie selbst ist das Leid ein tieferes, und demzufolge auch in dem Bewußtsein, welches ihm entspricht. Man sage sich nämlich beständig: Ich bin's nicht, an dem es liegt, sondern die Tragödie; ich aber habe mich in das griechische Bewußtsein hineinzuleben, um das in der griechischen Tragödie waltende Leid richtig zu verstehen. Wie oft ist es nur ein gedankenloses Nachsprechen, wenn so manche die griechische Tragödie bewundern. Denn so viel liegt zu Tage, daß unsre Zeit wenigstens für das, was eigentlich Gegenstand des griechischen Leides ist, keine sonderliche Sympathie hat. Das Leid ist darum ein tieferes, weil die Schuld die ästhetische Zweideutigkeit an sich trägt. In neuerer Zeit ist der Schmerz vorwiegend. »Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen,« dieses Wort könnte man füglich der griechischen Tragödie zur Überschrift geben. Ja, furchtbar ist der Zorn der Götter; dennoch ist der Schmerz darüber kein so großer, wie in der modernen Tragödie, wo der Held seine ganze Schuld persönlich zu büßen hat, sich selbst durchsichtig in seinem verschuldeten Leiden. Hier gilt es nun, ähnlich wie an der tragischen Schuld, an dem Leibe nachzuweisen, welches das wahrhaft ästhetische Leid sei, und welches der wahrhaft ästhetische Schmerz. Der bitterste Seelenschmerz ist nun offenbar die Reue; aber die Reue hat ethische,[145] nicht ästhetische Bedeutung. Sie ist darum der bitterste Schmerz, weil ihr die totale Durchsichtigkeit der ganzen Schuld gegeben ist; aber gerade dieser Durchsichtigkeit wegen erregt sie kein ästhetisches Interesse. Der Reue ist eine Heiligkeit eigen, durch welche das Ästhetische in Schatten gestellt wird; sie will sich nicht sehen lassen, am wenigsten vom Publikum, und nimmt eine ganz andre Art von Selbstthätigkeit in Anspruch. Freilich hat das neuere Drama, selbst die Komödie, zuweilen auch die Reue auf die Bühne gebracht, worin sich aber nur der Unverstand des Dichters zeigte. Man hat an das psychologische Interesse erinnert, welches doch der Anblick einer solchen Schilderung haben könne; das psychologische Interesse ist aber wieder nicht das ästhetische. Dies gehört mit zu der Verwirrung, die sich in unsern Tagen so vielfältig geltend macht. Man sucht eine Sache, wo man sie nicht suchen sollte, und, was noch schlimmer ist, man findet sie, wo man sie nicht finden sollte. Im Theater läßt man sich erbauen, in der Kirche ästhetisch anregen; durch Romane will man bekehrt werden, an Erbauungsbüchern seinen »Genuß« finden; man will auf der Kanzel die Philosophie haben und auf dem Katheder den Prediger. – Der vorhin erwähnte Schmerz ist also nicht der ästhetische, und doch unstreitig derjenige, auf den unsre Zeit hinarbeitet, als auf das höchste tragische Interesse. Ebenso verhält es sich hinsichtlich der tragischen Schuld. Die Gegenwart hat alle objektiven Begriffe von Familie und Geschlecht, Staat und Kirche verloren; sie muß den Einzelnen daher völlig sich selbst überlassen, so daß dieser, genau genommen, sein eigner Schöpfer wird. Die Schuld ist also dann Sünde, ihr Schmerz Reue, womit das Tragische aber aufhört. Auch die in strengerm Sinne »leidende« Tragödie hat im Grunde ihr tragisches Interesse eingebüßt: denn die Macht, von der das Leiden herstammt, ist heute um ihre Bedeutung gekommen, und der Zuschauer ruft: »Hilf dir selber, alsdann wird der Himmel dir helfen!« Mit andern Worten: der Zuschauer, d.h. das Kind dieser Zeit, hat das Mit-Leiden verlernt; aber im subjektiven Sinne sowohl wie im objektiven ist gerade das Mit-Leiden der eigentliche Ausdruck für das Tragische.

Der Deutlichkeit wegen werde ich, ohne das Erörterte weiter[146] zu entwickeln, zuerst den Begriff des ästhetischen Leides etwas näher bestimmen. Die Richtung, welche das Leid nimmt, ist derjenigen des Schmerzes entgegengesetzt; und wenn man nur nicht durch Konsequenzmacherei meine Aussage verderben will, so möchte ich sagen: je größere Unschuld, desto tieferes Leid. Urgiert man dies, so gewinnt man das Tragische. Ein Moment von Schuld bleibt dabei stets zurück; aber dieses Moment ist eigentlich nicht subjektiv reflektiert, weshalb das Leid in der griechischen Tragödie ein so tiefes ist. Zu unzeitigen Konsequenzen würde es führen, wenn man diesen Satz übertreiben und auf ein fremdes Gebiet, z.B. das metaphysische, versetzen wollte. Indes liegt hierin der eigentliche Grund, weshalb man sich immer gescheut hat, Christi Leben eine Tragödie zu nennen: man fühlte, daß hier ästhetische Eindrücke die Sache nicht erschöpfen. Im Gegenteil neutralisieren sich diese ja bei dieser einzigartigen, unvergleichlichen Erscheinung und werden gegeneinander in Indifferenz gestellt. Die tragische Handlung schließt immer ein Moment des Leidens in sich, sowie das tragische Leiden ein Moment des Handelns; das Ästhetische liegt im Gebiet der Relativität. Die Idealität absoluten Handelns und absoluten Leidens geht über die Sphäre und die Kräfte der Ästhetik hinaus, und gehört dem höhern metaphysischen Gebiete an. In Christi Leben waltet diese Idealität. Denn sein Leiden ist ein absolutes (der bloßen Zufälligkeit enthobenes), sofern es ein absolut freies Handeln ist, während auch sein Handeln absolutes Leiden ist, sofern es durchweg im unbedingten Gehorsam geschieht. Das zurückbleibende Moment von Schuld also ist nicht ein subjektiv reflektiertes; und dieses ist's gerade, was das Leid zu einem so tiefen macht. Die tragische Schuld ist nämlich mehr, als die bloß subjektive: sie ist vererbte Schuld. Dies ist aber, ebenso wie die Erbsünde, ein substantieller Begriff, und dieses Substantielle, geschichtlich Gegebene, ist es, wodurch das Leid vertieft wird. Die von jeher bewunderte tragische Trilogie des Sophokles: Oedipus Coloneus, Oedipus Rex und Antigone, bewegt sich wesentlich um dieses echt tragische Interesse. Die Erbschuld befaßt aber diesen Widerspruch, daß die Schuld, und doch wieder keine Schuld ist. Das Band, wodurch hier dem Individuum die Schuld zugezogen wird, ist eben die Pietät; aber die[147] Schuld, deren es hierdurch teilhaftig wird, ist mit aller möglichen ästhetischen Amphibolie (Zweideutigkeit) behaftet. Man könnte füglich auf den Gedanken verfallen, das Volk, bei welchem das tief Tragische sich recht hätte entwickeln müssen sei das jüdische. Wenn es von Jehova heißt: »Ich bin ein starker, eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missethat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied,« oder wenn man im alten Testamente jene furchtbaren Verwünschungen der Abtrünnigen hört, so wird man versucht, hierin tragischen Stoff zu suchen. Dazu ist aber das Judentum viel zu sehr ethisch entwickelt; und Jehovas Fluch ist, immerhin schreckenerregend, doch zugleich jedesmal gerechte Strafe. Anders in Griechenland. Hier hat der Götter Zorn keinen ethischen Charakter, wohl aber ästhetischen.

In der griechischen Tragödie selbst findet ein Übergang statt vom Leide zum Schmerz. Als Beispiel möchte ich den Sophokleischen Philoktet anführen. Dieses ist eine im strengern Sinne leidvolle Tragödie. Aber auch hier herrscht noch ein hoher Grad von Objektivität. Der griechische Held hat seinen Standpunkt innerhalb seines Schicksals, welches ein unabänderliches ist, so daß von einer Milderung weiter keine Rede sein kann. Dieses Element ist im Grunde, bei allem Schmerze, das Moment des einmal verhängten Leides. Der erste Zweifel, mit welchem eigentlich der Schmerz anhebt, ist dieser: Warum das mir? könnte es nicht anders sein? Zwar findet sich in Philoktet, was mir immer aufgefallen ist und wodurch er sich von jener unsterblichen Trilogie wesentlich unterscheidet, ein starkes Maß von Reflexion: der meisterhaft geschilderte Selbstwiderspruch in seinem Schmerze, worin sich eine echt menschliche Sympathie ausspricht; aber das Ganze wird doch von geschichtlicher Objektitivität getragen. Philoktets Reflexion versenkt sich nicht in sich selbst; und wenn er sich beklagt, daß von seinem Schmerze niemand wisse, so ist auch das echt griechisch. Es liegt hierin ungemein viel Wahrheit; doch gibt sich dadurch zugleich der Unterschied von dem eigentlich reflektierenden Schmerze zu erkennen, welcher immer nur mit sich allein sein möchte, welcher einen neuen Schmerz gerade in dieser Vereinsamung aufsucht.

Das wahre tragische Leid fordert immer ein Moment von Schuld, der wahre tragische Schmerz ein Moment von Unschuld, jenes eine[148] gewisse Durchsichtigkeit, dieser im Gegenteil ein gewisses Dunkel. So glaube ich am besten andeuten zu können, worin die Begriffe Leid und Schmerz ihrem tiefsten Wesen nach einander berühren, sowie auch, was der Begriff tragische Schuld in sich faßt. –


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Unsre Gesellschaft, welcher ich diese fragmentarische Arbeit vorlese – und andre als solche duldet sie ja nicht –, begehrt bei jeder ihrer Zusammenkünfte eine Erneuerung und Wiedergeburt, und zu diesem Ende zugleich, daß ihre innere Produktivität jedesmal unter einer neuen Bezeichnung verjüngt auftrete. Laßt uns denn unsre Tendenz fortan als Versuch im fragmentarischen Streben, oder in der Kunst, hinterlassene Papiere zu schreiben, bezeichnen. Eine vollständig ausgeführte Arbeit steht in keinem Verhältnis mehr zu der dichtenden Persönlichkeit; bei hinterlassenen Papieren fühlt man beständig, eben des Abgebrochenen, des Desultarischen wegen, einen Antrieb, die Persönlichkeit dichtend mit auszugestalten. Hinterlassene Papiere gleichen einer Ruine; und gäbe es wohl für »Begrabene« eine natürlichere Weilstätte? Die Kunst besteht nun darin, künstlerisch die nämliche Wirkung hervorzubringen, die nämliche Sorglosigkeit und Zufälligkeit, den nämlichen anakoluthischen (regellosen) Gedankengang; die Kunst besteht darin, einen Genuß zu erzeugen, der niemals präsentisch wird, sondern stets ein Moment der Vergangenheit in sich trägt, also daß er ein in vorigen Tagen gegenwärtiger ist. Dieses drückt sich schon in dem Worte »nachgelassen« aus. In gewissem Sinne ist ja alles, was ein Dichter produziert hat, sein Nachlaß; allein das völlig Ausgeführte würde man doch wohl niemals eine nachgelassene Arbeit nennen, gesetzt auch, daß es zufällig nicht bei seinen Lebzeiten erschienen wäre. Auch sehe ich hierin eine unleugbare Eigenschaft jeder menschlichen Hervorbringung, daß sie eben nur Nachlaß ist, daß es den Menschen nicht vergönnt ist, im ewigen Anschauen Gottes und der vollen Wahrheit zu leben. Nachgelassenes will ich alles nennen, was in unsrer Mitte produziert wird, das heißt künstlerischen Nachlaß, und demzufolge als »Nachlässigkeit«, Indolenz, jene schöpferische Genialität bezeichnen, welcher wir unter uns so großen Wert beilegen, als vis inertiae das Naturgesetz, das[149] wir verehren. Hiermit bin ich denn unsern geheiligten Sitten und Gebräuchen nachgekommen.

So tretet denn näher zu mir, werte Symparanekrômenoi, schließet euch um mich, indem ich meine tragische Heldin in die Welt hinaussende, indem ich als Mitgift ihr den Schmerz beigeselle. Sie ist mein Werk; jedoch ist ihr Umriß so unbestimmt, ihre Gestalt so nebulos, daß jeder von euch sich in sie verlieben und sie auf seine Art liebhaben kann. Sie ist mein Geschöpf; ihre Gedanken sind meine Gedanken; und doch ist's mir, als hätte ich in liebeseligem Dünkel an ihrer Seite geweilt, und sie hätte mit ihre tiefsten Geheimnisse anvertraut, mit diesen ihre ganze Seele in meine Brust geatmet; als wäre sie dann in einem Nu verwandelt, ja verschwunden, so daß ihre Realität sich nur in der Stimmung verspüren ließ, welche zurückblieb, während es sich gerade umgekehrt verhält, daß sie aus meiner Stimmung heraus zu immer größerer Realität geboren wurde. Ich lege ihr das Wort auf die Lippen; und dennoch kommt es mir vor, als ob ich ihre Vertraulichkeit mißbrauchte; es ist mir, als stünde sie schmollend hinter mir. Es verhält sich aber umgekehrt: in ihrer Verschleierung wird sie nur immer sichtbarer. Sie ist mein Eigentum, mein rechtmäßiges Eigentum; und doch ist's mir mitunter, als hätte ich mich heimlich in ihr Vertrauen hineingeschlichen, als müßte ich beständig nach ihr zurückschauen, während es umgekehrt sich verhält, daß sie beständig mir vor Augen steht, daß sie beständig nur dadurch in die Existenz tritt, daß ich sie auf den Schauplatz führe. Antigone heißt sie. Diesen Namen will ich aus der alten Tragödie beibehalten, an welche ich mich im ganzen anschließen werde, wiewohl auf der andern Seite alles modern wird. Ich verwende aber eine weibliche Figur, weil ich glaube, eine solche werde am geeignetsten sein, den Unterschied darzulegen.

Labdakos' Geschlecht ist also Gegenstand des Ingrimms der erzürnten Götter. Ödipus hat die Sphinx getötet, Theben befreit. Ödipus hat seinen Vater umgebracht, seine Mutter geehlicht, Antigone ist die Frucht dieser Ehe. So in der griechischen Tragödie. Hier weiche ich ab. Alles verhält sich bei mir ebenso, und doch ist alles anders. Daß er die Sphinx getötet und Theben befreit[150] hat, ist allen bekannt. Ödipus lebt geehrt und bewundert, glücklich in seiner Ehe mit Jokaste. Das übrige ist vor der Menschen Augen verborgen, und keine Ahnung hat den grauenvollen Traum in die Wirklichkeit versetzt. Nur Antigone weiß davon. Auf welche Art sie es erfahren, liegt außerhalb des tragischen Interesses, und jeder kann sich in dieser Hinsicht seiner eignen Kombination überlassen. In einem frühern Lebensalter, ehe sie noch völlig gereift war, haben dunkle Hindeutungen auf das entsetzliche Geheimnis momentweise ihre Seele ergriffen, bis die Gewißheit sie plötzlich der tiefsten Seelenangst in die Arme wirft. Hier habe ich nun sogleich einen dem Modern-Tragischen angehörigen Begriff. Angst ist nämlich ein innerer Zustand, eine Reflexion, und insofern vom Leide wesentlich verschieden. Angst ist das Organ, durch das jemand sich das Leid zu Herzen nimmt, es sich aneignet und assimiliert. Es ist die geistige Kraft, mittels derer das Leid sich in ein Menschenherz hineinbohrt. Die Wirkung derselben ist aber nicht wie die des Pfeiles, sondern eine successive, nicht einfürallemal fertige, sondern eine beständig werdende. Sowie ein leidenschaftlich erotischer Blick seines Gegenstandes begehrt, so die Angst gleichsam lüsternen Blickes des ihr gegenübertretenden Leides. Wie eine stille, unvertilgbare Liebe sich mit ihrem Gegenstande beschäftigt, geradeso die Angst mit dem einen Leide. Aber die Angst hat in sich ein Moment, welches macht, daß sie noch stärker an ihrem Gegenstande haftet: denn sowie sie diesen liebt, so fürchtet sie ihn auch. Teils ist es ihr eigen, das Leib fort und fort und von allen Seiten zu betasten, um es immer völliger aufzudecken; teils liegt es in ihrer Art, in einem einzigen Nu das Leid gleichsam in Bewegung zu setzen, jedoch so, daß dieses plötzliche Nu sich augenblicklich in eine Zeitfolge auflöst. Angst in diesem Sinne ist ein echt tragischer Begriff; und das alte Wort: quem deus vult perdere, primum dementat, läßt sich hier mit Wahrheit anwenden. Daß die Angst eine Reflexions-Bestimmung ist, gibt schon die Sprache zu erkennen. Ich sage immer: sich vor etwas ängsten, wodurch ich die Angst von demjenigen, wovor ich mich ängste, absondre; und niemals kann ich die Angst in objektivem Verstande nennen, während das Wort: »Leid« im objektiven und Subjektiven Verstande[151] gebraucht werden kann (ebenso: meine Sorge, und wiederum; ich sorge um das, was eben meine Sorge ist). Dazu kommt, daß Angst immer die Reflexion auf eine gewisse Zeit in sich schließt: denn ich ängste mich eigentlich nicht über das Gegenwärtige; aber das Vergangene und das Künftige, derart gegeneinandergehalten, daß die Gegenwart verschwindet, beides sind Reflexions-Bestimmungen. Das griechische Leid dagegen ist, wie das ganze griechische Leben, präsentisch, daher das Leid tiefer, der Schmerz aber weniger. Die Angst gehört also wesentlich mit zum Tragischen. Deshalb ist Hamlet so tragisch, weil er das Verbrechen der Mutter ahnt. Robert der Teufel fragt, woher es doch komme, daß er so viel Böses thun müsse. Der nordische Högne, welchen die Mutter im fleischlichen Verkehr mit einem Ungetüm empfangen und geboren hatte, erblickt zufällig im Wasser sein Bild und fragt entsetzt die Mutter, wie er zu einer solchen Leibesgestalt komme.

Der Unterschied fällt nun leicht in die Augen. In der griechischen Tragödie beschäftigt Antigone sich nicht mit des Vaters unglücklichem Geschicke. Dieses ruht als ein düstres, undurchdringliches Leid auf dem ganzen Geschlechte. Antigone lebt sorglos wie jede andre hellenische Jungfrau dahin; ja, der Chor beklagt sie, als ihr Tod beschlossen ist, daß sie in so jugendlichem Alter dieses Leben verlassen solle, es verlassen solle, ohne die schönsten Güter desselben gekostet zu haben, wobei er offenbar das tiefste Leid der Familie ganz vergißt. Hiermit soll nun keineswegs gesagt werden: es sei Leichtsinn, oder das einzelne Individuum stehe allein für sich, ohne sich um sein Verhältnis zum Geschlecht zu kümmern. Nein, es ist eben echt griechisch. Die Lebensverhältnisse sind ihnen einmal gegeben, wie der Horizont, unter dem sie leben. Ist dieser auch dunkel und bewölkt, so ist er zugleich unwandelbar. Dies gibt der Seele einen Grundton, welcher das Leid ist, nicht der Schmerz. In der Antigone konzentriert sich die tragische Schuld auf einen einzigen Punkt, daß sie nämlich gegen des Königs Verbot ihren Bruder bestattet hat. Betrachtet man dies als ein isoliertes Faktum, als die Kollision zwischen der schwesterlichen Liebe (Pietät) und einem willkürlichen Menschengebote, so hört hiermit die Antigone auf, eine griechische Tragödie zu sein; das Sujet wird zu einem modern-tragischen. Was[152] im griechischen Sinne tragisches Interesse erzeugt, ist dies, daß in des Bruders unglücklichem Tode, in der Kollision der Schwester mit einem einzelnen menschlichen Verbote, Ödips trauriges Schicksal wieder anklingt, welches sich in den einzelnen Sprößlingen verzweigt; es sind die Nachwehen desselben. Dieses Ganze ist es, was dem Leide für die Zuschauer eine so unendliche Tiefe gibt. Nicht ein bloßes Individuum ist es, was hier zu Grunde geht, sondern eine kleine Welt. Es ist das geschichtliche, vererbte Leid, welches sich selbst überlassen, in seiner eignen furchtbaren Konsequenz, wie eine Naturmacht vorwärtsschreitet; und Antigones trauriges Geschick ist wie der Nachhall von dem des Vaters, ein potenziertes Leid. Entschließt sich also Antigone, dem königlichen Verbote zuwider, den Bruder zu bestatten, so sehen wir hierin nicht sowohl eine freie Handlung, als die verhängnisvolle Notwendigkeit, welche der Väter Missethat noch an den Kindern heimsucht. Zwar äußert sich in ihrem Verhalten Freiheit genug, so daß wir sie ihrer schwesterlichen Zärtlichkeit wegen liebgewinnen können; aber die Notwendigkeit des Fatums tönt immer wider, gleichsam als durchgehender Kehrreim, nicht nur Ödips Leben in sich schließend, sondern auch sein Geschlecht.

Während nun die griechische Antigone sorglos dahinlebt, so daß, wäre nicht das neue Faktum hinzugetreten, man sich ihr Leben in seiner stufenweisen Entfaltung sogar als ein glückliches vorstellen dürfte, so ist dagegen das Leben unsrer Antigone wesentlich zu Ende. Ich habe sie gar nicht dürftig ausgestattet; wie man sagt, daß ein gutes Wort am rechten Orte goldnen Äpfeln gleicht in silbernen Schalen, so möchte ich sagen, daß ich hier des Leides Frucht in die Schale des Schmerzes gelegt. Ihre Aussteuer besteht nicht in eitler Pracht, welche Motten und Rost verzehren können; es ist ein unvergänglicher Schatz, nach welchem Diebeshände nicht graben und ihn stehlen können: dafür wird sie selbst zu wachsam sein. Ihr Leben entfaltet sich nicht wie das der griechischen Antigone; es ist nicht nach außen, sondern nach innen gekehrt; die Szene liegt nicht draußen, sondern drinnen: es ist eine Geisterszene. Sollte es mir noch nicht gelungen sein, euer Interesse, liebe Symparanekrômenoi, für eine solche Jungfrau zu gewinnen? oder soll ich meine Zuflucht zu einer captatio benevolentiae[153] nehmen? Auch meine Antigone gehört nicht der Welt an, in welcher sie lebt. Wenn auch blühend und gesund, ist doch ihr eigentliches Leben ein verborgenes; auch sie ist, wiewohl lebend, in einem andern Sinne gestorben; stille ist ihr Leben und verborgen; die Welt hört auch nicht ihr Seufzen: denn die Seele ist verborgen im Kämmerlein ihres Innersten. Ich brauche nicht zu bemerken, daß sie nichts weniger als ein schwaches und kränkliches Frauenzimmer ist; im Gegenteil, sie ist stolz und thatkräftig. Vielleicht gibt es nichts, was einen Menschen so adelt, als wenn er ein Geheimnis bewahren kann. Dies teilt seinem ganzen Leben eine Bedeutung mit, welche es doch allein für ihn selbst haben kann; dies erlöst ihn von jeder klüglichen Rücksicht auf die Umgebungen; sich selber genug, ruht er in seinem Geheimnis, was man beinahe sagen kann, auch wenn sein Geheimnis das unseligste wäre. So ist Antigone. Sie ist stolz auf ihr Geheimnis, stolz, daß sie auserwählt ist, die Ehre des Ödipischen Geschlechts auf sehr eigentümliche Weise zu retten; und während das dankbare Volk dem Ödip Dank und Preis zujubelt, wird sie ihrer eignen Bedeutung voll inne, und ihr Geheimnis senkt sich tiefer und tiefer in ihre Seele, immer unzugänglicher für jedes lebende Wesen. Sie fühlt, wieviel in ihre Hand gelegt ist; und hierdurch bekommt sie die übernatürliche Größe, welche erforderlich ist, um tragisch uns beschäftigen zu können. Als eine einzelne Figur muß sie uns interessieren können. Sie ist mehr als eine gewöhnliche Jungfrau, und doch eine Jungfrau in aller Natürlichkeit und Wahrheit; sie ist eine Braut, aber in aller Jungfräulichkeit und Reinheit. Als Braut ist das Weib im Begriffe, seine Bestimmung zu erfüllen; und daher kann im all gemeinen ein Weib uns nur in demselben Grade beschäftigen, wie sie in Beziehung zu dieser ihrer Bestimmung gebracht wird. Indessen gibt es hierzu Analogien. So redet man von einer Gottesbraut; im Glauben und im Geiste besitzt sie den Inhalt, in welchem sie lebt und webt. Unsre Antigone möchte ich in einem vielleicht noch schöneren Sinne Braut nennen; sie ist gewissermaßen mehr, kann Mutter heißen, rein ästhetisch gefaßt: virgo mater; ihr Geheimnis ist es, das sie vor der Welt verborgen gleichsam unter ihrem Herzen trägt. Sie ist schweigsam, eben weil sie von[154] einem Geheimnis erfüllt ist; aber diese, ihrem Schweigen entsprechende, Einkehr in sich selbst gibt ihr eine Haltung, die über das gewöhnliche Maß hinausgeht. Sie ist eifersüchtig auf ihr Leid, welches ihre Liebe ist. Dennoch ist ihr Leid durchaus kein totes, unbewegliches Eigentum: es ist in beständiger Bewegung, gebiert Schmerz und wird unter Schmerzen geboren. Wie wenn eine Jungfrau beschließt, ihr Leben für eine höhere Idee zu opfern, wenn sie dasteht mit dem Opferkranze um ihre Stirn. Stellt sie alsdann nicht eine Braut vor? Die große begeisternde Idee verwandelt sie, und der Opferkranz wird zum Brautkranz. Sie kennt keinen Mann, und ist dennoch Braut; sie ist sich ebensowenig der Idee bewußt, welche sie begeistert, was unweiblich sein würde, und dennoch ist sie Braut. So ist Antigone die Braut des Leides. Sie weiht ihr Leben dem Zwecke, über des Vaters Geschick, über ihr eignes zu wachen. Ein solches Unglück, wie das, von welchem der Vater betroffen ist, erfordert Leid und Trauer; und doch gibt es keinen, der darüber Leid tragen könnte, da keiner davon weiß. Und wie die griechische Antigone es nicht ertragen kann, daß des Brudes Leichnam hingeworfen werde, ohne die letzten Ehren, so ist sie davon durchdrungen, wie hart es wäre, wenn kein Mensch erfahren hätte, was sie ängstet, wenn keine Thräne darum gefallen wäre; sie dankt den Göttern, daß sie zu solchem Werkzeug ausersehen wurde. So ist Antigone in ihrem Schmerze groß. Auch hier mache ich auf einen Unterschied aufmerksam zwischen dem Hellenischen und dem Modernen. Echt griechisch ist es, wenn Philoktet klagt, da sei keiner, der wisse, was er leide. Es ist ein echt menschliches Bedürfnis, zu wünschen, daß andre dies erfahren; der reflektierende Schmerz indessen wünscht es nicht. Antigone wandelt der Wunsch nicht von ferne an, daß irgend jemand ihren Schmerz erfahren möge; dagegen empfindet sie ihn im Verhältnis zum Vater, empfindet die ihm dadurch widerfahrende Gerechtigkeit, daß sie um ihn Leid trägt – was ästhetisch ebenso gerecht ist, wie dies, daß man Strafe duldet, wenn man Unrecht gethan hat. Während daher erst durch die Vorstellung, daß sie dazu bestimmt sei, lebendig begraben zu werden, die Antigone in der griechischen Tragödie zu dem Schmerzensausbruch gezwungen wird:
[155]

O weh, Unselige!

Nicht unter Menschen, nicht unter Toten,

Im Leben nicht heimisch noch im Tode! (V. 851),


so kann unsre Antigone dies ihr lebenlang von sich aussagen. Der Unterschied fällt in die Augen: in dem Ausspruche ist eine faktische Wahrheit, welche den Schmerz mindert. Unsre Antigone könnte dasselbe nur in uneigentlichen Sinne sagen. Die Griechen drücken sich nicht uneigentlich aus, darum eben weil die Reflexion, welche hierzu gehört, nicht in ihnen lag. Wenn Philoktet z.B. klagt, daß er einsam und verlassen auf der öden Insel wohne, so entspricht seinem Ausspruche zugleich die thatsächliche Wahrheit; empfindet dagegen unsre Antigone den Schmerz ihrer Einsamkeit, so ist dies, daß sie allein ist, ja nur uneigentlich der Fall; aber eben darum ist dieser (reflektierte) Schmerz erst ein recht eigentlicher Schmerz.

Was nun die tragische Schuld betrifft, so liegt sie einerseits in dem Faktum, daß sie den Bruder begräbt, anderseits in dem Konnex mit des Vaters traurigem Geschick, welches aus den zwei vorhergehenden Tragödien stets mitverstanden wird. Hier stehe ich wieder bei einer ganz besondern Dialektik, welche die Schuld des Geschlechts in Beziehung zu dem Individuum letzt. Dieses ist das Ererbte. Übrigens stellt man sich unter Dialektik gewöhnlich etwas Abstraktes vor; man denkt zunächst an logische Gedankenbewegungen. Indes wird das Leben jeden bald lehren, daß es manche Arten Dialektik gibt, daß fast jede Leidenschaft ihre eigne hat. Die Dialektik also, welche die Schuld des Geschlechts oder der Familie mit dem einzelnen Subjekt in Verbindung bringt, so daß dieses nicht mir darunter leidet – denn das ist eine Konsequenz der Natur, gegen welche man umsonst versuchen würde sich zu verhärten –, sondern auch die Schuld mitträgt, oder an dieser partizipiert, diese Dialektik ist uns fremd und hat für uns nichts Zwingendes. Will man indessen an eine Wiedergeburt des Antik-Tragischen denken, so muß jeder für sich an seine eigne Wiedergeburt beuten, nicht bloß in religiös-sittlichem Sinne, sondern bis auf die zeitlichen und endlichen Beziehungen, vom Mutterschoß der Familie und des Geschlechtes her. Die Dialektik, die das Individuum mit Familie und Geschlecht in Verbindung bringt,[156] ist keine subjektive, denn diese hebt gerade die Verbindung auf und setzt das Individuum außerhalb des Zusammenhanges; nein, es ist eine objektive Dialektik. Sie ist wesentlich Pietät. Diese zu bewahren, kann niemandem schaden. In unsern Tagen läßt man wohl für natürliche Verhältnisse gelten, was man für Verhältnisse höherer Art nicht gelten lassen will. So isoliert, so unnatürlich wird man doch nicht sein wollen, daß man die Familie nicht als ein Ganzes betrachten wollte, von welchem man spräche: Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit. Unwillkürlich geschieht dies; und warum anders ist einem Einzelnen so bange, ein andres Glied der Familie möchte Schande über diese bringen, als weil er fühlt, daß er darunter mitleidet? Dieses Leiden muß der Einzelne offenbar mitnehmen, er mag wollen oder nicht. Man fühlt, daß der Mensch nicht völlig Herr seiner durch die Natur gegebenen Verhältnisse werden könne, wünscht es aber doch soweit wie möglich. Erblickt dagegen der Einzelne in diesem Verhältnisse eines der Lebensmomente und erkennt es in seiner wahren Bedeutung, so kommt dies in der Sphäre des höhern Lebens darin zum Ausdruck, daß das Individuum an der Schuld partizipiert. Immerhin mögen viele nicht fähig sein, diese Konsequenz zu fassen; alsdann vermögen sie aber auch nicht, das Tragische zu fassen. Steht ein Individuum ganz isoliert, so ist es entweder in seinem Übermut unbedingt seines Geschickes eigner Schöpfer, und dabei ist nichts Tragisches, sondern nur das Böse – denn daß einer sich selbst verblendet oder in verkehrten Wahn hingegeben hat, kann nicht tragisch heißen, es ist sein eignes Werk –, oder die Individuen sind nichts als Exemplare des Geschlechts, bloße Modifikationen der ewigen Substanz des Daseins, und alsdann ist gleichfalls das Tragische dahin.

Hinsichtlich der tragischen Schuld zeigt sich nun auch leicht ein Unterschied in dem Modernen, nachdem dieses das Antike in sich aufgenommen hat: denn hiervon kann jetzt allein die Rede sein. Die griechische Antigone partizipiert an des Vaters Schuld kraft ihrer kindlichen Pietät, ebenso auch die moderne. Für jene ist aber Schuld und Leiden des Vaters ein äußeres Faktum, durch welches nicht ihre Trauer hervorgerufen wird (quod non volvit in pectore); und soweit sie selbst, infolge des Naturzusammenhanges, unter des Vaters Schuld[157] leidet, bleibt alles doch in seiner rein objektiven Thatsächlichkeit. Mit unsrer Antigone ist es anders. Ich nehme an, daß Ödip gestorben ist. Schon während er noch lebte, wußte Antigone von jenem Geheimnis; aber ihr Herz vor dem Vater auszuschütten, dazu fehlt ihr der Mut. Durch des Vaters Tod ist der einzige Ausweg ihr verschlossen, um ihr Herz von dein Geheimnis zu erleichtern. Jetzt es irgend einem lebenden Wesen anzuvertrauen, hieße den Vater beschämen. So ist fortan ihr Leben dem einen Zwecke geweiht, durch ihr unverbrüchliches Schweigen tagaus tagein ihm die letzte Ehre zu erweisen. Über eines bleibt sie indes im Dunkel: ob der Vater selbst es gewußt habe, oder nicht. Hier tritt das Moderne ein: es ist die Unruhe in ihrem Herzeleid, die Amphibolie in ihrem Schmerz. Sie liebt den Vater von ganzer Seele; und diese Liebe ist es, wodurch sie von sich selbst ab- und in die Schuld des Vaters hineingezogen wird. Die Wirkung dieser schmerzerfüllten Liebe ist es, daß sie den Menschen sich fremd fühlt. Ihre Schuld empfindet sie, je inniger sie den Vater liebt; nur bei ihm kann sie Ruhe finden! Als gleich Schuldige wollen sie miteinander Leid tragen. Während er lebte, vermochte sie ihren Kummer ihm nicht anzuvertrauen; wußte er nichts davon, so konnte sie ihn ja in einen ähnlichen Schmerz hinabstürzen. Und dennoch, falls er nichts davon wußte, war die Schuld eine geringere. So ist hier alles bedingt. Wüßte Antigone nicht mit Bestimmtheit den faktischen Zusammenhang, so verlöre sie sehr an Bedeutung: sie hätte nur mit einer Ahnung zu kämpfen. Das ist aber zu wenig tragisch, um unser Interesse in Anspruch zu nehmen. Aber sie weiß alles; innerhalb dieses Wissens bleibt jedoch ein gewisses Nichtwissen, welches die Bekümmernis immer in Gärung erhalten, jeden Augenblick sie in Schmerz verwandeln kann. Hierzu kommt, daß sie in fortdauerndem Kampf mit ihrer Umgebung steht. Ödip lebt in der Erinnerung des Volkes als ein glücklicher, allgemein geehrter König. Antigone selbst hat ihren Vater so sehr bewundert, wie geliebt. Sie beteiligt sich an jedem Jubel, der zu seinem Preise ausbricht; wie keine andre Jungfrau im ganzen Reiche, schwärmt sie für ihren Vater; ihre Gedanken kehren immer wieder zu ihm zurück; im ganzen Lande wird sie als zärtliche Tochter gepriesen. Und[158] doch ist diese ihre Begeisterung die einzige Art, wie sie ihrem Schmerze Luft machen kann. Ihr Vater liegt ihr beständig im Sinne – aber wie? Dieses ist ihr Schmerzliches Geheimnis. Und dennoch darf sie sich dem Leide nicht hingeben, sich nicht grämen; sie fühlt, wieviel auf ihr ruht, sie fürchtet, daß, sähe man sie also leiden, man auf die Spur käme. So kommt ihr auch von dieser Seite nicht sowohl Leid, als Schmerz.

Auf diese Weise bearbeitet und gründlich durchgearbeitet, glaube ich, könnte Antigone uns wohl recht interessieren; und ihr werdet mir wohl nicht Leichtsinn, oder väterliche Vorliebe zum Vorwurf machen, wenn ich meine: sie dürfe sich schon versuchen, im tragischen Fache und in einer Tragödie aufzutreten. Bis dahin ist sie nur eine epische Figur, und das Tragische an ihr ist nur von epischem Interesse.

Einen Zusammenhang, in den sie hineinpassen würde, ausfindig zu machen, dürfte auch nicht schwer halten. In dieser Hinsicht kann man sich immerhin mit dem begnügen, was die griechische Tragödie darbeut. Sie hat ja eine Schwester am Leben; diese lasse ich etwas älter und verheiratet sein. Auch ihre Mutter könnte noch unter den Lebenden sein. Diese werden natürlich immer Nebenpersonen bleiben, wie denn überhaupt die Tragödie zwar ein episches Moment in sich aufnehmen kann, sowie die griechische Tragödie ein solches in sich trägt, nur daß es nicht das hervorragende sein darf. Jedoch wird der Monolog hier immer eine Hauptrolle spielen, wiewohl die Situation ihm zu Hilfe kommen muß. Alles hat man sich um jenes Hauptinteresse konzentriert zu denken, welches für Antigone ihren Lebensinhalt ausmacht. Und wenn nun das Ganze so weit in Ordnung gebracht ist, alsdann bleibt die Frage übrig: wie wird das dramatische Interesse zuwegegebracht?

Wie unsre Heldin sich im vorhergehenden dargestellt hat, ist sie auf dem Wege, ein Moment ihres Lebens zu überspringen; sie ist im Begriffe, ganz in Idee und Geist leben zu wollen, was aber der Natur widerstrebt. Bei der Tiefe aber, die ihrer Seele eigen ist, muß sie in dem Falle, daß sie sich verliebt, mit außerordentlicher Leidenschaft lieben. Hier stehe ich also bei dem dramatischen Interesse. Antigone ist verliebt; und, ich sage es mit Schmerzen, Antigone ist[159] sterblich verliebt. Hier liegt offenbar die tragische Kollision. Im allgemeinen sollte man mit dieser Bezeichnung etwas sparsamer umgehen. Je sympathischer die kollidierenden Mächte, je innerlicher, zugleich aber auch gleichartiger sie sind, desto bedeutungsvoller wird die Kollision. Sie ist also verliebt; und der, welcher Gegenstand ihrer Zuneigung ist, weiß davon. Aber Antigone ist ja kein gewöhnliches Mädchen; und so ist auch ihre Mitgift eine ungewöhnliche – ihr Schmerz. Einen Manne ohne diese Mitgift anzugehören, vermag sie nicht; sie fühlt, das wäre von ihrer Seite zu gewagt. Vor einem solchen Beobachter dieselbe verborgen zu halten, wäre unmöglich; es nur zu wünschen, wäre eine Versündigung gegen ihre Liebe. Aber kann sie ihm ohne jene Mitgift angehören? Darf sie diese irgend einem Menschen, selbst einem geliebten Manne anvertrauen? Leidet sie doch auch selbst, wenn sie dies thut; ist doch ihr eignes Leben aufs traurigste mit verflochten in das Geheimnis ihrer Brust. Und dennoch denkt sie hieran kaum; um den verstorbenen Vater handelt es sich. Von dieser Seite ist also die Kollision sympathischer Natur. Ihr bisher ruhiges und stilles Leben wird fortan – natürlich immer nur in ihrem Innern – ein leidenschaftlich und heftig aufgeregtes; und ihre Sprache beginnt nunmehr, pathetisch zu werden. Sie kämpft mit sich selbst: ihr Leben wollte sie gern ihrem Geheimnis opfern; jetzt fordert die Liebe es als Opfer. Sie siegt; das heißt, das Geheimnis siegt, und sie verliert. Jetzt kommt die zweite Kollision: denn damit die tragische Kollision eine recht tiefgehende sei, müssen ja die kollidierenden Mächte gleichartig sein. Die zweite kollidierende Macht ist die sympathisch Liebe zu ihrem Geliebten (welcher dazu, der alten Sage nach, kein andrer ist als Haimon, Sohn jenes harten Königs Kreon – zuletzt neben ihrer Leiche sich selbst entleibend). Er weiß, daß er geliebt wird, und wagt kühnlich seinen Angriff. Ihre Zurückhaltung nimmt ihn zwar wunder; er merkt wohl, daß besondre Schwierigkeiten obwalten, welche aber doch für ihn nicht unüberwindlich sein möchten. Worauf es ihm ankommt, ist, sie davon zu überzeugen, wie ungemein lieb er sie habe, ja, daß er nicht leben könne, wenn er auf ihre Liebe verzichten müsse. Seine Leidenschaft wird zuletzt fast unwahr, aber desto erfinderischer wegen des[160] Widerstandes, den er erfährt. Mit jeder Liebesbeteuerung vermehrt er nur ihren Schmerz; mit jedem Seufzer bohrt er den Pfeil des Leides nur immer tiefer in ihre Brust. Kein Mittel, sie zu rühren, läßt er unversucht. Weiß er doch gleich allen andern, wie sehr sie den Vater liebt. Er trifft sie bei Ödips Grabe, wohin sie gegangen ist, um ihrem gepreßten Herzen Luft zu machen, um sich der Sehnsucht nach dem Vater ganz hinzugeben; und doch ist auch diese Sehnsucht nicht ohne Schmerz, da sie ja im Unklaren darüber ist, wie sie ihm wieder begegnen wird, ob er selber von seiner verhängnisvollen Schuld weiß, oder nicht. Der Liebende überrascht sie; er beschwört sie bei der Liebe, mit der sie an ihrem Vater hängt; er gewahrt den ungewöhnlichen Eindruck, den er auf sie hervorgebracht hat; er läßt nicht ab, hofft alles von diesem Mittel, und weiß nicht, daß er nur sich selbst entgegengearbeitet hat.

Um was sich also, mitten unter allen Vorgängen und Handlungen, die sonst sich auf der Bühne bewegen mögen, das Interesse eigentlich dreht, ist: ob ihr Geheimnis ihr doch nicht irgendwie entwunden werde. Ließe der Dichter sie auch zeitweilig wahnsinnig sein und in diesem Zustande es verraten, so wäre das gewiß ungenügend. Die kollidierenden Mächte halten einander in solchem Grade die Wage, daß dem tragischen Individuum selbst das Handeln fast unmöglich wird. Ihr Schmerz ist jetzt gesteigert durch ihre Liebe, durch ihr Leiden, das sie sympathisch mit dem Geliebten leidet. Nur im Tode kann sie Frieden finden. So ist ihr Leben einmal dem Leide geweiht, und sie hat dem Unheil, welches drohend und verhängnisvoll sich vielleicht in die folgende Generation fortgepflanzt hätte, gleichsam eine Schranke, einen Damm entgegengestellt. Nur in ihrem letzten Augenblick kann sie die Innigkeit ihrer Liebe eingestehen, kann sie bekennen, daß sie ihm angehöre – also in dem Augenblicke, wenn sie ihm nicht mehr gehört. Als Epaminondas in der Schlacht bei Mantinea verwundet war, ließ er den Pfeil in der Wunde sitzen, bis er gehört hatte, ob die Schlacht gewonnen sei, weil er wußte, es werde sein Tod sein, wenn er herausgezogen werde. So trägt Antigone im Herzen ihr Geheimnis, wie einen Pfeil, welchen das Leben immer tiefer hineingebohrt hat, ohne sie zu töten: denn[161] solange dieser Pfeil in ihrem Herzen bleibt, kann sie leben; aber in dem Augenblicke, wenn er herausgezogen wird, muß sie sterben. Sie ihres Geheimnisses zu berauben, das ist es, wofür der Liebende kämpfen muß; und doch ist es zugleich ihr gewisser Tod.

Von wessen Hand fällt sie denn? Von der des Lebenden, oder der des Toten? In einem gewissen Sinne von der des Toten. Was dem Herkules geweissagt worden: er werde von keinem Lebenden umgebracht werden, sondern von einem Toten, das trifft auch unsre Antigone: denn die Erinnerung, ja das innere Fortleben mit dem verstorbenen Vater, ist die Ursache ihres Todes. In einem andern Sinne freilich ist es der Lebende, sofern ihre unglückliche Liebe die Veranlassung wird, daß die Erinnerung sie endlich zum Tode führt.[162]

Quelle:
[Søren Kierkegaard:] Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Leipzig 1885, S. 133-163.
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